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" Ich konnte Sankt Petersburg mit den Augen einer Person in Panik sehen"
Interview mit Bernardo Carvalho
Interview mit Bernardo Carvalho über sein Buch "Dreihundert Brücken"

[PIC]Media-Mania.de Bernardo, zu Beginn eine mehr oder weniger persönliche Frage: Sie sind Brasilianer, und dem Internet entnehme ich, dass Sie in New York und Paris gelebt haben – aber zwei Ihrer Romane "spielen" in der Mongolei beziehungsweise Russland.
"Dreihundert Brücken" ist vor allem in Sankt Petersburg angesiedelt, und so, wie Sie die Stadt beschreiben, müssen Sie dort gewesen sein und eine enge Bekanntschaft mit Russland aufgebaut haben. Haben Sie zudem Tschetschenien besucht, das ebenso eine wichtige Rolle in Ihrem Roman spielt?

Bernardo Carvalho Das Buch ist das Ergebnis der Idee eines brasilianischen Filmproduzenten. Er initiierte ein Projekt mit 17 brasilianischen Autoren, denen er anbot, je eine ausländische Metropole zu besuchen – etwa Buenos Aires, Paris, Berlin. Sie sollten einen Monat dort verbringen und mit einer dort angesiedelten Liebesgeschichte zurückkommen. Er bezahlte die Fahrt und den einmonatigen Aufenthalt.
Als Filmproduzent überlegte er, sich die Rechte nach Erscheinen der Bücher zu sichern und so seine Auslagen zurückzubekommen. Er fragte mich: "Möchtest du nach Sankt Petersburg gehen?" – Wenn ich nein gesagt hätte, hätte er mir keine andere Stadt angeboten, ich hatte keine Wahl. Also nahm ich das Angebot an. Ich spreche kein Russisch, ich weiß über die russische Kultur und Literatur so viel oder wenig wie jedermann, aber ich hatte keinerlei Kontakte in Russland.
Einen Monat lang habe ich Sankt Petersburg besucht, doch in Tschetschenien war ich nicht.
Bevor ich nach Sankt Petersburg ging, las ich die Grundlagen der russischen zeitgenössischen Geschichte, Bücher von Journalisten; ich habe viele Bücher von Anna Politkowskaja gelesen, der Journalistin, die ein Jahr vor meinem Besuch in Sankt Petersburg ermordet wurde.
Nun, ich kam in Sankt Petersburg an, und an meinem dritten Tag dort wurde ich überfallen, sie haben versucht, meinen Computer zu stehlen. Ich habe mich erfolgreich gewehrt, wir hatten eine Diskussion auf der Straße, aber ich geriet in einen Zustand der Panik: Ich hatte noch einen Monat vor mir, musste bleiben, arbeiten, recherchieren; und ich lebte dort schlicht in Panik. Für das Buch und die Figuren war das gut, für mich nicht, es war ein sehr schwieriger Monat, es war die Hölle. Den gesamten Monat über war ich sehr zerbrechlich, ich drehte bei jedem Anzeichen von Beleidigung oder Gewalt regelrecht durch, aber dadurch erhielten die Charaktere eine Authentizität und Verletzlichkeit, die es nicht gegeben hätte, wenn ich nicht an meinem dritten Tag überfallen worden wäre. Ich konnte Sankt Petersburg mit den Augen einer Person in Panik sehen.
Sankt Petersburg ist eine künstlich erbaute Stadt, alles ist sichtbar, man fühlt, dass man überall sichtbar ist, so kann man sich nicht auflehnen. Man muss die zentrale Macht des Zaren oder der Sowjetregierung und so weiter akzeptieren; diese gewaltigen Prachtstraßen, die, vom Zarenpalast ausgehend, zum Meer führen, enthüllen alles! So wird einem bewusst, dass die interessanten Szenen, das wahre kulturelle Leben von Sankt Petersburg hinter den Fassaden stattfinden. Diese sehen großartig aus und sind sorgfältig gestrichen, und dahinter befinden sich Ruinen. Somit gibt es das Sichtbare und das Unsichtbare, Menschen versuchen, sich zu verstecken, und das hat meinen Roman sozusagen genährt. Ich glaube wirklich, dass all diese Erfahrungen auf den Raubüberfall am dritten Tag zurückzuführen sind.

