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Reinhard Heydrich. Im Gespräch mit dem Historiker Robert Gerwarth über seine Heydrich-Biographie und über Heydrich selbst
Interview mit Robert Gerwarth
Media-Mania.de: Ihre im September 2011 im Siedler-Verlag erschienene Heydrich-Biographie ist Ihr zweites Werk nach "Der Bismarck-Mythos". Wie – oder: warum - fanden Sie nach dem Eisernen Kanzler in Reinhard Heydrich ein Thema, der doch eigentlich als ein Mann der zweiten Reihe im NS-Regime gilt?

Robert Gerwarth: Die Themen "Bismarck-Mythos" und "Heydrich" sind natürlich sehr verschieden, aber als Historiker sollte man auch nicht immer nur auf einem Thema herumreiten. Ich interessiere mich in erster Linie für die politische Kulturgeschichte Deutschlands zwischen 1871 und 1945 – beide Themen fallen in diesen größeren Rahmen.
Heydrich ist, wie Sie zu Recht sagen, ein Mann der zweiten Reihe. Allerdings waren es im Dritten Reich oft Leute dieser "zweiten Reihe" – also der Staatssekretärsebene – die die Umsetzung nationalsozialistischer Politik verantworteten. Im Falle Heydrichs ist es die Verfolgungs- und Vernichtungspolitik, die Hitler und Himmler vordenken, er aber umsetzt. Insofern ist Heydrich eine zentrale Figur des Dritten Reiches – die Figur des Vollstreckers der NS-Diktatur.

Media-Mania.de: Sie zeigen sehr nachdrücklich auf, dass man Heydrichs Bedeutung innerhalb der NS-Führungsriege und vor allem für die Judenvernichtung in Deutschland und den besetzten Gebieten im Osten nicht überschätzen kann. Wie kommt es, dass vor der Ihren keine ausführliche beziehungsweise wissenschaftlich fundierte Heydrich-Biographie existierte?

Robert Gerwarth: Das liegt zum Teil an den Konjunkturen innerhalb der Geschichtswissenschaft, die seit den 70er Jahren sehr stark strukturgeschichtlich gearbeitet und sich weit von biographischen Ansätzen entfernt hat. Die Leben "großer Männer" - auch im negativen Sinne – wurden einige Jahrzehnte lang de facto professionellen Biographie-Schreibern überlassen. Das hat sich im Hinblick auf das Dritte Reich erst in den letzten 10-15 Jahren stark gewandelt. Die neuere "Täterforschung" widmet sich explizit den individuellen und kollektiven Lebensläufen von Männern, die unmittelbar an den Verbrechen des Dritten Reiches beteiligt waren, bettet diese aber im Unterschied zur traditionellen biographischen Forschung stärker in die Strukturgeschichte ein. Die neuere Täterforschung versteht sich auch weniger als Neuauflage herkömmlicher Lebenserzählungen, sondern nutzt das Format der Biographie als Medium, um größere Themen zu diskutieren, sie aber gleichzeitig für den Leser narrativ nachvollziehbar zu machen. Mein eigenes Buch steht in der Tradition dieser "neuen Biographien". Denn das Leben Heydrichs bietet die Gelegenheit, innerhalb eines Buches verschiedene Themen zu behandeln, die in der mittlerweile hoch spezialisierten Literatur zum Dritten Reich oft getrennt voneinander behandelt werden, darunter Themen wie Terror im NS, der Aufstieg der SS, die deutsche Besatzungspolitik in Osteuropa, den Holocaust und die rassische Verfolgungs- und Vernichtungspolitik des Dritten Reiches allgemein.
Die Abfassung einer Heydrich-Biographie galt des Weiteren auch deshalb immer als besondere Herausforderung, weil es in seinem Fall, anders als bei Goebbels oder Himmler, keine Tagebücher oder einen zentralen Nachlass gibt. Die Quellen zum Thema Heydrich sind sehr weit verstreut – es handelte sich deshalb um eine Spurensuche, die sich über sieben Länder erstreckt hat. Viele der Archive, in denen relevante Briefe, Schriftstücke oder Redetexte liegen, befanden sich außerdem vor 1989/90 hinter dem Eisernen Vorhang, waren also schwer zugänglich. Ohne einige dieser Archivalien, insbesondere den Beständen aus Prag und den RSHA-Akten aus Moskau, ist es in der Tat schwer möglich gewesen, vor 1990 eine Heydrich-Biographie mit dem Anspruch auf Vollständigkeit zu verfassen.

