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"Das Maß der Gerechtigkeit": Im Gespräch mit Prof. Paul Kirchhof
Interview mit Paul Kirchhof
Media-Mania.de: Herr Professor Kirchhof, in Ihrem neu erschienen Buch befassen Sie sich mit einem sehr problematischen und komplexen Thema. Schon der Begriff "Gerechtigkeit" an sich wird ja ausgesprochen unterschiedlich ausgelegt – von einem Juristen wie Ihnen etwa durchaus anders als von den einzelnen Politikern oder vom "kleinen Mann auf der Straße".
Sie erwähnen bereits zu Beginn Ihres Buches, dass Menschen mit unterschiedlichen Voraussetzungen geboren werden – als Junge oder Mädchen, mit unterschiedlichen Talenten, mit oder ohne Behinderungen. Kann es denn Gerechtigkeit für alle geben, und wenn ja, wie ist diese zu definieren?


Paul Kirchhof: Gerechtigkeit ist ein großes Ziel, ähnlich wie die Gesundheit. Der Arzt wird niemandem die vollständige Gesundheit geben können, aber er weiß, was eine Krankheit ist, und er weiß, was ein Medikament ist. Und so dient er täglich in seinem Wirken der Gesundheit. So ähnlich ist es mit dem Recht und denen, die dem Recht dienen. Wir werden eine vollständig gerechte Ordnung nicht herstellen können.

Menschen sind verschieden und die Menschen werden in Freiheit ihre Verschiedenheit mehren. Der eine arbeitet Tag und Nacht und wird reich an Geld, und der andere philosophiert Tag und Nacht und wird reich an Gedanken. Setzen diese Menschen mit ihrer Lebenskonzeption ihre Biografie folgerichtig fort, wird die Schere der Verschiedenheit immer größer. Gerechtigkeit heißt also nicht Gleichheit, enthält nicht die Behauptung, alle Menschen seien gleich. Das würde die Pointe des Lebens verderben; denken wir an Mann und Frau. Gerechtigkeit heißt erstens, dass jeder Sicherheit, Frieden und ein Existenzminimum hat, um zu leben; zweitens, dass er sein Leben in Freiheit führen darf, dass er sein eigenes Glück definieren und verfolgen darf; drittens dass, wenn er für andere handelt und entscheidet, er Verantwortung trägt; viertens, dass dies nach verallgemeinerungsfähigen Maßstäben geschieht, und fünftens, dass für alles eine Kultur des Maßes gilt. Das sind unsere Medikamente.

Media-Mania.de: Nun bin ich Hessin, und hierzulande ist Bildungsgerechtigkeit ein großes Thema, also die Frage, ob wir alle Kinder möglichst lange zusammen zur Schule schicken sollen, oder ob dies den begabteren Schülern – und wohl auch den weniger begabten – gegenüber Ungerechtigkeit bedeutet, weil es keine optimale Förderung für den Einzelnen gibt.

Paul Kirchhof: Zunächst einmal muss man sich beharrlich bemühen, allen Menschen in Kindergarten und Grundschule so viel Bildung zu vermitteln, dass sie sich in unserem komplizierten und anspruchsvollen Leben sicher bewegen können, auch im Wirtschaftsleben mit Krediten und Verträgen, mit allgemeinen Geschäftsbedingungen.
Ich wirke in Hessen an einer Stiftung mit, die sich bemüht, bei den jungen Menschen, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind, eine Elementarbedingung der Sprache für alle gleich zu organisieren, damit sie Zugang finden zu der Kultur, in der sie ihre Biografie verbringen.
Wenn das gesichert ist – jeder hat den gleichen Frieden, jeder hat das gleiche kulturelle Existenzminimum, jeder hat die gleiche elementare Bildung -, dann werden die Menschen sich unterscheiden. Der eine wird Fußballspieler werden, der andere erfolgreicher Geschäftsmann, der andere wird Künstler, Arzt oder Jurist. Wenn wir das nicht erlauben, wird das Leben gänzlich unerträglich.
Das Kind muss sich in seinen Neigungen und damit seinen Begabungen entfalten können in der Vielfalt, die dieses Leben bietet. Wir dürfen nicht einen Weg, den wir vielleicht übereinstimmend als den glanzvollsten definieren, den zum Nobelpreisträger, jedem aufdrängen, wenn er ihm nicht gemäß ist. Differenzierung, das Eingehen auf die Individualität, das Heben der besonderen Fähigkeiten jedes Menschen und nicht die Erfolgsgleichheit erschließen den Weg zur Gerechtigkeit.
Wenn wir heute alle Menschen mit zehntausend Euro ausstatten, sie in die Freiheit entlassen und uns nach acht Tagen wieder treffen würden, hätte der eine die zehntausend Euro verprasst, der andere hätte sie vorsichtig angelegt, er hätte jetzt mehr als zehntausend Euro; der dritte ist ein cleverer Geschäftsmann, der hätte fünfzehntausend; der vierte ist Spekulant und hätte entweder zwanzigtausend oder null. Jeder wird in Freiheit seine gleiche Ausgangslage zu einem verschiedenen Ergebnis bringen.
Wer diese Verschiedenheit nicht erträgt, akzeptiert die Freiheit nicht.