Media-Mania.de Ihre beiden Hauptfiguren Andrej und Ruslan sind zwischen zwei Welten verloren, zwei sehr voneinander verschiedenen Kulturen. Wie kamen Sie zu dieser Idee?

Bernardo Carvalho Ich bin kein Russe, ich spreche nicht Russisch, und obwohl ich dank meiner Lektüre etwas über Russland wusste, fühlte ich mich unwohl, als ich das russische Universum ohne eine Ausrede betrat. Also mussten meine Charaktere etwas Fremdartiges haben. Einer ist halb russisch, halb brasilianisch wegen seines Vaters, ich brauchte einen totalen Ausländer. Der andere musste aus einer der Ex-Sowjetrepubliken sein, ich wusste nicht, welcher – es war erst am Ende jenes Monats, als ich mir bewusst machte, dass für die Russen der wahre Ausländer ein Mensch aus dem Kaukasus ist. Und dann kam ich auf den illegalen tschetschenischen Flüchtling, der in Sankt Petersburg seine Mutter sucht.

Media-Mania.de In Ihrem Roman lernen wir einige sehr unterschiedliche Arten von Müttern kennen: eine, die ihren ersten Sohn nicht lieben oder auch nur anerkennen kann, weil er die "Folge" einer "amour fou" ist; eine, die ihren Sohn nicht gegen seinen brutalen Stiefvater verteidigt und die später heimlich versucht, ihn zu retten, und andere, die alles tun, um ihre Söhne vor dem Militärdienst zu retten – oder sogar die Söhne anderer Frauen. Sie stellen im Roman fest, dass es ohne Mütter keine Kriege gäbe. Ich habe darüber lange nachgedacht und muss Sie einfach fragen, wie das gemeint ist angesichts so vieler unterschiedlicher Mütter. Verursachen sie Kriege nur, indem sie Söhne gebären, die zum Dienst als Soldaten gezwungen werden? Ich glaube, für Bernardo Carvalho wäre das zu einfach.

Bernardo Carvalho Ich glaube nicht, dass sie Kriege verursachen. Aber man hört häufig, dass es, wenn Frauen die Welt regierten, keine Kriege gäbe, das ist das Klischee. Männer ist gewalttätig, Frauen sind nett, und da die Frauen die Kinder empfangen, können sie keine Kriege beginnen.
Brecht sagte bereits etwas Ähnliches: Mütter können auch richtige Teufel sein. Ich bin zu der Überlegung gekommen, dass die Liebe einer Mutter, die reinste Liebe der Welt, in gewisser Weise ebenso ungerecht wie rein ist. Man liebt das eigene Kind mehr als jedes andere Kind, und wenn das eigene Kind bedroht wird, würde man jeden anderen Menschen töten, um es zu retten. Das ist etwas Eigenartiges, denn es schafft Unterschiede zwischen Familien, Clans und Nationen, der oder dem eigenen und der oder dem anderen, und das Andere ist weniger wertvoll als das Eigene. So ist es ziemlich paradox, dass die reinste, die verehrungswürdigste Liebe in der Welt diejenige ist, die Krieg verursachen kann.
Mich begann dieses Paradox zu interessieren, als ich in den Büchern von Anna Politkowskaja über das Mütterkomitee las. Das Schöne an diesen Müttern ist, dass sie zunächst denken, sie müssten ihre eigenen Kinder retten, doch sie entwickeln diese Liebe weiter und dehnen sie auf die Kinder anderer Leute aus. So beendet man Kriege, es ist wunderschön – wenn man nicht nur für das eigene Kind kämpft, sondern auch für das von jemand anderem, eine Liebe ohne Beschränkungen oder Grenzen, Liebe zu jeder anderen Mutter Sohn, der sich im Krieg, auf dieser Welt befindet. Dies ist, denke ich, die Lösung für Kriege.

