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Xiaolu Guo im Gespräch über ihren Roman "Ein UFO, dachte sie"
Interview mit Xiaolu Guo
Media-Mania.de: Xiaolu, auf der letzten Frankfurter Buchmesse haben Sie Ihren Roman "Kleines Wörterbuch für Liebende" vorgestellt, der auch in Deutschland viele begeisterte Leser gefunden hat. Darin geht es um eine junge Chinesin, deren Eltern sie nach England geschickt haben, damit sie Englisch lernt. Das Thema Ihres neuen Romans, "Ein Ufo, dachte sie", ist ganz anders: Die Geschichte beginnt im Jahr 2012, als in einem armen chinesischen Bauerndorf eine Frau, Kwok Yun, berichtet, sie habe eine metallische Scheibe im Himmel gesehen und, nachdem sie aus einer mehrminütigen Ohnmacht erwacht war, einen verletzten weißen Mann in ihrer unmittelbaren Nähe gefunden. Mit der Hilfe einiger Dorfkinder habe sie ihn in ihr Haus gebracht und seine Verletzung versorgt. Sie habe ihn dann eine Weile allein gelassen und bei der Rückkehr nicht mehr angetroffen.
Das sind die Fakten, mit denen zwei Geheimdienstler konfrontiert werden, als sie im Dorf den Bericht der Dorfvorsteherin prüfen sollen. Als Monate später der von Kwok Yun gerettete Mann, ein US-Amerikaner, dem Dorf zweitausend Dollar überweist, setzen die Bürokratie, die politischen und persönlichen Ambitionen Einzelner und die geheimdienstliche Untersuchung eine Entwicklung in Gang, die bald außer Kontrolle gerät und das Dorf wie eine Lawine unter sich begräbt.
Gab es einen konkreten Vorfall, der Ihnen die Idee für diesen Roman gegeben hat, oder was sonst hat Sie inspiriert?


Xiaolu Guo: Nun, "Ein Ufo, dachte sie" ist ein Roman, den ich immer schon schreiben wollte – aus zwei Gründen. Einer davon ist meine Vergangenheit. Ich bin in einem kleinen Dorf aufgewachsen, daher kenne ich das Wesen dieser Bauern sehr gut. Ich fühle mich ihnen sehr nahe. Auch empfinde ich Kummer wegen ihrer Trauer über den Verlust ihres Landes oder auch den Verlust ihrer Identität. Deshalb wollte ich über diese alten Dorfbewohner schreiben.
Der zweite Grund sind die abrupten Veränderungen in China während der letzten Jahre, wirtschaftlich und kulturell. Und ich dachte, wenn ich diese beiden Aspekte verbinden kann, die Veränderung in der großen Gesellschaft und des Geschicks, des Schicksals der "kleinen" Individuen, ihren Kummer und ihre Freude während dieser Veränderung, könnte ich einen Roman aufbauen, der einen politischen Kontext hat, aber auch Gefühle und Empfindungen widerspiegelt.

Media-Mania.de: Gibt es einen besonderen Grund, warum die Geschichte im Jahr 2012 beginnt?

Xiaolu Guo: Ich wollte den Roman absurder oder futuristischer gestalten, also mit etwas jenseits des Realismus ausstatten, weil der Roman selbst, wie ich glaube, sehr realistisch ist. Er ist so real, es ist wie eine Dokumentation dessen, was sich in China auf dem Dorf abspielt mit Bauern und Fortschritt.
Ich mag es, wenn ein Roman Fiktion ist, nicht zu realistisch, und mir ist es wichtig, zu abstrahieren, wahre Elemente in etwas jenseits davon einzubetten. Deshalb ist der Roman in der nahen Zukunft angesiedelt, wo er eine polizeiliche Ermittlung schildert, weshalb das Buch wie eine Polizeiakte gestaltet ist. Und ich habe mich bemüht, Gefühle darin zu dokumentieren.

Media-Mania.de: Die Charaktere der Dorfbewohner haben mich fasziniert. Sie sind so authentisch und passen perfekt in Plot und Setting des Romans. Sie sind, wie Sie ja schon sagten, in einem kleinen südchinesischen Dorf aufgewachsen. Sind die Figuren in Ihrem Roman real – ich meine, haben Sie Personen portraitiert, die Sie wirklich gekannt haben? Wenn ja, wie haben Sie sie kennen gelernt?

