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Interview mit Urs Widmer über seinen neuen Roman "Herr Adamson"
Interview mit Urs Widmer
Media-Mania.de: Herr Dr. Widmer, Ihr neuer Roman "Herr Adamson" beginnt mit der Geburtstagsfeier eines 94-Jährigen im Kreise seiner Familie und dessen Lebensrückblick am nachfolgenden Tag, seinem Todestag, wie der Leser bald erfährt. Sofern er es nicht schon aufgrund der auf den Tod anspielenden Geburtstagsgeschenke begriffen hat. – Der Tod, die Toten, das Totsein an sich sind Themen, die in diesem Roman wesentlich mehr als in Ihren anderen Romanen im Vordergrund stehen. Sie gehen einerseits mit einer gewissen Leichtigkeit, auch Humor an diese Themen heran – so hat die Idee großen Reiz, dass jemand, der just im Todesaugenblick eines Anderen geboren wurde, dessen Nachfolger wird und diesen, sollten sie einander begegnen, als Einziger sehen kann. Andererseits beschreiben Sie den Ausflug Ihres jungen Protagonisten in die Totenwelt auf durchaus verstörende Weise, als großes Schrecknis; da kommen Gedanken an Dante auf. Wie kam es zu diesem tabubehafteten Thema: Beschäftigt man sich als Autor, der, wenn ich das so sagen darf, die Lebensmitte bereits ein Stück weit hinter sich gelassen hat, eher damit, oder hätten Sie dieses Buch unter Umständen auch mit dreißig, vierzig Jahren verfassen können und wollen?

Urs Widmer: Ich glaube nicht. Ich habe es jedenfalls nicht getan. Ich glaube schon, dass das ein Buch ist, das man in sogenannten reiferen Jahren angeht. Andererseits kommt diese gewisse Heiterkeit des Buches zweifellos daher, dass ich, also der Stellvertreter, der Held des Buches, ja sozusagen mit dem Tod einen Deal mache: Tod, du gibst mir jetzt noch 24 angenehme Jahre, dann bin ich 94, und wir haben das Jahr 2032 erreicht. Und dann bin ich bereit, einigermaßen zuversichtlich mit dir zu gehen. Das ist also das Geschäft, das ich mit dem Buch mache, und das erklärt auch, warum dieses an sich schwarze Thema mit einer gewissen Leichtigkeit und Heiterkeit abgehandelt werden kann.

Media-Mania.de: Der Tod ist also nicht absolut, sondern man kann mit ihm auch verhandeln?

Urs Widmer (schmunzelt): Das kann man natürlich nicht. Ich, da ich der Autor bin, kann mir etwas einfallen lassen. An sich lässt der Tod dummerweise nicht mit sich verhandeln. Der Titelheld, Herr Adamson, ist ja ein Abgesandter aus dem Totenreich. Und Herr Adamson lässt mit sich nicht verhandeln. Er kommt, wann er kommt.

Media-Mania.de: Die sehr konkret präsentierten Jenseitsvorstellungen in "Herr Adamson" bestehen aus Anleihen bei diversen Mythologien und beim volkstümlichen Aberglauben, aber auch, wenn ich das richtig sehe, aus reinen surreal anmutenden Phantasie-Elementen. Wie viel von Ihrem eigenen Jenseitsglauben, falls vorhanden, findet man in Ihrem Roman?

Urs Widmer: Ich reihe mich mit dieser Todesfahrt, mit dieser Fahrt ins Totenreich natürlich in die lange, lange Kette einer Tradition ein. Das hat ganz viele Dichter seit den allerersten Anfängen beschäftigt, und jetzt bin ich auch einer von ihnen. Ich habe mir eben auch meine Totenreichphantasie zusammengebastelt; wenn Sie es hochgestochen wollen, meine eigene Mythologie. Und während des Schreibens denkt man ja nicht in Begriffen, so nach dem System: Jetzt nehmen wir mal hier ein bisschen Dante und dort ein bisschen Hieronymus Bosch, sondern das sind intensiv fließende Bilder und Phantasien, die ich erzähle. Ich habe dazu in mich hineingeguckt, so sieht es in mir aus. Im Nachhinein kann man dann sozusagen Spuren suchen.