Media-Mania.de: Sie befassen sich viel mit dem Begriff der Freiheit, der in einer Demokratie natürlich mit der Gerechtigkeit in einem engen Zusammenhang steht. Die Freiheit des einen hört, wie Sie sinngemäß schreiben, dort auf, wo sie die Freiheit des anderen einschränkt. In Bezug auf Freiheit gehen Bürgerwünsche auseinander. Wenn zum Beispiel die einen klagen, der Staat verstoße gegen seine Verpflichtung, ihnen Sicherheit zu garantieren, sehen die anderen in entsprechenden Maßnahmen einen Angriff auf ihre Freiheit, etwa hinsichtlich einer Videoüberwachung von öffentlichen Plätzen wie Bahnhöfen. Lassen sich Freiheit und Gerechtigkeit ohne Weiteres unter einen Hut bringen?

Paul Kirchhof: Freiheit ist eine Bedingung der Gerechtigkeit. Sie hat natürlich eine Voraussetzung: den inneren Frieden. Wenn wir einen Bürgerkrieg hätten, wäre es mit der Freiheit nicht weit her. Und deshalb muss der Staat, der in der Verfassung, im Grundgesetz verspricht, er werde seinen Bürgern Freiheit garantieren, als Allererstes den Frieden garantieren. Das meint den auswärtigen Frieden, das meint aber auch den inneren Frieden.
Auf meinem Grundstück darf ich mich bewegen, wie ich will. Aber an der Grenze zum Nachbarn endet meine Freiheit, und die des Nachbarn beginnt. Das gehört zum Friedensprinzip. Und das heißt, wir brauchen eine Akzeptanz des Rechts; die Menschen müssen das Recht als ein Teil der Friedensordnung anerkennen, auch wenn dieses Recht sie nicht immer berechtigt, sondern auch verpflichtet.
Die Verfassung garantiert nicht Freiheit, sondern sie garantiert Freiheitsrechte. Und Rechte sind immer definiert, also begrenzt.

Media-Mania.de: Der Titel "Das Maß der Gerechtigkeit" veranlasst zu der Frage, was mit "Maß" gemeint sei: das Ausmaß der Gerechtigkeit im Lande, ob bestehend oder anzustreben, oder ein Messinstrument, eine Art Lineal, mit dem sich Gerechtigkeit bemessen und vielleicht austeilen lässt.

Paul Kirchhof: Ich meinte mehr die Mäßigung. Denken wir an unseren Finanzmarkt, der uns aus dem Ruder gelaufen ist. Da ging es darum, die Gewinne immer mehr zu maximieren. Wer hundert hatte, wollte tausend, wer tausend hatte, wollte eine Million, wer eine Million hatte, wollte eine Milliarde. Es konnte gar nicht genug sein. Und Verteilung zugunsten des Einen geht immer zulasten des Anderen – nur einer kann den Euro haben. Oder wenn wir das Glas hier vor uns auf dem Tisch nehmen: Sie haben es, oder ich habe es. Wenn der Eine immer nur Geld anhäuft, hat der Andere immer weniger, und deswegen brauchen wir auch in einem Wirtschaftssystem, das auf die Eigeninitiative und den eigenen Vorteil setzt, eine Kultur des Maßes, die sagt: Bis hierher und nicht weiter.
Ich habe bisher im Wirtschaftsleben noch keinen Menschen bei der Gewinnmaximierung erlebt, der meinte: "Und jetzt reicht's."