Xiaolu Guo: Diese Art von rückständigem Dorf, wo der Fortschritt noch nicht recht angekommen ist, ist nichts Ungewöhnliches. All diese Dörfer in China wurden vergessen. Dort leben nur alte Leute, die jungen Leute haben sie verlassen, um nie mehr zurückzukehren. So muss man, wenn man aus China ist, nicht studieren oder recherchieren, weil es das eigene Leben ist, die eigene Lebensart. Ich bin in einem dieser vergessenen Dörfer aufgewachsen, sehr abgelegen, nicht zivilisiert im eigentlichen Sinne. Die Landschaft befindet sich in der Nähe meines Heimatdorfes.

Media-Mania.de: Seit 2002 leben Sie in London, richtig?

Xiaolu Guo: In London und Paris.

Media-Mania.de: Ah. In welcher Weise hat sich China seither verändert? Und ist denn das China in Ihrem Roman das China von 2002 oder 2009 – oder könnte es wirklich das China von 2012 sein?

Xiaolu Guo: Nun, ich denke, der Roman ist eher eine Metapher, es ist ein kafkaeskes Buch. Daher meine ich, dass es sich, obwohl es in der nahen Zukunft angesiedelt ist, in Wirklichkeit die Vergangenheit aufzeichnet. Es dokumentiert den Fortschritt von der Vergangenheit zum heutigen China und vielleicht die Zukunft. In diesem Buch habe ich versucht, fünfzig Jahre der Geschichte zu verdichten. Wir sollten es nicht zu wörtlich nehmen.

Media-Mania.de: Chinas rasanter wirtschaftlicher Fortschritt ist erstaunlich und verdient Respekt, aber er verursacht natürlich auch neue Probleme, auf die die chinesische Gesellschaft möglicherweise nicht vorbereitet war. Der Mikrokosmos, den Sie in Ihrem Buch darstellen, wird mit einigen dieser Probleme konfrontiert, und sie führen zur Entwurzelung fast sämtlicher Dorfbewohner, sogar zum Selbstmord, und betreffen vor allem die ältere Generation und die Analphabeten. Glauben Sie, dass sich die chinesische Regierung der Realität dieser Situation bewusst ist und diesbezüglich etwas unternehmen wird?

Xiaolu Guo: Jede Regierung weiß, was in ihrem Land los ist, aber Regierung ist Regierung. Mein Buch ist nicht dazu gedacht, die Regierung zu diskutieren, zu hinterfragen, ob sie gut genug ist. In meinem Buch geht es vorwiegend um die "kleinen" Leute. Ich glaube, Ihre Frage ist eher eine journalistische Frage über Politik, und ich sage zwar nicht, dass ich mich nicht für Politik interessiere, aber ich denke, es bringt nichts, wenn wir die Politik Punkt für Punkt diskutieren.
Wenn wir mehr auf die Stimmen und Geschichten der "kleinen" Leute hören könnten, würden wir mehr Verständnis entwickeln. Wenn wir nur über die große Regierung sprechen und sie analysieren, ist das umsonst.

Media-Mania.de: Dann lassen wir die Politik. – Als Sie sich Gedanken über diesen Roman machten, was Sie ja, wie Sie sagten, über längere Zeit getan haben, hatten Sie da von Anfang an geplant, das Buch wie eine Polizeiakte aufzubauen? Oder dachten Sie auch über eine andere Form nach?

Xiaolu Guo: Ich fand die Form später. Zunächst gingen meine Gedanken eher in Richtung einer Erzählung, eines eher klassischen Romans. Als Schriftstellerin wollte ich jedoch nie die klassische Erzähltradition hinsichtlich der Charaktere und Beschreibung fortsetzen, die konservative Art, zu erzählen. Ich wollte eine Form entwerfen, die einen Bezug hat zu dieser chaotischen Informationsgesellschaft. So suchte ich nach einer Struktur zum Aufbau dieser Geschichte und fand sie in der Form des Polizeiberichts, der polizeilichen Untersuchung. Die Bauern erzählen der Polizei in deren Verlauf ihre Geheimnisse. Also habe ich das verhältnismäßig spät während der Arbeit am Roman gefunden.

Media-Mania.de: Kennen Sie sich denn mit Polizeiarbeit aus? Sie sind ja keine Krimiautorin, aber der Roman wirkt so realistisch, alles wird so absurd, diese ganze Bürokratie, unter etwas anderen Voraussetzungen hätte das ähnlich auch in Deutschland geschehen können.