Media-Mania.de: Sind die Archive, die Sie genutzt haben, öffentlich zugänglich, oder kann man sich dort nur als Historiker mit Rang und Namen Zutritt verschaffen?

Robert Gerwarth: Als Berufshistoriker ist es sicherlich leichter, Archivquellen einzusehen, weil man glaubhaft machen kann, dass man dies aus beruflichem Interesse tut und mit den Originalbeständen sorgsam umgeht. Nicht ohne Grund sind Archivare bis heute etwas vorsichtig, wem sie Originalquellen zum Dritten Reich aushändigen: es gibt eine ganze Menge von "Trophäenjägern" und Leuten, die sich aus fragwürdigen Gründen für die Person Heydrich interessieren. Aber wenn man einen seriösen Grund vorbringen kann, warum man bestimmte Archivbestände einsehen möchte – etwa ein Forschungsvorhaben -, ist das in aller Regel kein Problem.

Media-Mania.de: Heydrich könnte man also heute noch als Kultfigur der extremen Rechten verstehen?

Robert Gerwarth: Absolut. Es gibt eine ganze Reihe von Neonazi-Internetportalen, die ihn bis heute glorifizieren, nicht nur in Deutschland. Anders als etwa im Fall Himmlers, der sich 1945 für Selbstmord entschied, anstatt - wie er es immer von seinen Männern gefordert hatte – bis zur letzten Patrone zu kämpfen, ist Heydrichs Popularität in diesem Milieu ungebrochen. Zum Teil liegt das sicher an seiner Physiognomie - Heydrich sah eben so aus, wie ein SS-Mann aussehen sollte: groß, blond, blauäugig - zum Teil aber auch an seinem frühen Tod. Das Attentat vom Mai 1942 erfolgte zu einem Zeitpunkt, als die Wehrmacht im Osten noch Schlachten gewann. In bestimmten Kreisen wurde deshalb die absurde Theorie entwickelt, dass, wäre Heydrich noch am Leben gewesen, der Ausgang des Zweiten Weltkrieges ein anderer gewesen wäre. Das ist natürlich Quatsch. Dennoch halten viele im rechten Milieu an jenem Bild des unüberwindlichen Über-SS-Manns fest, der, wie einst Siegfried aus der Nibelungensage, nur durch einen Hinterhalt zur Strecke gebracht werden konnte. Dieses Bild wurde von der NS-Propaganda nach seinem Tod immer wieder verbreitet. Bis zur Niederlage vom Mai 1945 blieb Heydrich eine Art Posterboy von Himmlers Schwarzem Orden, sein Bild hing in jeder SS-Kaserne.

Media-Mania.de: Zu Heydrich selbst. In der Wikipedia, Stand 14.10.2011, ist zu lesen: "Reinhard Heydrich wurde von früh auf durch einen extremen Nationalismus geprägt, der in der Familie vorherrschte." Sie zeichnen jedoch ein anderes Bild. Welche Auslöser gab es zum einen für Heydrichs bedingungslose Hinwendung zum Nationalsozialismus und zum anderen für seinen geradezu pathologisch erscheinenden Judenhass?

Robert Gerwarth: Eine zentrale These meines Buches ist, dass Reinhard Heydrich ein verspäteter Nationalsozialist war, der verschiedene "Mängel" seiner Biographie, darunter seinen fehlenden politischen Aktionismus vor 1931 und die immer wieder auftauchenden, allerdings unzutreffenden Gerüchte über seine jüdische Abstammung, durch besonders radikales Auftreten kompensierte, um sich nach 1931 in seinem neuen Berufsfeld zu beweisen. Das gelang ihm: im Laufe der 30er Jahre wurde der "Zuspätgekommene" zum radikalsten Verfechter der "reinen Lehre" des NS.
Seine Transformation vom scheinbar apolitischen Marineoberleutnant zum fanatischen Überzeugungstäter hatte verschiedene Gründe und sie ereignete sich im Laufe von Jahren, nicht von einem Tag auf den anderen. Sicherlich ist am Anfang der Einfluss seiner Frau Lina nicht zu unterschätzen, die bereits deutlich früher als er Anhängerin des Nationalsozialismus und glühende Antisemitin war. Ab seinem Eintritt in die SS aber ist es vor allem das ihn jetzt umgebende ultra-radikale Milieu – erst im SD, später im von Heydrich geschaffenen Reichssicherheitshauptamt - wo Männer aufeinander trafen, die in aller Regel schon sehr viel länger als Heydrich dem völkischen Gedankengut anhingen. Die Berührung mit diesen Männern und das konstante Bedürfnis, sich gegenüber ihnen permanent als der Härteste, der Beste zu beweisen, führte dazu, dass Heydrich eine besonders radikale Auslegung der historischen Weltsicht Hitlers und Himmlers entwickelte und diese auch konsequent umzusetzen versuchte.