Media-Mania.de: An wen richtet sich die Aufforderung im Untertitel: "Bringt unser Land wieder ins Gleichgewicht!"?

Paul Kirchhof: An die Bürger. Das ist der entscheidende Punkt eines freiheitlichen Staates. Der Staat gibt das Geschick der Gemeinschaft in die Hand der freien Bürger.
Wir haben die Berufsfreiheit und die Eigentümerfreiheit. Es kann sich also jeder im Wirtschaftsleben anstrengen und am Wettbewerb beteiligen, er kann aber auch, das ist sein gutes Recht, wie Diogenes in der Tonne leben, sich nicht am Erwerbsleben beteiligen. Wenn aber alle sich wie Diogenes benehmen würden, würde unser System an seiner eigenen Freiheitlichkeit zugrunde gehen.
Der freie Bürger muss in der Bereitschaft und Kraft zur Freiheit diesen Staat erneuern. Es geht um Geben und Nehmen. Man darf nicht fragen: "Du, Staat, was gibst du mir?" Denn der Staat kann ja nur geben, was er vorher steuerlich genommen hat.
Oder nehmen wir das Beispiel der Ehe und Familie. Natürlich muss keiner ein Kind haben, das ist seine Freiheit. Aber wenn die Mehrzahl der Menschen sich gegen das Kind entscheiden würde, hätten wir keine Zukunft mehr. Die Bürger müssen ihr Schicksal in die Hand nehmen und sich erneuern. Und wenn sie das nicht tun, wird dieser Staat so weitermachen und damit langsam untergehen.
Wir haben ein beachtliches Problem mit der Kraft und der Bereitschaft zur Freiheit.

Media-Mania.de: In Deutschland ist es ja nun in der Tat üblich, dass die Menschen fragen: "Was kann der Staat für mich tun; was muss der Staat für mich tun?" und keineswegs umgekehrt. In Ländern wie China, die wesentlich weniger freiheitlich ausgerichtet sind, sehen die Menschen das von sich aus – ich glaube, das ist nicht einmal Zwang – eher umgekehrt.

Paul Kirchhof: Wir haben ein gefährliches System. Der Bürger erwartet etwas vom Staat, Recht, aber vor allem auch Geld. Dann verfestigt er durch Verbands- und Lobbyisten-Initiativen seine Ansprüche – er gewinnt einen Anspruch darauf, in die Staatskasse greifen zu dürfen aufgrund von Steuervergünstigungen oder Subventionen.
Dann sagen ihm die Verbände, dass das, was er erhält, zu wenig sei, es könne mehr sein. So bekommt er viel Geld vom Staat und ist trotzdem nicht zufrieden, weil es ja mehr sein könnte. Dieses System entsolidarisiert. Deshalb müssen wir die Kultur des Maßes pflegen – mein Thema: Alles hat sein Maß.
Die staatlichen Geldleistungen haben ihr Maß in der Belastbarkeit der Steuerpflichtigen. Denn jede Erhöhung eines Leistungsanspruchs bedeutet eine Erhöhung der Steuer.

Media-Mania.de: Das heißt also, in China beispielsweise bekommt man wenig und erwartet deshalb auch wenig.

Paul Kirchhof: Dort bezahlen die Menschen wenig Steuern, während man bei uns viel erwartet und deshalb hohe Steuern bezahlt. Man könnte den Staat auch ein bisschen schlanker machen. Dann werden wir sehen, dass er uns Anreize gegeben hat durch Steuerverschonung, in die Schiffe, in die Filme, in die Schrottimmobilien zu investieren, dass er Anreize schafft, ökonomische Torheiten zu begehen, Kapital zu verbrennen. Da müssen wir uns wirklich die Frage stellen, ob wir so reich sind, dass wir uns diese Fehlleitung von Kapital auf Dauer leisten können.