Media-Mania.de Es hat mich auch gefesselt, wie schließlich ein Halbbruder den anderen ermordet *. Selbst wenn man nicht religiös ist, erinnert das an das biblische Thema von Kain und Abel. Aber daran haben Sie wohl nicht gedacht?

Bernardo Carvalho Eigentlich nicht. Der Kerl weiß, dass Ruslan sein Halbbruder ist, aber er ist von Anfang an Faschist, er liebt es, zu den Schwulenclubs zu gehen und dort Leute zu töten; in einer Szene, die das herausstellt, geht es um den Kollegen seines Vaters, der einen Schwulenclub aufsucht … Also, er ist ein Faschist. Und nicht nur ist Ruslan sein Halbbruder, aber seine Mutter hatte ganz offensichtlich eine Beziehung zu jemandem, der kein Russe ist, der vom Kaukasus kommt. All diese Schichten interessierten mich an dem Roman.

Media-Mania.de Sie wissen sicherlich, dass sich der deutsche Titel Ihres Romans stark vom Original unterscheidet ["O filho da mãe", Anm. d. Red.]. "Dreihundert Brücken" gegenüber einem brasilianisch-portugiesischen Euphemismus für "Hundesohn" oder auch "Hurensohn" im Original. Mir erscheint der deutsche Titel eher schwach im Vergleich zum Original – mögen Sie ihn?

Bernardo Carvalho Es ist so, dass ich kein deutsches Äquivalent zum brasilianischen Titel finden konnte. Der brasilianische Titel bedeutet in der Tat "Hundesohn", doch er kann auch heißen: "Sohn einer Mutter". Es war sehr schwierig zu übersetzen. Meine Übersetzerin dachte an "Deine Mutter", als Beleidigung gemeint, aber ich glaube nicht, dass es auf Deutsch funktioniert.

Media-Mania.de Nein, es funktioniert nicht.

Bernardo Carvalho Wir haben viel darüber nachgedacht und schließlich mehr oder weniger den Titel des ersten Teils übernommen.

Media-Mania.de Brücken sind großartig als Metapher, aber es gibt nur wenige Brücken zwischen den Charakteren Ihres Romans – diejenige zwischen den Liebenden, zwei homosexuellen jungen Männern, ist am stärksten.

Bernardo Carvalho Als ich in Sankt Petersburg war, spürte ich, dass damit etwas nicht in Ordnung war. Ich traf nicht viele Leute, ich blieb fast den ganzen Monat allein, aber schließlich traf ich Leute über Beziehungen und so weiter. Die Leute, mit denen ich zusammenkam, waren nett, sehr jung und kultiviert, sie lasen und interessierten sich für Filme, aber als ich erwähnte, dass ich eine Liebesgeschichte über zwei Jungs schreiben würde, erschien es ihnen augenblicklich befremdlich. Ich hatte eine Art Funken von etwas Schlechtem gezündet. Es gibt sehr viele Vorurteile bezüglich der Homosexualität in dieser Welt, in diesem Land – trotz einiger, die dagegen ankämpfen -, sogar unter den jungen und kultivierten Leuten.

Media-Mania.de Ist das in Brasilien besser? Viele Deutsche denken in Bezug auf Brasilien vor allem an den Karneval und an eine offene, tanzende, fröhliche Gesellschaft.