Media-Mania.de: Dazu gehört dann auch sicher sein Judenhass – seine Familie wurde zwar als Judenfamilie beschimpft, was sie gar nicht war …

Robert Gerwarth: Das Gerücht tauchte 1916 erstmals auf und zwar in einer Musikenzyklopädie, in der Reinhards Vater, Bruno Heydrich, indirekt als Jude bezeichnet wurde. Damals klagte die Familie Heydrich in Halle wegen Rufschädigung und gewann den Prozess. Ich würde diese Episode aber nicht unbedingt als Indiz für einen besonders extremen Antisemitismus der Heydrichs werten, sondern eher als Indikator für den zumindest latenten Antisemitismus in der politischen Kultur jener Zeit, einer Zeit, in der man als "jüdischer Geschäftsmann" schnell von seinen Mitbürgern verdächtigt wurde, besonders "raffgierig" zu sein. Dieser Vorwurf war potenziell geschäftsschädigend für Bruno Heydrich, der sonst ein eher unkompliziertes Verhältnis zu Mitgliedern der kleinen jüdischen Gemeinde von Halle hatte. Reinhard Heydrichs Antisemitismus speist sich eher nicht aus dieser Episode von 1916.
1931/32, als der "Vorwurf" der jüdischen Abstammung erneut auftaucht, ist die Situation eine andere, denn zu diesem Zeitpunkt befindet sich Heydrich bereits in der SS, und damit in einer Organisation, in der Antisemitismus zentraler Bestandteil der Weltanschauung ist. Sicher führt das neuerliche Auftauchen des Gerüchts auch dazu, dass sich Heydrich fortan besonders antisemitisch gibt. Allerdings ist seine Verwandlung vom politisch eher unbedarften Karrieristen und Opportunisten zum überzeugten Weltanschauungstäter ein gradueller Prozess, der in die Zeit zwischen 1931 und 1936 fällt.

Media-Mania.de: Heydrich erscheint in Ihrer Biographie als ein sehr widersprüchlicher Charakter, einerseits durchaus feinsinnig, ein Geiger aus einer Musikerfamilie, der Musik auch sehr zugetan; andererseits ein skrupelloser Ehrgeizling, der gewissenlose Vollstrecker.