Media-Mania.de: Sie fordern im Kapitel "Wettbewerb" unter anderem, dass sich alle Parteien vor einer Wahl verbindlich auf Koalitionspartner festlegen für den Fall, dass sie nicht die absolute Mehrheit erringen. So könne der Wähler mögliche unliebsame Koalitionen vermeiden, und dem Wählerwillen werde eher entsprochen als nach der aktuellen Praxis. Das klingt sinnvoll, zumal ein nicht unbeträchtlicher Anteil der Wähler Erst- und Zweitstimme strategisch vergibt. Das hat auch die Bundestagswahl 2009 gezeigt.
Was ist aber mit Wählern, die eine kleine oder vielleicht auch große Partei wählen, um deren politischen Beitrag grundsätzlich in einer Regierung zu sehen, egal, mit welchen Partnern? Dort könnte sie ja definitiv mehr erreichen als in jeder beliebig zusammengesetzten Opposition. Eine Festlegung auf einen bestimmten Partner auf Gedeih und Verderb vor der Wahl würde solchen Wählern nicht entgegenkommen. Und würde die Parteienlandschaft auf diese Weise nicht auch aufgrund des Beschnitts der Flexibilität inhaltlich verarmen?


Paul Kirchhof: Ich meine, wir würden reicher werden, weil der Wähler ja entscheiden soll unter personellen und programmatischen Alternativen, die er kennt. Und er soll mit seinem Kreuzchen in der Kabine entscheiden, wer in Zukunft die Politik macht. Das nennen wir im Verfassungsrecht – es handelt sich um eine Garantie des Art. 38 Absatz 1 – die Unmittelbarkeit der Wahl.
Das Wahlergebnis bedarf also keiner Vermittlung mehr durch Wahlmänner oder Koalitionsverhandlungen nach der Wahl, sondern der Wähler macht ein Kreuzchen in der Kabine, und dann ist unmittelbar, unvermittelt festgelegt, wer die Mehrheit hat und wer regiert. Gegenwärtig ist das so: Der Wähler wählt die Partei, am Wahlabend erklärt sich eine zum Sieger – nicht unbedingt die mit den meisten Stimmen und erklärt: "Ich bin nach allen Seiten hin offen, wir werden verhandeln" -, und nach vier Wochen wird dem staunenden Wahlvolk verkündet, wer gewonnen hat.
Ich habe im Buch die Parallele zum Sport verwendet: ein Ruderwettbewerb, Zweier ohne Steuermann. Das erste Boot ist schwarz-gelb angestrichen, das zweite rot-grün, fünf weitere im Rennen. Und jetzt gewinnt Schwarz-Gelb ganz knapp, mit einem Schlag vor Rot-Grün. Die Sieger jubeln: "Wir haben das Rennen gewonnen, wir erhalten die Goldmedaille." Und nun erklärt – wir befinden uns im Jahr 2005 – die Rennleitung den ersten Ruderer aus Boot 1 und den ersten Ruderer aus Boot 2 zum Sieger, also einen Schwarzen und einen Roten. Da sagen die Leute: "Das ist ungerecht, die waren doch gar nicht im selben Boot. Die sind doch gar nicht miteinander angetreten und können nicht der Sieger sein."
Ich meine, wir müssen dem Wähler gerade in unserer sehr stark von den Parteien geprägten demokratischen Wirklichkeit sagen, wer in Zukunft mit wem welches Programm verwirklichen will. Das gilt gegenwärtig besonders für die Frage der Steuern. Die Parteien, die FDP ganz deutlich, wollen ein neues Steuerrecht, und ich bin überzeugt, die machen das auch. Aber es wäre natürlich besser, wenn man vor der Wahl die Koalitionsverhandlungen geführt hätte. Dann hätte man dem Wähler sagen können: So weit kann man gehen, für anderes fehlt das Geld, oder das wollen wir nicht.
Dann hätte der Wähler erwidern können: "Lohnt sich das? Gibt es eine Riesenreform, wähle ich euch – gibt es eine kleine Reform, wähle ich euch nicht." Wir stärken damit die Kraft des Wählers, besonders heute, wo die kleinen Lobbyistengruppen gut organisiert, artikulationsfähig und sehr stark sind und der kleine Wähler sehr schwach. Wir müssen die Demokratie wieder auf das Wählervotum zurückführen.