Media-Mania.de: In "Herr Adamson" geht es nicht zuletzt um Großvater-Enkelin-Beziehungen. Herr Adamson versucht verzweifelt, mit Hilfe des Ich-Erzählers Kontakt zu seiner Enkelin Bibi aufzunehmen. Das geht so weit, dass der Ich-Erzähler sonderbare Passionen entwickelt, nämlich eine für die Navajo-Sprache und eine für das Graben, das Ausgraben, die ihn letztlich zu Bibi führen. Und der Ich-Erzähler spricht an seinem Todestag, bis zum letzten Atemzug, sein Leben, die ganze Geschichte um Herrn Adamson, für seine eigene Enkelin Anni auf ein Diktiergerät; alles ist eigentlich eine große Liebeserklärung an seine Familie, vorwiegend an Anni. Nun ist der Ich-Erzähler nicht ganz zufällig – das hatten Sie ja schon angesprochen – im selben Jahr geboren wie Sie und sieht Ihnen auch ähnlich. Gibt es, was konsequent wäre, die Enkelin, haben Sie mit diesem Roman für sie ein Vermächtnis verfasst?

Urs Widmer: Das ist eigentlich uninteressant, weil es außerhalb des Buches ist. In der Tat habe ich eine Enkelin, sie ist aber erst sieben Jahre alt. Sie wird mein Buch jetzt natürlich nicht lesen; vielleicht liest sie es dann im Jahr 2032. Das würde mich freuen. Vermutlich bin ich dann nicht mehr auf Erden. Aber ich glaube eben, dass sich Opas, schreibende Opas, so sehr für die Enkelinnen oder Enkel interessieren, diese Generation just, weil man nicht weiß, was ihr Schicksal sein wird. Es ist die Generation, deren Schicksal man vermutlich nicht mehr erfährt. Das hat etwas Anrührendes – man bekommt die Lust, zu beschwören, dass das gut geht. Und dieses Buch ist ja auch ein Beschwörungsbuch insofern, dass bis mindestens ins Jahr 2032, also jetzt noch 23 Jahre, nicht nur dem "Ich" des Buches, also mir, sondern auch meinem ganzen Clan alles gut bekommt. Und das ist natürlich eine Hoffnung, die ein jeder hegt.

Media-Mania.de: Wie entwickelte sich die Idee zu diesem Roman, einmal vom Thema Tod abgesehen? Ein Ausflug durch die Unterwelt bis zum antiken Mykene samt der reizvollen Verbindung zu Schliemann, die letztlich natürlich bedeutungsschwangere indirekte Präsenz der Navajos im Leben des Ich-Erzählers, eine weiße Frau, ein Dinosaurierknochen, der wahrscheinlich doch ein Kuhknochen ist, und viele Handlungsstränge, Personen und Accessoires mehr: Fliegt Ihnen all das mehr oder weniger zu, und Sie schreiben es auf, oder steckt ein präzise ausgearbeiteter Entwurf dahinter?

Urs Widmer: Etwas dazwischen. Ich schreibe sehr lange im Kopf, das heißt, ich bin relativ gut geworden im Warten. Ich warte einfach.

Media-Mania.de: Sie gehen schwanger, sozusagen.

Urs Widmer: Ich gehe, wenn Sie so wollen, schwanger, und vielleicht kommen wir mit den neun Monaten sogar hin. Ich gehe dann hin und her und mache keine Notizen, nie, überhaupt nichts. Und dann verdichten sich solche Schwerpunkte. Ich wusste natürlich, als ich anfing, in welcher Schreibsituation ich bin, und dass die letzte Seite meinen Tod schildern wird. Ohne das kann man das Buch nicht angehen. Und manche andere Elemente wusste ich auch, aber andere haben sich auch eingestellt, zum Beispiel der Knochen: Der war keinen Moment lang geplant, sondern ich fand ihn plötzlich, und dann hat der Knochen das Buch nicht mehr verlassen. Und ich kann bis heute nicht genau sagen, was er soll. Er ist ein magisches Objekt, das mich in irgendeiner Form zu schützen scheint. Ich nehme ihn dann ja auch bei meiner letzten Fahrt mit. Aber was er wirklich ist und soll, weiß ich auch nicht.

Media-Mania.de: Ich habe da sehr viel hineininterpretiert, aber es hat mir tatsächlich etwas gegeben.

Urs Widmer: Der Knochen ist wichtig, da gibt es gar keinen Zweifel, ja.

Media-Mania.de: Vor allem ist es gar nicht von Bedeutung, ob er nun ein Dinosaurier- oder Mammutknochen ist oder doch nur ein Kuhknochen, Hauptsache, er hat diese Wirkung.

Urs Widmer (schmunzelnd): So ist es. Anni hat sicher recht, aber für mich ist es ein Mammutknochen oder Tyrannosaurus rex.

Media-Mania.de: Rezensenten schätzen "Herr Adamson" sehr unterschiedlich ein. Da heißt es zum Beispiel, Sie nähmen dem Tod den Stachel, oder Sie erwiesen sich als "Riese der Fabulierkunst". Es fallen anderswo aber beispielsweise auch die Begriffe "Kitsch" und "Beliebigkeit". Mag es sein, dass Leser, die zumindest einige Stellen abwertend beurteilen, zu viel in den Roman hineinzuinterpretieren versuchen? Anders gefragt: Trotz des ernsten Hauptthemas Tod und Transzendenz – wie viel an "Herr Adamson" ist tiefgründige Literatur, und wie viel humor- und gehaltvolle Unterhaltung?