Robert Gerwarth: Ich denke nicht, dass es da einen unüberbrückbaren Widerspruch gibt, auch wenn Heydrich sich im Laufe der 30er Jahre stark von den bürgerlichen Moralvorstellungen seiner Elterngeneration abwandte. Die bereits erwähnte Täterforschung der letzten zehn bis fünfzehn Jahre hat inzwischen relativ klar gezeigt, dass die alte Vorstellung von NS-Tätern als kranken Psychopathen vom Rande der deutschen Gesellschaft unzutreffend ist. Die Mehrheit der höheren SS-Führer stammte wie Heydrich aus gutbürgerlichen Familien, viele von ihnen waren Universitätsabsolventen mit Promotion. Bildung schützt aber nicht vor kriminellem, unmoralischem Handeln – im Gegenteil. Die meisten dieser Haupttäter waren akademisch weit gebildeter, sozial besser gestellt und aufstiegsorientierter als der Durchschnittsdeutsche jener Zeit.
Im konkreten Fall Heydrich gilt das auch, selbst wenn er keinen Universitätsabschluss hatte. Es gibt keinen wirklichen Widerspruch zwischen dem Geige spielenden, klassische Musik liebenden Bürgersohn auf der einen Seite und dem genozidalen Massenmörder auf der anderen. Man kann durchaus beides miteinander verbinden. Um sein Handeln in den 30er Jahren zu verstehen, muss man versuchen die spezifische Logik der Nationalsozialisten zu rekonstruieren, eine Logik, die nur das von allen ethischen "Fesseln" befreite Ziel verfolgte, das Wohlergehen und die Zukunft des rassisch definierten deutschen Volkes zu sichern. Alles andere ist völlig irrelevant und muss diesem Ziel unterworfen werden, mit welchen Mitteln auch immer. Um das zu erreichen, die "Volksgemeinschaft" zu "reinigen" und den Deutschen jenen Lebensraum im Osten zu beschaffen, den Hitler für die künftige Entwicklung des deutschen Volkes für unabdingbar erachtete, mussten nach Heydrichs Ansicht alle vermeintlichen Feinde des Deutschen Reiches – die Juden, Slawen, aber auch politische Gegner im Innern – "ausgeschaltet" werden, wobei sich die Methoden zur Ausschaltung im Laufe der Zeit immer weiter radikalisierten. Diese "Gegner" zu verhaften, umzusiedeln oder gar umzubringen, war in Heydrichs verzerrter Weltsicht kein Verbrechen, sondern eine Verpflichtung gegenüber seinem Volk. Das ist die "Logik", der er folgt, so schwer nachvollziehbar das auch heute erscheinen mag. Allerdings muss man in diesem Zusammenhang betonen, dass weder Heydrich noch Himmler seit 1933 einen klaren Plan verfolgten, alle politischen und "rassischen" Gegner des Regimes systematisch umzubringen. Diese Radikalisierung erfolgte schrittweise, vor allem natürlich nach Kriegsausbruch 1939 und insbesondere nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion.

Media-Mania.de: Man konnte das also trennen und einerseits im Dienst solch brutale Entscheidungen treffen, andererseits aber zu Hause der liebende Vater und Violinspieler sein.

Robert Gerwarth: Unbedingt. Zu den eigenen "Volksgenossen" – und natürlich insbesondere gegenüber der eigenen Familie – nachsichtig und liebevoll zu sein, gehört zum Ideal der SS. Für die Gegner gilt das in keinster Weise. Heydrich versteht sich selbst – und er benutzt diese Formel auch – als "Müllmann" des Dritten Reiches; er betont wiederholt, dass die mörderische Aufgabe, die er und die SS zu erledigen haben, eine unerfreuliche und schmutzige ist. Ich halte das nicht für Propaganda, sondern für den Versuch, das Unvorstellbare der eigenen Taten – die ja in radikalem Widerspruch zu den bürgerlich-katholischen Werten und Normen stehen, mit denen er aufgewachsen ist – "logisch" zu rechtfertigen. Irgendwann glauben die SS-Führer tatsächlich daran, dass sie sich für ihr Volk "aufopfern", indem sie eine schwierige, eine blutige Aufgabe übernehmen, die vermeintlich eine notwendige Voraussetzung für die Schaffung einer "besseren Welt" sei.

Media-Mania.de: Heydrich war mit Himmler befreundet, obwohl ihre Frauen sich nicht verstanden. Heydrich hat Himmler immer als Chef akzeptiert, nie an dessen Stuhl gesägt, obwohl er doch sehr ehrgeizig war – stimmt das?

Robert Gerwarth: An dem nach 1945 immer wieder gestreuten Gerücht, dass Heydrich aktiv auf den Sturz Himmlers hingearbeitet hat, stimmt absolut gar nichts. Es ist später zusammen mit der Wiederbelebung der Gerüchte über die jüdische Herkunft gestreut worden, vor allem von ehemaligen SS-Mitarbeitern, die mit sensationellen "Enthüllungen" über Spitzenfunktionäre des Dritten Reiches ihre Memoiren besser verkaufen wollten.
Es hätte für Heydrich keinerlei Sinn gemacht, am Stuhl Himmlers zu sägen. Sein rapider Aufstieg zur unumstrittenen Nummer 2 in der SS war allein Himmler geschuldet und das vergaß Heydrich nie. Himmler konnte sich blindlings auf Heydrich verlassen und tat dies auch ständig, indem er ihn stets mit den wichtigsten Aufgaben in seinem Machtbereich betraute. Auch wenn sie sich gegenseitig siezten, worauf Heydrich bis zum Ende bestand, um Freundschaft und Dienstverhältnis nicht miteinander zu vermischen, hatten sie ein sehr inniges professionelles Verhältnis, das sich auch und vor allem durch komplementäre "Talente" auszeichnet, die für die sukzessive Ausweitung der Macht der SS ganz entscheidend waren. Himmler auf der einen Seite war eher der ideologische Visionär mit exzellenten Kontakten innerhalb des NS-Apparats. Heydrich auf der anderen Seite war nie ein Mann der großen Ideen oder ideologischen Visionen, sondern ein Mann der Tat, der ideologische Vorgaben mit einzigartiger Radikalität und beispiellosem Aktionismus umsetzte.

