Media-Mania.de

Der Zauber der kurzen Form
Interview mit Luísa Costa Hölzl, Veronica Stigger
Interview mit Luísa Costa Hölzl und Veronica Stigger über die Anthologie "Microcontos – Minigeschichten aus Brasilien"

[PIC] Media-Mania.de: Frau Costa Hölzl, Sie sind Herausgeberin der Anthologie "Microcontos – Minigeschichten aus Brasilien". Ist diese Anthologie so auch in Brasilien erschienen, oder haben Sie die Geschichten speziell für das deutschsprachige Publikum ausgewählt?

Luísa Costa Hölzl: Sie sind speziell für dieses Projekt ausgewählt worden. Es hat sie so nicht gegeben, obwohl einer der Autoren, Marcelino Freire, 2004 ein Büchlein herausgegeben hat, das heißt: "Die hundert kürzesten brasilianischen Geschichten". Darin waren auch ganz kleine Minigeschichten; das Buch habe ich aber erst gegen Ende meiner Auswahl überhaupt kennen gelernt. Das war reiner Zufall.
Im Grunde waren diese kurzen Geschichten ein Nebenprodukt. Die Übersetzerin Wanda Jakob und ich hatten eine Anthologie mit Geschichten weiblicher Autoren vorgesehen und haben mehrere Anthologien und Erzählbände angeschaut. Dabei haben wir einige ganz kleine, kurze Texte entdeckt und festgestellt, dass man damit etwas anfangen kann, dass sie unheimlich gut sind. So ist dieses Projekt entstanden, wir sind damit zu dtv gegangen, dtv hat uns zudem angesprochen. Natürlich auch in Hinblick auf Brasilien als Gastland der Buchmesse 2013.

Media-Mania.de: Und welche Kriterien haben Sie angelegt – sollten es einfach interessante, spannende Geschichten sein, oder haben Sie versucht, die vielen Facetten des Landes Brasilien darzustellen?

[PIC]Luísa Costa Hölzl: Nein, eigentlich ging es gar nicht um diese Facetten. Letzten Endes haben wir 13 Autoren, sehr unterschiedliche; für uns war die Kürze wichtig, es musste sich auf jeden Fall um Minigeschichten handeln, dann eine gewisse Parität Männer – Frauen, und es sollten zeitgenössische Autoren sein, also Autoren, die jetzt leben und schreiben. Die älteste Autorin ist '53 geboren, der Jüngste '79. Dies ist die Spannbreite der Autorenalter, und sie stammen aus verschiedenen Orten Brasiliens, wobei letztlich São Paulo, Rio und Porto Alegre dominieren, der Südosten, da wo die meisten Autoren leben. Dies beweist die Asymmetrien des Landes; da wo weniger gelesen wird, weil das Bildungssystem prekär ist, wird folglich weniger geschrieben.

Media-Mania.de: Microcontos, auf Deutsch Kürzestgeschichten – oder Minigeschichten -, sind im deutschsprachigen Raum als Literaturform wenig verbreitet. Sind die Microcontos in Brasilien beliebter?

Veronica Stigger: In den letzten Jahrzehnten hat sich wirklich eine größere Tendenz hin zu dieser Kleinform ergeben.

Media-Mania.de: Was können die Microcontos, was eine Kurzgeschichte oder ein Roman nicht kann?

Veronica Stigger: Diese sehr kurzen Texte sind sehr konzis, sehr konzentriert, verlieren sich nicht in irgendwelchen Mäandern. Und das macht natürlich den Text auch gut, er ist vergleichbar mit einem Gedicht.

Luísa Costa Hölzl: Nicht umsonst gibt es den Bestandteil "Dichte" im Wort "Gedicht".

Veronica Stigger: Ich habe einige Texte, die "pre-estórias" genannt werden, also "Vor-Geschichten". Das sind noch keine Geschichten, sondern sozusagen Geschichten in Potenz. Sie können dann vom Leser selbst weitergedacht werden; sie tragen etwas in sich, das wachsen kann.

Media-Mania.de: Ihre Geschichten sind skurril. Ich habe mir natürlich Gedanken darüber gemacht, aber ich weiß nicht, ob ich sie richtig gedeutet bzw. verstanden habe. Erwarten Sie eine bestimmte Interpretation, oder möchten Sie, dass der Leser sie auf seine eigene Weise auslegt?

