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Die Kraft der Träume: ein Interview mit Denis Thériault, dem Autor von "Das Lächeln des Leguans"
Interview mit Denis Thériault
Media-Mania.de: Guten Tag, Herr Thériault. Lassen Sie uns über Ihren zweiten Roman sprechen, "Das Lächeln des Leguans". Er ist gerade auf Deutsch erschienen und wird nun auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt. Der Roman handelt von zwei etwa zwölfjährigen Jungen, die jeweils ihre Mutter verloren haben und Freunde werden. Beide hoffen, ihre Mutter zurückzubekommen, und tun alles, um dieses Ziel zu erreichen. Sie beschreiben die Sehnsucht der Jungen nach der Liebe ihrer Mütter in einer so anrührenden, intensiven Weise, dass die abgedroschene Frage nicht vermieden werden kann: Gibt es einen autobiografischen Hintergrund zum Roman?

Denis Thériault: Nein. Es handelt sich nicht um einen autobiografischen Roman, sondern um ein rein fiktionales Werk. Das einzige autobiografische Element ist der Rahmen, der Ort: die Strände am Nordufer des Sankt-Lorenz-Golfs. Ich bin dort geboren und habe in meiner Jugend die Sommer dort verbracht. Aber der Rest der Geschichte ist völlig fiktiv.
Ich wollte ein Buch über Freundschaft schreiben und es in dieser Gegend ansiedeln. Die Charaktere habe ich erfunden und in diese natürliche Umgebung gesetzt.

Media-Mania.de: Das Thema von "Das Lächeln des Leguans" unterscheidet sich ja nun sehr stark von dem Ihres letzten Romans, "Siebzehn Silben Ewigkeit", der von der Freundschaft und Liebe zwischen Erwachsenen handelt. Wie kamen Sie auf die Idee zu "Das Lächeln des Leguans"? War das eine plötzliche Idee oder ein Prozess?

Denis Thériault: In "Siebzehn Silben Ewigkeit" geht es eigentlich um Freundschaft, in "Das Lächeln des Leguans" um Einsamkeit, das ist natürlich ein großer Unterschied. – Aber die Idee für "Das Lächeln des Leguans" kam mir auf eigenartige Weise, nämlich von einem Traum her, den ich vor zwanzig Jahren geträumt habe. Zu dieser Zeit führte ich eine Art Traumtagebuch. In diesem speziellen Traum hatte ich das Gefühl, im Ozean zu ertrinken, hunderte Fischchen verzehrten mich wie sanfte kleine Piranhas, und ich wachte auf und notierte den Traum in meinem Tagebuch. Ich hatte den Traum lange Zeit vergessen. Dann, als ich die Idee hatte, ein Buch über eine Freundschaft am Nordufer des Sankt-Lorenz-Golfs zu schreiben, las ich mein Tagebuch noch einmal durch, fand diesen Traum und beschloss: Das ist es! Und in der Tat wurde der Traum zum zentralen Element des Romans, er tritt ja auch unmittelbar am Ende des Romans auf. In gewisser Weise habe ich die Charaktere und die Handlung um diesen Traum gewoben, den ich zwanzig Jahre zuvor gehabt hatte. Es mag eine seltsame Weise sein, einen Roman zu schaffen, aber es ist meine persönliche Vorgehensweise; was ich schreibe, resultiert oft aus Träumen.

Media-Mania.de: "Das Lächeln des Leguans" ist ein Roman über zwei Kinder, der sich jedoch an Erwachsene richtet. Die Jungen nutzen ihre Intuition und eine ganz eigene Logik, zusammen mit einer speziellen Art Magie – darauf komme ich noch zurück -, um mit ihren Traumata zurechtzukommen. Sie haben Psychologie studiert: Glauben Sie, Erwachsene können von diesem Weg zur Heilung emotionaler Wunden lernen?

Denis Thériault: Hm, nicht unbedingt. Nun, ich habe zwar Psychologie studiert, aber ich versuche nicht, sie in meinen Werken anzuwenden. Natürlich spielt sie mit hinein, doch ich schreibe keine psychologischen Romane. Ich möchte auch gar nicht behaupten, dass die Mittel, die meine beiden jungen Helden bei ihrer Suche anwenden, für jedermann geeignet sind.
Für Luc, die Hauptfigur, ist dieser Weg der richtige, um seine Mutter zu finden, die ertrank, als er ein Baby war. Deshalb ist er auch so fasziniert vom Ozean; im Ozean sucht er seine Mutter. Nicht umsonst klingen im Französischen die Wörter "la mer", das Meer, und "la mère", die Mutter, gleich. Auf seine – freilich etwas tragische – Weise findet er sie auch. In meinen Augen ist seine Suche erfolgreich.