Media-Mania.de: Sehr zu Recht, wie die aktuelle Wirtschaftskrise zeigt, kritisieren Sie den undurchsichtigen Finanzmarkt, auf dem niemand mehr Verantwortung übernimmt, und der nur noch der Bereicherung dient. Könnte aber eine entsprechende Änderung der Gesetze oder auch ein Umdenken in Deutschland einen verantwortungsbewussteren Umgang mit Kapitalanlagen bewirken, wenn wir doch in die globale Wirtschaft eingebunden sind?

Paul Kirchhof: Wir sind natürlich – das ist ein systemisches Problem – im nationalen Recht gebunden und können einen echten Wettbewerb weltweit nur durch ein gemeinsames Recht erreichen. Aber jeder macht die Hausaufgaben vor seiner Haustür, und wenn wir etwa die Regel hätten, dass jeder wirtschaftliche Akteur durch Haftung für die Fehler einstehen muss, die er begangen hat, dann hätten wir ein transparenteres System.
Wir müssten verfahren wie in der christlichen Seefahrt: Da weiß der Kapitän, wenn er sein Schiff auf Sand setzt, geht er als Letzter von Bord. Erst die Frauen und Kinder, dann die Männer, dann die Matrosen, dann er. Und weil er das weiß, steuert er sein Schiff vorsichtig durch die Wellen der Meere. Wir haben praktisch keine Havarien, weil der Kapitän weiß, dass es ihm an den Kragen geht, wenn er diesen Fehler macht. So müssten wir es im Wirtschaftsrecht auch machen.
Wenn jemand Geld in deutschen Fonds anlegt, schickt der Fondsmanager das Geld irgendwohin; ob damit Waffen oder Weizen produziert werden, ist völlig unerheblich. Die Rendite zählt. Nach hoffentlich zukünftigem deutschen Recht muss der Anleger unterschreiben, dass er sein Geld mit der Ernährung der Menschen verdienen will – oder mit Krieg. Und wenn er sagt, mit Krieg, haftet er für den Schaden, den der Krieg anrichtet.
Wir haben kein Problem mit einem Sozialismus, sondern mit der Anonymisierung, weil niemand mehr weiß, wer wofür verantwortlich ist. Deshalb braucht niemand zu haften. Wenn eine Bank ein Paket empfiehlt, sollte sie zwanzig Prozent dieses Pakets kaufen müssen. Wenn die Rating-Agentur ein Finanzprodukt hochwertig einstuft und es ist nachher Schrott, dann wissen wir zwar, das Geschäft enthält ein spekulatives Element, aber einen Teil des Verlustes muss die Rating-Agentur, wenn sie empfiehlt, auch tragen. Sie kann die Empfehlung weglassen, dann ist es Spiel und Wette.
Hier wiederholt sich das vorhin angesprochene Problem: Wenn ich eine Ware kaufe, ein Auto gegen Geld, dann ist die Rationalität dieses Vertrages, dass hier ein rares Gut und dort zu wenig Geld verfügbar ist. Deshalb achtet der Käufer darauf, dass er für seine dreißigtausend ein gutes Auto bekommt, und der Verkäufer weiß, dass er das Auto nur einmal verkaufen kann, und passt auf, dass er einen guten Preis erzielt. Das ist im System eines funktionierenden Marktes angelegt.
Wer Hoffnungen kauft, Spekulationen, kann diese beliebig steigern von hundert auf tausend und von tausend auf eine Million. Deshalb müssen wir diesen Finanzmarkt so organisieren, dass alle Beteiligten, die verkaufende und die kaufende Bank, die Rating-Agentur, der Versicherer und der Rückversicherer, einstehen müssen für das, was sie sagen.
Der Markt ist nicht das Problem, der ist in Ordnung. Die Fehlentwicklung des Marktes durch Systeme, die eigentlich mit der Idee des Marktes nichts zu tun haben, gefährden die Wirtschaft.