Urs Widmer: Ich sehe da keinen Widerspruch und weiß nicht, wo sie den hernehmen sollen. Ich werde jetzt nicht mit meinen Kritikern rechten, abgesehen davon, dass ich sehr viel Glück gehabt habe: Diese kritischen Stimmen sind sehr wenige. Ich vermute jedoch, dass die Leseschwierigkeiten, wenn sie sich denn einstellen, einfach aus Abwehr vor dem Thema entstehen. Death doesn't sell, sagen schon die Verleger, und der Tod ist ein unheimliches Thema. Wie auch immer das bei mir behandelt wird, das unheimliche Thema des Sterbens bleibt natürlich darin. Und ich habe Verständnis dafür, dass manche da schlicht den Rollladen herunterlassen, das einfach nicht wissen wollen. Das passiert natürlich mit manchen Lesern, auch Berufslesern.

Media-Mania.de: Vielleicht auch, weil Sie den Tod nicht schrecklich genug beschreiben? Da gibt es diese gewisse Leichtigkeit, und die steht natürlich der vorherrschenden Überzeugung gegenüber: Tod muss schrecklich sein.

Urs Widmer: Sie haben das Buch ja gelesen. Da gibt es diese Fahrt ins Totenreich, und die hat ja nun einen ganz anderen Ton und erfüllt zweifellos das, was Sie nicht fordern, aber benennen. Das ist ja eine schreckliche Szenerie und ohne jeden Witz, wie der kleine Junge da probeweise hineinverschlagen wird, und Gott sei Dank entkommt er dem noch einmal. Das ist ganz fürchterlich und bietet keinerlei Trost. Auch das ist ein Anlass, den Rollladen zuzumachen. Trost hat man ja eigentlich doch ganz gern.

Media-Mania.de: Wie würden Sie als Autor die zentrale Aussage Ihres Romans in ein, zwei Sätzen zusammenfassen? Oder geht das nicht?

Urs Widmer: Das kann ich nicht. Aber das würde ich gern von Ihnen hören, wie würden Sie's denn tun?

Media-Mania.de: Meine Meinung interessiert unsere Leser eher weniger. Wenn Sie mir einen Moment Zeit geben, könnte ich es aber versuchen … Liebe deine Familie und strebe deine Ziele an …

Urs Widmer: Das klingt ja beinahe wie Coelho!

Media-Mania.de: Ja, stimmt … Lassen wir das lieber.

Urs Widmer: In Fernseh- und Radiosendungen habe ich gedacht, ich könnte sagen, es ist ein Buch über einen geglückten Abschied. Das ist nämlich nicht so einfach.

Media-Mania.de: Vor meiner Abschlussfrage würde ich gern, auch wenn es einen thematischen Bruch bedeutet, eine weitere Frage einschieben, und zwar: Was liest Urs Widmer zurzeit?

Urs Widmer: Zurzeit bin ich in den allerersten Anfängen des Buches von Herta Müller.

Media-Mania.de: Das Thema Tod, das Buchende: Ein wenig wirkt das wie ein Schlussstrich. "Herr Adamson" ist aber doch hoffentlich nicht als Schlussakkord Ihres Wirkens als Schriftsteller zu verstehen? Haben Sie derzeit einen neuen Roman in Arbeit?

Urs Widmer: Habe ich nicht. Ich bin völlig ahnungslos, was werden soll. Ich habe auch keine Pipeline, in der irgendwelche Projekte warten. Das ist aber immer so, deshalb bin ich nicht besonders beunruhigt. Ich kann immer nur ein Buch schreiben, das schreibe ich dann, und danach kommt eine ziemlich lange leere Zeit. Mein Leben ist dann natürlich nicht leer, aber ich weiß nicht, was schreiben. In der Regel kommt's wieder. Ansonsten sage ich: Ein Buch ist immer das letzte. Aber ich glaube nicht, dass es dieses ist.

Media-Mania.de: Ich bedanke mich im Namen von Media-Mania.de ganz herzlich für das Interview und wünsche Ihnen weiterhin alles Gute sowie natürlich weitere Bücher – obwohl, die wünsche ich insbesondere den Lesern.

Urs Widmer: Herzlichen Dank.

Das Interview wurde am 18.10.2009 auf der Frankfurter Buchmesse von Regina Károlyi geführt.
Foto: Regina Károlyi

Link zur Rezension des Buchs bei Media-Mania.de
Geführt von Regina Károlyi am 17.10.2009