Media-Mania.de: Luc, der Freund des jungen Ich-Erzählers, hat bei dieser Suche eine Traumwelt entwickelt, die weit unter der Meeresoberfläche angesiedelt und von verwunderlichen Kreaturen bevölkert ist, und eine Art magische Religion, in deren Zentrum ein ausgestopfter Leguan steht. Luc bringt den Ich-Erzähler dazu, ebenfalls mehr oder weniger an diese Magie zu glauben. Aber während der Ich-Erzähler nie den Kontakt zur Realität verliert und die Träume und die Magie ihm einfach helfen, verliert sich Luc völlig darin, als er die brutale Wahrheit über seine Mutter erfährt, und es kommt zur Katastrophe – wobei das Interpretationssache ist, denn wie Sie bereits erwähnten, könnte man ja auch sagen, er wird erlöst.

Denis Thériault: Ja, in gewisser Weise ist das so.

Media-Mania.de: Liegt es daran, dass Luc so jung ist, oder können Träume auch Erwachsene gefährden, selbst wenn sie seelisch gesund sind?

Denis Thériault: Ich glaube schon, dass Träume gefährlich sein können. Ohne nun zu viel Psychologie hineinbringen zu wollen … Luc verliert sich tatsächlich in seiner Traumwelt, in der dieser ausgestopfte Leguan, eine Art Mumie, eine zentrale Rolle spielt als Mittler zwischen Luc und seiner Mutter. In der Tat können solche Träume, wenn man sich hineinsteigert, dazu führen, dass man den Kontakt zur Realität verliert.
Natürlich glaubt ein Zwölfjähriger wie Luc leidenschaftlicher an solche Dinge als ein Erwachsener und ist daher eher gefährdet.
Ein Stück weit handelt es sich bei meinem Roman natürlich um phantastische Literatur, solche Einflüsse möchte ich auch gar nicht von mir weisen. Aber letzten Endes hätte es so auch passieren können.

Media-Mania.de: Missbrauch und Gewalt, sowohl Kindern als auch Frauen gegenüber, gehören zu den wesentlichen Themen Ihres Romans. Möchten Sie Ihre Leser gegenüber Missbrauchsfällen sensibilisieren, die in praktisch allen menschlichen Gemeinschaften existieren, oft aber bewusst ausgeblendet werden, oder möchten Sie Ihren Roman als rein literarisches Werk ohne soziale Intention verstanden wissen?

Denis Thériault: Es ist irgendwo dazwischen. Als Kind habe ich Missbrauch erlebt. Darüber wollte ich in der Tat schreiben. Aber wollte ich auch aus einem sozialen Standpunkt heraus schreiben? – Nein, eigentlich nicht. Ich finde, wenn es eine Botschaft in dem gibt, was ich schreibe, wird sie von selbst ankommen. Natürlich ist mir bewusst, dass man Verschiedenes in meinen Roman hineininterpretieren kann, und darüber bin ich froh.

Media-Mania.de: Obwohl der Ich-Erzähler ein etwa elf- oder zwölfjähriger Junge ist …

Denis Thériault: Das Alter wird gar nicht erwähnt, er ist in meiner Vorstellung etwa zwölf Jahre alt.

Media-Mania.de: Irgendwo, ich glaube, im Klappentext, las ich, er sei elf Jahre alt. Egal …

Denis Thériault: Er hat auch keinen Namen.

Media-Mania.de: Ja, das fiel mir beim Skizzieren meiner Fragen auf, ich machte mir Gedanken, ob sein Name einmal erwähnt worden sei, aber es gab keinen Namen.

Denis Thériault: Ehrlich gesagt, kenne ich den Namen selbst nicht. Ich habe darüber nachgedacht, ich habe auch ein paar Namen im Manuskript ausprobiert, aber ich kam letztlich einfach auf keinen Namen. Schließlich dachte ich, ob er nun Sie oder ich ist oder irgendwer sonst, es spielt keine Rolle. Wenn er keinen Namen hat, kann man sich am besten mit ihm identifizieren.

Media-Mania.de: Ich habe in der Tat den Namen auch erst vermisst, als es mir darum ging, die Fragen für das Interview aufzuschreiben. – Nun, der Ich-Erzähler ist somit ein elf- oder zwölfjähriger Junge, aber die von Ihnen verwendete Sprache ist nicht die eines Kindes.

Denis Thériault: Das stimmt.

Media-Mania.de: Sie ist sowohl lyrisch als auch auf kraftvolle Weise "geradeaus" und fordernd. Eine Mischung, aus der sich auch die Spannung in Ihrem Roman speist. Haben Sie überlegt, eventuell eine andere Erzählperspektive zu verwenden, zum Beispiel jene aus der dritten Person heraus? Oder wussten Sie von Anfang an, dass der Roman authentisch bleiben würde, obwohl die Sprache des Ich-Erzählers nicht jene ist, die der Leser von ihm erwarten würde?