Veronica Stigger: Die Intention ist tatsächlich Befremden, Skurrilität, und die funktioniert besonders gut in Kurzformen. Der Leser kann sich an die Skurrilität gar nicht erst gewöhnen, die Überraschungseffekte funktionieren bei solch kurzen, konzisen Texten einfach optimal.

Media-Mania.de: Die Frage mag ein wenig plump klingen, ist aber sicher ganz interessant: Ist es einfacher, eine Minigeschichte, ein Microconto zu schreiben als beispielsweise eine Kurzgeschichte? Einerseits handelt es sich ja nur um wenige Sätze, andererseits muss jedes Wort präzise sitzen. Wird die Minigeschichte sorgfältig geplant oder nach einer Idee einfach hingeschrieben?

Veronica Stigger: Es ist klar, beide Typen machen Arbeit. Beim Microconto muss die Idee so toll sein, dass sie auch in diese Form passt. Eine längere Geschichte benötigt dagegen mehr Details, mehr Protagonisten, und die Form ist nicht so wichtig wie bei den Microcontos.

Media-Mania.de: Die Microcontos decken ein sehr weites Spektrum ab. Es gibt augenzwinkernden Humor, große Gefühle trotz weniger Worte, beißenden Sarkasmus und bittere Ironie, Melancholie, Resignation, Zorn, die belehrende Fabel, das skurrile Element wie etwa bei Frau Stigger und vieles mehr. Ich habe in letzter Zeit viel über Brasilien gelesen und spüre in diesen Geschichten die widersprüchliche Entwicklung dieses kraftvollen, aber auch komplizierten Landes. Veröffentlichungen wie Ihre Anthologie, aber auch die Buchmesse mit Brasilien als Gastland wecken natürlich das Interesse an Brasilien. Können Sie spontan weitere Bücher oder Autoren empfehlen, die dem deutschsprachigen Leser die Gesellschaft und Kultur Brasiliens näherbringen?

Veronica Stigger: Gilberto Freyre, ein Kulturwissenschaftler. Aber das ist Sachliteratur.

Luísa Costa Hölzl: Ich persönlich finde, die Literatur darf nicht als Landeskunde fungieren.

Media-Mania.de: Sicher, aber man kann doch eine Kultur anhand von Literatur ein Stück weit erspüren?

Luísa Costa Hölzl, bisweilen ergänzt von Veronica Stigger: Ich würde ein Buch nehmen, das neu herausgekommen ist, zum Beispiel von Luiz Ruffato, er schreibt sehr, sehr gut, seine Romane gehen unter die Haut.
Prinzipiell sind die Anthologien immer zu empfehlen. Man lernt gleich mehrere Autoren kennen und kann sich über einzelne von ihnen im Internet informieren: Gibt es seine Werke auf Deutsch oder nicht? Und so kann man sich weiter dafür interessieren.
Zur Buchmesse sind mehrere Anthologien herausgekommen, auch welche mit Texten von zeitgenössischen Autoren, das finde ich sehr wichtig. Die brasilianischen Klassiker sind fantastisch, Machado de Assis, Guimarães Rosa, Clarice Lispector, deren Werk allmählich wieder oder neu aufgelegt wird. Doch es ist sehr gut, dass der deutsche Leser Zugang bekommt zu der Literatur, die gerade gemacht wird.
Und um eine Art erste Impression zu erhalten, von den Autoren, von den Themen, von den Genres, sind Anthologien wärmstens zu empfehlen.

Media-Mania.de: Frau Stigger, sie sind nicht nur Belletristik-Autorin, sondern auch Kunstkritikerin und Kuratorin.
Hier in Frankfurt hat ein Museum im Zusammenhang mit der Buchmesse ein Projekt "Street-Art Brazil" organisiert. Zwölf bekannte brasilianische Graffitikünstler haben Fassaden, Bauzäune, den Asphalt, einen Bahn-Waggon und andere Flächen in Kunst verwandelt. Das ganze Spektrum von Abstrakt bis Konkret-Gesellschaftskritisch, inklusive mystischer und folkloristischer Motive, zeigt sich in ihren Werken. Ich fühlte mich beim Lesen der Microcontos immer wieder stark an diese Kunstwerke erinnert. Wie eng ist die Verbindung zwischen brasilianischer Literatur und Kunst?