Bernardo Carvalho Der Karneval ist sehr heuchlerisch. Natürlich haben wir dort die Transvestiten, aber wenn man auf das tägliche Leben und die mehrheitliche Art der Homosexualität schaut, ist es wirklich schlecht, zum Beispiel werden Leute auf der Straße angegriffen und getötet, nur weil sie schwul sind. Wir haben das Thema somit auch in Brasilien, aber der Unterschied zwischen Russland und Brasilien ist, dass die Gesetze in Brasilien den Schwulen entgegenkommen. Brasilien ist ein sehr religiöses Land, sehr rückwärts gerichtet und konservativ im religiösen Sinne, aber gleichzeitig versuchen viele Menschen, eine gute Gesetzgebung für die Homosexuellen und andere Minderheiten zu erreichen.
Somit ist das Gesetz grundsätzlich gut für die Schwulen, es schützt sie – anders als in Russland, wo alles, was mit Homosexualität zu tun hat, als Verbrechen behandelt wird und man, wenn man zugibt, homosexuell zu sein, im Gefängnis landen kann.
Ich glaube, wenn dieses Buch ins Russische übersetzt und in Russland veröffentlicht würde und ich dort hinreiste, könnte ich bestraft oder ins Gefängnis gesteckt werden mit dem Vorwurf, ich fördere die Homosexualität. Es ist ein eigenartiges Land, aber auch sehr reich **, sehr gewalttätig, doch ebenso ausgesprochen interessant, und die russische Kultur ist wirklich faszinierend.

Media-Mania.de Vermutlich ist mittlerweile in Brasilien mindestens ein neuer Roman von Ihnen veröffentlicht worden?

Bernardo Carvalho Ja, er ist gerade vor zwei Wochen beim Verlag Companhia das Letras erschienen. Aber er hat ein völlig anderes Thema.

Media-Mania.de Ich frage genau deshalb: Ihre Romane haben so unterschiedliche Themen, und sogar in ein und demselben Roman gibt es mehrere wichtige Themenkomplexe. Zum Beispiel berühren sie in "Dreihundert Brücken" auch die Ausbeutung des Amazonas-Urwaldes durch ausländische Pharmafirmen – über Andrejs brasilianischen Vater. Daher bin ich gespannt zu erfahren, wovon Ihr neuer Roman handelt.

Bernardo Carvalho Er besteht aus drei Monologen – nicht echten Monologen, sondern Dialogen, bei denen ein Teil fehlt. Der Protagonist ist ein Faschist und einer dieser typischen Internet-Kommentatoren, die schreckliche Dinge sagen, Hasstiraden gegen Schwarze, Schwule, Frauen, Übergewichtige und so weiter verbreiten, ohne dass es geahndet wird. Er informiert sich über eine Art Wikipedia, kennt sich also mit allem in der Welt aus, doch er ist sehr oberflächlich und bleibt bei seinen Schimpftiraden gegen alle Minderheiten. Er hält sich allerdings nicht für einen Faschisten, sondern für geradeheraus und liberal.
Der Dialog findet in einem kleinen Raum am Flughafen statt. Er versucht, von São Paulo nach China zu fliegen; ein Polizist holt ihn aus der Schlange am Check-in-Schalter und bringt ihn in ein kleines Büro ohne Fenster. Von den Dialogen lesen Sie nur den Teil dieses Kerls, aber nicht den des Polizisten. Das ist das Buch.

Media-Mania.de Das klingt faszinierend. Ich freue mich darauf, es zu lesen. Die besten Wünsche für Sie und vielen Dank für das Interview!

* Wie schon in einer vorhergehenden Frage angedeutet, verliebt sich Ruslans Mutter leidenschaftlich in einen Tschetschenen, verlässt dann aber ihn und das Baby und gründet in Sankt Petersburg mit einem russischen Mann eine neue Familie. Später sucht und findet Ruslan sie dort und wird zur Zielscheibe tödlichen Hasses seines Halbbruders.
** Mit dem Begriff "reich", im auf Englisch geführten Interview "rich", ist dem Kontext zufolge weniger ein materieller als ein kultureller Reichtum gemeint.

Rezension zum Buch bei Media-Mania.de

Das Interview wurde am 10.10.2013 von Regina Károlyi auf der Frankfurter Buchmesse am Stand des Verlags Luchterhand geführt. Interviewsprache: Englisch; Übersetzung: Regina Károlyi
Geführt von Regina Károlyi am 09.10.2013