Media-Mania.de: Sie fordern nicht erst in "Das Maß der Gerechtigkeit" ein für Jedermann verständliches Steuerrecht. Vereinzelt haben dies in den letzten Jahren auch Spitzenpolitiker aufs Tapet gebracht – ohne Erfolg. Warum klammert sich die Politik an einem komplizierten, aufgeblähten Steuerrecht fest, das kein fachfremder Steuerzahler begreifen kann?

Paul Kirchhof: Nicht einmal der Fachkundige begreift es ganz. Das ist eigentlich ein erstaunliches Phänomen. Der Reformer, der das hinbekommt, ist bei der nächsten Wahl unschlagbar. Die Menschen sehnen sich nach einem Steuerrecht, das sie selber verstehen, erklären und mit der Unterschrift ihres guten Namens bestätigen können, das ihnen erklärt, warum sie selbst so viel bezahlen müssen und der Konkurrent so wenig, und mit dem sie nicht so viel Kraft vergeuden müssen, etwa der Unternehmer, der bei einem neuen Vorhaben erst seinen Steuerberater fragt, der ihm wiederum erläutert, wie er sich verbiegen muss, um etwas steuerschonend umsetzen zu können. Das Steuerrecht verfremdet unternehmerische Initiative, Elan, Unbeschwertheit.
Dann brauchen wir ein vereinfachtes Steuerrecht, weil der Bürger nur das Recht, das er begreift, als gerecht versteht. Ich staune immer über das Phänomen, dass es Menschen gibt, die wirtschaftlich sehr erfolgreich sind, die ihr Leben ökonomisch bequem einrichten können und wollen und nie einen Banküberfall machen würden, weil sich das nicht gehört, die aber bereit sind zur Steuerhinterziehung.
Wenn ein Unternehmer sich bei der Wahl der Unternehmensform auf die Empfehlung des Steuerberaters verlässt, weil er Steuern sparen möchte, das Steuerrecht jedoch nicht verstehen kann und somit sein Handeln nicht mit seiner Ratio begleitet, gefährdet er im Grunde die Freiheit. Freiheit meint, dass ich mein Handeln selbst verantworte. Ich kann spekulieren, beim Toto oder wenn ich mit einer Million in eine bestimmte Abteilung der Bank gehe – dann habe ich am nächsten Tag zwei Millionen oder null. Das ist meine Freiheit, aber es muss bewusst, gewollt, rational sein. Im Steuerrecht aber mache ich ein Spiel, das ich nicht verstehe, obwohl ich es verstehen sollte und gern verstehen möchte. Deshalb müssen wir ein einfacheres Steuerrecht haben.

Media-Mania.de: Unter Ihren zahlreichen, interessanten Lösungsvorschlägen findet man auch ein "Mindestgeld" für alle: € 800 für Erwachsene, € 500 für Kinder sowie € 800 plus maximal € 600 für Rentner. Was unterscheidet Ihr Konzept vom viel diskutierten "Bürgergeld", und inwiefern steht es für mehr Gerechtigkeit?

Paul Kirchhof: Es kommt dem Bürgergeld sehr nahe, und wenn das Bürgergeld käme, wäre ich auch einverstanden. – Es geht darum, dass wir auch hier einfache Wertungen haben, die jedermann einleuchten, wie im Steuerrecht, wenn dieses hoffentlich in Zukunft vorsieht: Jeder, der erfolgreich war, muss nach Freibeträgen ein Viertel an den Staat geben und darf drei Viertel für sich behalten. Dann entsteht ein Rechtsbewusstsein. Der ehrbare Kaufmann, der redliche Bürger weiß: Ein Viertel gehört dem Staat, drei Viertel gehören mir. Und wer diese Regel nicht befolgt, ist kein anständiger Mensch.
Im Sozialrecht haben wir teilweise in derselben Sache siebzehn Rechtstitel, die zu Geldforderungen berechtigen. Und die Armen, die die deutsche Sprache nicht ausreichend verstehen, die ein Formular nicht ausfüllen können, für die die Bürde zu hoch ist, in eine Behörde zu gehen, die holen ihr Recht nicht ab. Deshalb ist auch hier die Einfachheit das Wichtigste.
Wer ein Kind hat, dieser Tatbestand lässt sich relativ einfach feststellen (schmunzelt), bekommt achthundert Euro oder fünfhundert, was der Staat eben zur Verfügung hat. Dann weiß jeder: Diesem Staat sind die Kinder achthundert Euro wert. Und wenn einer dann selbst verdient, werden diese achthundert Euro von den Steuern aufgesogen.
Das Geld für die Armen wird auch vom Finanzamt ausgezahlt, damit Geben und Nehmen in einer Behörde sichtbar ist. Das ist, glaube ich, ein in sich stimmiges, das einfache Einkommenssteuerrecht auf der Leistungsseite flankierendes System. Auch hier ist Einfachheit die Bedingung der Gerechtigkeit.