Veronica Stigger: Ich habe ja dieses Projekt, "pre-estórias", "Vor-Geschichten". Ein Kulturinstitut in São Paulo hat renoviert und einen Neubau erstellen lassen, und an den Bauzäunen habe ich diese Sätze auf großen Plakaten schreiben lassen. Es sind Sätze, die ich auf der Straße aufgeschnappt habe: "Dieses Mädchen will heiraten, aber der Vater will es nicht, vielleicht macht sie es doch." Was Leute im Bus oder an der Haltestelle reden, und man hört es zufällig. Durch diese Arbeit habe ich die Geschichten quasi der Straße, von der ich sie hatte, zurückgegeben. Das ist meine Art, Literatur mit der Street-Art zu verbinden.
Als Professorin für Kunstgeschichte interessiere ich mich natürlich sehr für diese Kunst. Inzwischen haben viele Künstler das Narrative für sich entdeckt, sie erzählen viel in ihren Installationen, in ihren Bildern. Das gibt es in Deutschland teilweise auch, es war ja einige Zeit sehr verpönt, jetzt ist es wieder "in".
Manche Künstler erstellen eine Installation und Fotos oder Bilder von der Straße, und miteinander ergeben diese Werke eine Erzählung. So werden in der Tat Bezüge hergestellt zwischen Literatur und bildender Kunst.

Media-Mania.de: Sie schreiben auch Romane, zumindest einer ist erschienen – wird es ihn bald auf Deutsch geben?

Veronica Stigger: " Opisanie świata". Er spielt in den 30er-, 40er-Jahren. Ein Pole erfährt, dass er einen Sohn in Brasilien hat und dieser Sohn krank ist. Deshalb will er nach Brasilien. Und da kommt wieder das Skurrile, Fremde: wie ein Pole in Brasilien eintrifft und wie er dieses Land aufnimmt. Vielleicht wird der Roman auch auf Deutsch erscheinen, ich weiß es nicht.
Der Roman ist wie ein Reisetagebuch aufgemacht, es sind auch Souvenirs eingeklebt wie zum Beispiel die Speisenfolge an einem Tag der Überfahrt.

Media-Mania.de: Da gab es aber viel zu recherchieren – wenn man auch noch solche Fundstücke auftreiben muss!

Veronica Stigger: Ja, es ist natürlich ein ganz anderes Herangehen als an eine "normale" Erzählung oder gar eine Minigeschichte. Bei den Kurzformen hat man das Ende immer fest im Blick, beim Roman ist das anders, da kommt schon mal Angst, Panik auf, und am Ende ist es vielleicht gar nicht so, wie ich es ursprünglich wollte.

Media-Mania.de: Frau Costa Hölzl, werden Sie in nächster Zeit noch weitere Anthologien auf Deutsch herausgeben?

Luísa Costa Hölzl: Ich habe noch zusammen mit Wanda Jakob eine Anthologie mit zwölf Erzählungen von zwölf Frauen bei edition fünf zusammengestellt, die sehr schön geworden ist, und ebenfalls mit Wanda Jakob zeitgenössische Lyrik von neun Lyrikern in der Neuen Rundschau bei S.Fischer. Das hat mir beziehungsweise uns sehr viel Freude gemacht.
Ich bin Portugiesisch-Dozentin, an Uni und VHS beschäftigt und sehe bei der Arbeit mit Studenten und lernenden Erwachsenen, dass gerade im Unterricht Vieles für die Kurzform spricht – obwohl ich selbst eine begeisterte Romanleserin bin, auch von dicken Romanen.
Wahrscheinlich ist die Kurzform ideal für unsere Zeit, in der die Menschen alle so hetzen.
Als nächstes Projekt würde ich gern Erzählungen aus der gesamten portugiesischsprachigen Welt sammeln, aus Brasilien, Portugal, Angola, Mosambik und den anderen ehemaligen Kolonien. Da würden sehr unterschiedliche Kulturen aufeinander treffen, die sich alle auf Portugiesisch ausdrücken, das fände ich sehr reizvoll.

Media-Mania.de: Vielen Dank für das Interview und Ihnen beiden die besten Wünsche und weiterhin viel Erfolg!

Rezension zum Buch bei Media-Mania.de
Das Interview wurde am 09.10.2013 von Regina Károlyi am Stand des Deutschen Taschenbuch Verlags geführt. Freundlicherweise übersetzte Frau Costa Hölzl für Frau Stigger.
Geführt von Regina Károlyi am 08.10.2013