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 Carmen


Cover
Gesamt +++++
Anspruch
Aufmachung
Brutalität
Gefühl
Preis - Leistungs - Verhältnis
Spannung


Der "Carmen"-Stoff ist in Gestalt von Georges Bizets Oper ungleich berühmter geworden als die ursprüngliche Novelle von Prosper Mérimée. Die Personen freilich und weite Teile der Handlung stimmen überein.
In der Novelle begegnet der Ich-Erzähler, ein reisender Wissenschaftler, in Andalusien unter recht abenteuerlichen Umständen dem berüchtigten Räuber José, und die beiden so unterschiedlichen Männer reisen einvernehmlich ein Weilchen miteinander. Einige Zeit nachdem sich ihre Wege wieder getrennt haben, lernt der Erzähler in Cordova eine verführerische junge Zigeunerin (der Begriff wird aus der Novelle übernommen) kennen, die ihn mit in ihre Unterkunft nimmt. Doch kurz darauf trifft ausgerechnet des Erzählers Reisebekanntschaft José dort ein und nötigt den Wissenschaftler hinaus. Dieser bemerkt, dass ihm die junge Frau seine wertvolle Uhr gestohlen haben muss, doch er ist so verhext von ihr und dem seltsamen Zusammentreffen zu dritt, dass er der Sache nicht nachgeht. Monate später kommt er wieder nach Cordova, erfährt, dass José verhaftet und zum Tode verurteilt wurde, und erhält seine Uhr zurück. Er besucht José im Gefängnis, und dieser erzählt ihm seine unglückliche Geschichte.
Im Baskenland geboren, ist José zur Armee gegangen, doch Andalusien bleibt ihm fremd. Als er ein aufrührerisches Zigeunermädchen namens Carmen inhaftieren soll, das in einer Streitigkeit unter Arbeiterinnen einer Zigarrenfabrik eine Kollegin mit dem Messer entstellt hat, verliebt er sich hoffnungslos in die Delinquentin und verhilft ihr zur Flucht. Er wird mit Arrest und Degradierung bestraft. Carmen zeigt sich auf ihre Weise erkenntlich, und José verliert jede Chance, aus seiner totalen Hörigkeit zu entfliehen.
Er wird aus Eifersucht zum Mörder. Um bei Carmen zu sein, schließt er sich ihrem Zigeunertrupp an und betätigt sich als Räuber und Schmuggler. Doch die launische Carmen möchte ihre Freiheit nicht von ihm beschneiden lassen; sie provoziert ihn sogar bewusst mit immer neuen Liebschaften. Als José diese Lage unerträglich wird, kommt es zu einer Tragödie, die Carmen längst vorausgesehen hat.

Anders als der weichliche José aus Bizets Oper tritt Mérimées Protagonist durchaus soldatisch-männlich und sympathisch auf; seine einzige Schwäche, die freilich in der Folge sein Leben völlig zerstört, ist die Hörigkeit Carmen gegenüber, die ihn sogar davor gewarnt hat, sich in sie zu verlieben.
Prosper Mérimée gelingt es meisterhaft, die zwei Seiten seiner unwiderstehlichen Verführerin darzustellen: das heitere, geradezu alberne und leichtfertige Mädchen und die teuflische, kalte, berechnende Frau, die mit ihren Liebharbern mühelos spielt und ihnen alles abverlangen kann. Einerseits bleibt ihre dämonische Natur rätselhaft, ebenso wie ihre Fähigkeit, Männer zu behexen - Mérimée beschreibt auch ihr Äußeres als keineswegs makellos, aber im Zusammenspiel von Schön und Unschön faszinierend -, andererseits begreift der Leser, dass ihr ganzes Handeln und Fühlen auf einem unbändigen, ungebärdigen Freiheitsdrang basiert, der ihr weit über jede Liebe, sogar über das eigene Leben geht. Je fester José sie an sich binden will, desto entschiedener, skrupelloser und zorniger verficht sie diese Freiheit.
Fast schon seltsam nüchtern erzählt Mérimée vom Weg des ungleichen Paares in die offensichtlich unvermeidbare Katastrophe, aber gerade dieser sachliche, zurückhaltende Stil und die im Gegensatz hierzu sehr plastisch gezeichneten, immer wieder gefühlsstark agierenden Protagonisten geben dem Leser viel Interpretationsspielraum.
Bis zum Wendepunkt hin, den Mord aus Eifersucht an einem Leutnant seines Regiments, scheint die Geschichte noch offen zu sein. Danach verdichtet sich die Erzählung, das Verhängnis deutet sich mehr und mehr an und wird schließlich unabwendbar.
Der sich an die eigentliche Novelle anschließende Essay von Marie Luise Kaschnitz beleuchtet einerseits die Unterschiede zwischen der berühmten romantischen Oper und der sich ihr gegenüber geradezu kühl ausnehmenden Novelle, andererseits erläutert er die wunderbare Komposition von Charakteren und Handlung in Prosper Mérimées Werk, das dadurch dem von der "leichteren" Oper Geprägten besser verständlich wird, und das man möglicherweise nach der (vielleicht sogar mehrfachen) Lektüre mehr schätzen wird als die publikumswirksame Aufbereitung fürs Musiktheater.
So kann das Fazit nur lauten: ein lohnender Klassiker, ein wahres Stück Weltliteratur, im Grunde eine Miniatur, doch mit enormem Gehalt; vortrefflich übersetzt und dank dem angefügten Essay für den modernen Leser gut zugänglich.

Regina Károlyi



Taschenbuch | Erschienen: 01. Juli 2008 | ISBN: 9783257237702 | Preis: 6,90 Euro | 127 Seiten | Sprache: Deutsch

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