Media-Mania.de: Bitte listen Sie kurz Ihre wichtigsten Vorschläge für ein akzeptables Maß an Gerechtigkeit in Deutschland auf.

Paul Kirchhof: Erstens: Wir brauchen ein völlig vereinfachtes Steuerrecht – wir müssen aus den rund fünfzigtausend Paragraphen vierhundert machen, aus den zweiunddreißig Steuern vier; wir müssen ein Steuerrecht schreiben, das jeder Bürger als eigenes versteht. Zweitens: Wir müssen im Sozialversicherungssystem, insbesondere bei der Gesundheit und bei der Rente, dieses System so durchsichtig machen, dass der Bürger wieder weiß, was geschieht.
Wir könnten die Gesundheitsversicherung so organisieren wie die Kfz-Versicherung, die Leib und Leben im Fall eines Unfalls versichert. Jeder muss sich versichern, damit der Staat die Garantie hat, jeder sorgt eigenverantwortlich für den Krisenfall vor. Aber wo er sich versichert, das kann er selber wählen. Dies hat den großen Vorteil, dass der Bürger erst bezahlen muss, somit weiß, was der Arzt kostet, und den Aufwand erst nachher erstattet bekommt.

Media-Mania.de: Also ähnlich wie bei den privaten Krankenversicherungen.

Paul Kirchhof: Ja. Eine Ausnahme wären natürlich große Notfälle, Operationen – aber der Normalfall wäre, dass der Patient bezahlt und sich das Geld nachher wieder holt. Jetzt haben wir den Fall, dass der Patient kommt und sagt: "Für mich ist das Beste gerade gut genug", und der Arzt meint: "Genau so habe ich auch gedacht." Und das erhöht permanent die Kosten, da macht man Mehrfachuntersuchungen, Mehrfacherhebungen, kauft die Ferienapotheke, die viel Geld kostet und niemand braucht.