Media-Mania.de: Wenn man sich über Monate, vielleicht Jahre intensiv mit einer Person beschäftigt, lernt man sie natürlich sehr gut kennen, versucht ja auch, sie zu verstehen, ihre Handlungen, ihre Emotionen nachzuvollziehen. Hatten Sie manchmal das Gefühl einer "unguten" Nähe zu Heydrich, ergaben sich Alpträume, oder ließ sich die Distanz, die man vom Historiker ja fordert, trotz der intensiven Recherchen zu diesem, banal ausgedrückt, furchtbaren Menschen immer wahren?

Robert Gerwarth: Historiker des frühen 20. Jahrhunderts befassen sich ja in aller Regel mit unerfreulichen Dingen: mit Genoziden, Kriegen, massenhaften Vertreibungen und Morden. Unsere Aufgabe ist es, die Kontexte und Entscheidungen, die zu diesen menschlichen Katastrophen führten, zu rekonstruieren, um sie zu erklären. Eben dies war mein Anliegen: die oft verklärte und überzeichnete Figur Heydrichs erklärbar zu machen. Es ist wichtig, zu verstehen, wie er zu dem Mann wurde, der er war und die Zusammenhänge zu rekonstruieren, in denen Menschen wie er bestimmte Entscheidungen mit fatalen Konsequenzen trafen.
Meine eigene Annäherung an diese Figur ist am besten mit einer Formel zu fassen, die ich auch im Buch benutze, der Formel der "kalten Empathie". Jeder Biograph muss sich bis zu einem bestimmten Punkt auf seinen Untersuchungsgegenstand einlassen und darf sich auch im Fall eines genozidalen Massenmörders wie Heydrich nicht dazu hinreißen lassen, sich als Staatsanwalt aufzuspielen. Aber Empathie bedeutet natürlich nicht Sympathie, die im Fall Heydrich auch schwer zu empfinden wäre. "Kalte Empathie" ist vonnöten, denn ansonsten kann man die Handlungen von Menschen wie ihm schwer nachvollziehen und fällt auf abstrakte Erklärungsmuster zurück wie etwa die Beschreibung Heydrichs als "Gesicht des Bösen" (so der Titel einer früheren Biographie). Das Böse aber ist keine analytische Kategorie und niemand wird "böse" geboren. Viel interessanter und aufschlussreicher ist es doch, zu erforschen, wie ein "normaler" junger Mann aus der Mitte der deutschen Gesellschaft zu einer Verbrechergestalt wie Heydrich wird. Seine Handlungen werden dadurch nachvollziehbarer, ohne dass sich die Gesamtbilanz seines Lebens und seiner Karriere im Dritten Reich dadurch besser lesen würde.

Media-Mania.de: Der Historiker erlaubt sich üblicherweise keine Spielereien à la "Wenn – wäre – hätte". Wollen wir trotzdem zwei kleine Gedankenspiele wagen?
1) Hätte sich am Schicksal der Juden und am Kriegsverlauf wohl etwas geändert, wenn Heydrich nicht ermordet worden wäre?
2) Wenn Heydrich 1931 nicht unehrenhaft aus der Marine entlassen worden wäre und seine Frau Lina nicht kennen gelernt hätte – wer von den Nazigrößen hätte womöglich seine Funktion erfüllt; und wenn es hierfür niemanden gegeben hätte, was hätte sich "ohne Heydrich" am Verlauf der Geschichte, des Genozids an den Juden, des Krieges im Osten geändert?