Denis Thériault: Das war das Hauptproblem, das ich beim Schreiben dieses Buches hatte. Bevor ich es herausgab, hatte ich fünf Versionen des Manuskripts. Die erste Version war eine Geschichte von Luc, geschrieben in der dritten Person. Aber das gefiel mir nicht. Es hatte zu viel Abstand. Ich wollte mich seinen Gefühlen mehr nähern. So habe ich es in der dritten und auch in der zweiten Person versucht, und als ich schließlich die erste Person ausprobierte, funktionierte es ganz einfach. Es bewegte mehr, es berührte mehr. Der Ich-Erzähler war anfangs gar nicht da, den habe ich erst dann erfunden.
In der ersten Fassung handelte es sich auch nicht um eine Geschichte um Freundschaft, denn Luc war allein! Aber ich wollte eine Freundschaftsgeschichte schreiben, und so dachte ich mir den Ich-Erzähler als Freund aus. Letzten Endes erzählt hier ein gereifter Mann seine Geschichte, er erinnert sich an seine Vergangenheit.

Media-Mania.de: Ja, mir fiel auf, dass manche Teile des Buchs wie in einem Tagebuch überwiegend im Präsens geschrieben sind und manche als Rückblick in der Vergangenheit. Diese Kombination fand ich genial.

Denis Thériault: Mir war klar, dass ich mit diesem Stil ein Risiko einging, denn es handelt sich um einen Mix. Aber ich fand, dass sich so die Emotionen am besten vermitteln lassen, und deshalb habe ich mich entschlossen, es auch so zu machen. Aber auch wenn es auf den ersten Blick absurd erscheinen mag, dass ein Junge etwas in dieser Weise schildert – ein Mann, der auf einzelne vergangene Tage zurückblickt, wirkt doch glaubwürdig.
In "Siebzehn Silben Ewigkeit" habe ich die dritte Person angewendet. Aber da passte das Thema zur dritten Person, anders als bei "Das Lächeln des Leguans".

Media-Mania.de: Sie haben als Schauspieler und Theater-Regisseur gearbeitet und anschließend auch Drehbücher geschrieben. In welcher Weise hat dieser Hintergrund Ihre "Romanschreibe" beeinflusst?

Denis Thériault: Oh, in vielerlei Weise. Ich war in meinen Zwanzigern Schauspieler, und es wurde mir bewusst, dass ich als Autor besser denn als Schauspieler bin. So habe ich mehrere Theaterstücke geschrieben und schließlich das Drehbuchschreiben entdeckt. Das fand ich interessanter.
In den 80ern habe ich mehrere Drehbücher für das Fernsehen geschrieben, aber ich habe dann gemerkt, dass das Verfassen von Romanen ganz einfach das Beste für mich ist. Denn wenn man ein Drehbuch für Film oder Fernsehen verfasst, ist man nicht im Zentrum der Show, verstehen Sie? Sie müssen sich mit dem Regisseur, dem Produzenten und vielleicht zwanzig Schauspielern auseinandersetzen, und am Ende kommt nicht annähernd das heraus, was Sie sich ursprünglich gedacht haben, weil so viele mitwirken. Es kann natürlich durchaus gut sein, aber wenn Sie einen Roman schreiben, sind Sie ganz allein für alles verantwortlich. Das mag ich, aber ich mische gern die verschiedenen Techniken. In meinen Romanen sind durchaus Drehbuch-Elemente, die sich vermutlich positiv auswirken.

Media-Mania.de: Sie haben ein Stipendium erhalten und verbringen nun einige Zeit in Deutschland. Welche Aspekte von Deutschland und dem deutschen "way of life" könnten Sie als Autor inspirieren?

Denis Thériault: Das ist interessant, denn in der Tat habe ich ein Stipendium und bin für drei Monate hier, in der Villa Waldberta in Feldafing am Starnberger See, nicht weit von München. Die Villa ist prächtig mit den Alpen im Hintergrund. Sie ist alt, und in der ersten Nacht, die ich dort verbrachte – es ist noch nicht lange her -, wachte ich um drei Uhr auf, es war richtig gruselig. Ich fühlte überall Geister, und ich mag diese phantastische Atmosphäre! Ich glaube, sie wird mich sehr beim Verfassen meines neuen Buchs beeinflussen.
Ich bin nicht zum ersten Mal in Europa, aber zum ersten Mal in Deutschland. Das ist eine neue Welt für mich, die es zu entdecken gilt, auch eine neue Sprache, die ich erlernen möchte, und das stimuliert mich sehr, auch hinsichtlich meiner Vorstellungskraft.

Media-Mania.de: Wir freuen uns sehr auf Ihren nächsten Roman …

Denis Thériault: Er wird nächstes Jahr erscheinen, und ein vierter Roman ist auch schon geplant, eventuell als Fortsetzung von "Das Lächeln des Leguans".

Media-Mania.de: Diese und auch Ihren ersten Roman werde ich ganz bestimmt lesen. Media-Mania.de wünscht Ihnen für Ihren Aufenthalt in Deutschland viel Erfolg und dem Lesepublikum noch viele weitere Romane aus Ihrer Feder!

Denis Thériault: [In perfektem Deutsch] Vielen Dank!

Das Interview wurde auf der Frankfurter Buchmesse am Stand des Verlags dtv geführt.

Link zur Rezension bei Media-Mania.de
Geführt von Regina Károlyi am 08.10.2010