Wir müssen im Finanzmarkt eine Kultur des Maßes, der Verantwortlichkeit einführen: Jeder steht für das ein, was er tut, sonst kann er keine Gewinne machen; er steht auch für die Verluste ein, die er anderen zugefügt hat. Wir sehen, dass einer gesund geboren wird und der andere behindert, eine große Frage der Gerechtigkeit. Den Behinderten können wir nicht gesund machen, aber wir können ihm Lebensbedingungen schaffen, die ihn die Behinderung nicht so sehr spüren lassen. Wir können ihn heilen, soweit Heilung möglich ist.
Wir müssen das staatliche Leben sichtbar, erfahrbar, transparent machen, das heißt, das Parlament muss öffentlich verhandeln und so wenige Normen erlassen, dass der Bürger sie verstehen kann. In meinem Buch habe ich eine Faustregel aufgestellt: Es darf nur so viele Paragraphen geben, wie der jeweils zuständige Ministerialrat aktiv im Gedächtnis behalten kann. Der kluge Kopf des Ministerialrats als Mengentrichter für Recht.
Im Recht gilt dasselbe wie beim Geld: Zu viel macht Inflation, mindert den Wert. Wir müssen im Generationenvertrag dafür sorgen, dass die Gegenwart ihre Lasten selber trägt: keine Verschuldung, keine Umweltverschmutzung, mehr Bildung für unsere Kinder. Der Generationenvertrag ist eines der zentralen Anliegen dieses Buches.
Und dann für die abstrakte Definition der Gerechtigkeit: Erstens: Du darfst den Anderen nicht schädigen. Zweitens: Du hast ein Recht auf die Freiheit, dein Glück selber zu suchen. Drittens: Wer für andere handelt, muss am Maßstab des Rechts verantwortlich handeln. Viertens: Dieser Maßstab muss verallgemeinerungsfähig sein – kategorischer Imperativ. Fünftens: Es gilt eine Kultur des Maßes.
Diese fünf Gerechtigkeitskriterien sind unverzichtbar. Wenn wirklich jeder nur für sich sorgt – Eigennutz, wird die Addition der Eigennütze keineswegs zum Gemeinwohl. Adam Smith hat mit der "unsichtbaren Hand" nie gesagt, dass die Marktsysteme Gerechtigkeit organisieren. Er erklärt die "unsichtbare Hand" an einem Beispiel aus der Landwirtschaft: Ein Großgrundbesitzer produziert eine Riesenmenge Korn, und mit der Phantasie der Gier stellt er sich vor, er würde alles Korn selber konsumieren. Aber die Begrenztheit seines Magens zeigt ihm, dass er das nicht kann, und so produziert er für andere und verdient damit sein Geld.
Das ist das Geheimnis des Marktes: Wenn ich am Markt erfolgreich bin, bin ich beim Kunden erfolgreich, diene dem anderen. "Die unsichtbare Hand" meint, dass sich der Markt durch die Befriedigung der Kundenwünsche bewährt – durch "trial and error", Versuch und Irrtum. Der Anbieter versucht immer das Beste für den Kunden. Die alleinige Anerkennung ist die Honorierung durch den Kunden. Diese Form erleichtert eine Gerechtigkeit.
Wir müssen, das wäre der letzte Punkt, eine Organisation des Vertrauens schaffen. Heute fuhr ich mit der Bahn von Heidelberg hierher im Vertrauen darauf, dass der Zugführer mich nach Frankfurt bringt, ohne Unfall. Dann bin ich vom Bahnhof hierher gelaufen im Vertrauen auf die öffentliche Sicherheit in Frankfurt.
Ich habe mir hier ein Getränk gekauft, und da ist etwas ganz Erstaunliches passiert: Ich habe dort ein Stück Papier auf den Tisch gelegt, das weniger als einen Cent wert ist, auf dem aber "20 Euro" geschrieben steht. Doch mein Vertragspartner hat das als einen Wert akzeptiert und mir 17 Euro wieder ausgezahlt. Ein kaum glaubliches Phänomen: Ich gebe etwas, das eigentlich wertlos ist, aber die Gesellschaft baut auf ein Einlösungsvertrauen.
Wie viel einer hat, ist nicht so wichtig. Doch dieses Vertrauen in das Geld, in den Generationenvertrag, in den Frieden, in die eigene Kraft zur Freiheit, das müssen wir kultivieren. Wenn das nicht gelingt, auch hinsichtlich der Bereitschaft zum Kind, dann hat diese Gesellschaft keine Zukunft.

Media-Mania.de: Ihr Buch vermag auch dem Laien einen Eindruck von Sinn und Schönheit des Rechts zu geben. Sie präsentieren sich darin als Vollblutjurist mit sehr viel politischem und wirtschaftlichem Sachverstand, Bodenhaftung und reichlich Überzeugungskraft, weshalb sich die folgende Abschlussfrage aufdrängt: Werden Sie, wenn es sich ergeben sollte, wieder unmittelbar die politische Bühne betreten?

Paul Kirchhof: Ich werde der Politik, wenn es gewünscht wird, mit Rat und Tat zur Seite stehen; ich werde, wenn es gewünscht wird, Gesetzesentwürfe schreiben; ich werde in allen Gremien, die seriös diskutieren und nachdenken, als Gesprächspartner zur Verfügung stehen. Aber ich strebe kein Amt an, weil ich ein schönes Amt habe: Ich bin der Professor in Heidelberg (schmunzelt).

Media-Mania.de: Media-Mania.de bedankt sich für das Interview und wünscht Ihnen für die Zukunft alles Gute und weiterhin viel Erfolg.

Das Interview wurde am 16.10.2009 auf der Frankfurter Buchmesse am Stand des Verlags Droemer Knaur von Regina Károlyi geführt.

Link zur Rezension zum Buch bei Media-Mania.de
Geführt von Regina Károlyi am 15.10.2009