Robert Gerwarth: Ich denke, die erste Frage lässt sich leichter beantworten als die zweite, nämlich mit Nein. Heydrich hätte die Ausweitung der Massenmorde im Sommer 1942 ohne jeden Zweifel unterstützt und vorangetrieben – er war schließlich für die Planung der Morde zuständig. Allerdings brauchte man ihn im Sommer 1942 nicht mehr für die Umsetzung dieser Pläne. Zwar war Heydrich als Chef des Reichssicherheitshauptamtes unmittelbar mit der Planung der "Endlösung" betraut, doch das bereits angelaufene System der Massenvernichtung ist zu diesem Zeitpunkt nicht mehr auf Einzelpersonen angewiesen.
Am Kriegsverlauf, insbesondere am Sieg der Roten Armee, hätte Heydrich überhaupt nichts ändern können. Sein Leben hätte 1945/46 aller Wahrscheinlichkeit nach mit einer Verurteilung in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen am Strang geendet oder bereits vorher durch Selbstmord wie im Falle Himmlers.
Die zweite Frage ist schwieriger zu beantworten und natürlich hochspekulativ. Ich würde trotzdem davon ausgehen, dass er ohne die Entlassung und ohne den Einfluss seiner Frau vermutlich in der Marine geblieben wäre, er uns also als Organisator des Holocaust erspart geblieben wäre. Das Dritte Reich und den Holocaust hätte es wohl auch ohne ihn gegeben, auch wenn Heydrich die operativen Fäden der NS-Judenpolitik in den Händen hielt und er und sein SD einen nachhaltigen Einfluss auf die Realität der Verfolgungspraxis hatten. Ob es das Reichssicherheitshauptamt in seiner realhistorischen Form ohne ihn gegeben hätte, ist schwieriger zu beantworten, da Heydrich diese Institution und sein besonderes "Ethos" nachhaltiger prägte als jeder andere: die im RSHA besonders zelebrierte Kultur der Kälte, des rücksichtslosen Aufsteigertums, der Kompromisslosigkeit.

Media-Mania.de: Heydrich hat im besetzten Westen Europas zu seinem Bedauern im Grunde keine bedeutende Rolle gespielt und wurde vergleichsweise früh ermordet. Ihr Buch ist zuerst auf Englisch erschienen. Kannte man Heydrich in England und Irland überhaupt – und wenn ja, in welcher Rolle? - Wie wurde Ihre Heydrich-Biographie dort aufgenommen? – Spielte es hierbei eine Rolle, dass Sie Deutscher sind?

Robert Gerwarth: Man kennt Heydrich dort durchaus: vor allem als Vorsitzenden der Wannsee-Konferenz und in seiner Funktion als Chefplaner des Holocaust. Diesen Bekanntheitsgrad verdankt er auch einer populären BBC-Produktion über die Wannsee-Konferenz mit dem Titel "Conspiracy", in der Kenneth Branagh Heydrich spielt. Auch die vielfach verfilmte Geschichte des Attentats auf ihn ist den meisten englischen Lesern vertraut, nicht zuletzt weil die im Zweiten Weltkrieg für Sabotageakte zuständige britische Special Operations Executive ganz zentral daran beteiligt war. Die SOE plante das Attentat seinerzeit gemeinsam mit der tschechischen Exilregierung unter Edvard Beneš; die Fallschirmagenten, die Ende 1941 über dem Protektorat Böhmen und Mähren abgesetzt wurden und den Anschlag auf Heydrich ausführten, hatten sich in Großbritannien auf ihren Einsatz vorbereitet. Aus all diesen Gründen kennt man Heydrich im englischsprachigen Ausland natürlich schon.
Zur Rezeption in England und Irland: die englische Ausgabe des Buches ist etwa zeitgleich mit der deutschen erschienen und die ersten Rezensionen deuten erfreulicher Weise auf eine sehr positive Aufnahme hin. Die Tatsache, dass ich Deutscher bin – auch wenn ich seit zehn Jahren auf den Britischen Inseln lebe – spielt dabei eigentlich keine Rolle.

Media-Mania.de: Herzlichen Dank für das Interview!

Das Interview wurde am 15.10.2011 auf der Frankfurter Buchmesse am Stand des Siedler Verlags geführt.

Link zur Rezension zu "Reinhard Heydrich" bei Media-Mania.de

Foto: © Privat
Geführt von Regina Károlyi am 14.10.2011