Xiaolu Guo: Na ja, ich habe schon einige interessante Recherchearbeit geleistet. In der Tat fand ich einige FBI-Akten und sogar britische Geheimagenten-Akten. Es gibt im Internet nämlich öffentlich zugängliche FBI-Akten. Diese und die chinesischen Polizeiakten sind mehr oder weniger gleich – Sie wissen, einige Stellen werden geschwärzt, und sie sind mit Randnotizen versehen. Und wenn etwas aus der Akte entnommen wurde, kann man lesen, welche Seite fehlt. In allen Ländern ist die Regierungsmaschinerie gleich. Deshalb funktioniert beim Roman die Form der Polizeiakte.

Media-Mania.de: Manchmal, beim Lesen einer absurden Szene, saß ich da und lachte, aber ich spürte Tränen in mir. Haben Sie es beabsichtigt, dass diese Szenen zugleich witzig und tief traurig wirken?

Xiaolu Guo: Natürlich bin ich mir dieser Tatsache sehr stark bewusst, es ist eine Art von Humor. Der Großteil der chinesischen Literatur ist ziemlich schwer, Geschichte, nationale Identität, solche großen Dinge, und sehr ernsthaft verfasst. Und ich denke, die Literatur, die ich mag, hat diese Ernsthaftigkeit, aber auch viel Humor mit komödiantischen Elementen. Ich glaube, sogar Kafka hat Humor in seinen Büchern.
Ich wollte einen Roman schreiben, der beide Seiten enthält, der sehr dunkel und traurig und zugleich voll lustiger Szenen und verrückter Witze sein kann. Ich glaube, so ist das Leben, und sogar die tiefste Traurigkeit kann in absurdester und lachhaftester Weise verdreht werden.

Media-Mania.de: Und jetzt – gab es ein echtes UFO, oder hat die Bäuerin Kwok Yun es sich bloß eingebildet?

Xiaolu Guo: In diesem Roman wissen wir nicht, ob Kwok Yun wirklich ein UFO gesehen hat oder nicht, und ich glaube, das spielt auch überhaupt keine Rolle, aber sie braucht etwas, um ihr Leben zu verändern. Und dann wird ihr Leben abrupt auf den Kopf gestellt durch diese äußerliche Kraft. Sie wirkt wie ein Opfer äußerlicher Macht, nicht etwa innerlicher Macht.
In gewisser Weise besitzt sie keine persönliche Identität, sie besitzt nicht ihre eigene menschliche Existenz. Körper und Geist dieser Person sind praktisch enteignet.
Und dann hat auch die Umgebung etwas von einer enteigneten Landschaft. Sie gehört den Bauern nicht, die dort ihr ganzes Leben verbracht haben. Aber wem gehört sie? Sie gehört auch nicht der Nation, weil es die Landreform gegeben hat.
Somit geht es im Wesentlichen um Enteignung.

Media-Mania.de: Arbeiten Sie gerade an einem neuen Buch, und wenn ja, dürfen wir erfahren, wovon es handelt?

Xiaolu Guo: Ja, ich arbeite an vielen Büchern und Filmen. Ich mache ja auch viele Filme. – Was die Bücher angeht, weiß ich nicht genau, welches von ihnen als Nächstes auf Deutsch veröffentlicht wird, weil ich auf Englisch und Chinesisch schreibe.
Im Januar erscheint ein Buch von mir in den englischsprachigen Ländern. Es ist eine Sammlung meiner Kurzgeschichten der letzten fünfzehn Jahre, und es heißt "Lovers in the Age of Indifference" [übersetzt: "Liebende im Zeitalter der Gleichgültigkeit", Anm. d. Red.]. Es enthält siebzehn Kurzgeschichten über Liebe und Sexualität. Ein schönes Buch, ich mag die Geschichten sehr. Ich glaube, es ist eine Akkumulierung meiner früheren Texte. Aber ich weiß nicht, wann es ins Deutsche übersetzt wird.

Media-Mania.de: Media-Mania.de bedankt sich für das Interview und wünscht Ihnen für die Zukunft alles Gute!

Das Interview wurde am 16.10.2009 auf der Frankfurter Buchmesse am Stand des Knaus Verlags von Regina Károlyi geführt.
Foto: Website der Autorin, mit mündlicher Genehmigung
Übersetzung des Interviews vom Englischen ins Deutsche: Regina Károlyi

Link zur Rezension bei Media-Mania.de
Geführt von Regina Károlyi am 15.10.2009