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 Fliegende Koffer


Cover
Gesamt +++++
Anspruch
Aufmachung
Brutalität
Gefühl
Humor
Preis - Leistungs - Verhältnis
Spannung


So hatte sich Annette, eine Frau Mitte vierzig, ihr Leben eigentlich nicht vorgestellt. Tanzen wollte sie, Gedichte schreiben, einen kreativen, erfüllenden Job haben - und jetzt arbeitet sie im Sicherheitsbereich eines großen Flughafens, scannt Tag für Tag Unmengen von Gepäck nach verdächtigen Gegenständen, tastet Leute ab, bittet sie, ihre Taschen zu öffnen, wird dafür angeschnauzt. Die langen Tage im Schichtdienst nehmen kein Ende, es ist eine endlose Reihe von Anfeindungen, langweiligen Stunden, von Koffern, Taschen, Tüten, es raubt Annette alle Kraft.
Ihre Kollegen sind nett, aber allesamt gescheiterte Existenzen, die auch ganz andere Lebenspläne hatten. Während eine Kollegin nachts als Tabledancerin etwas dazuverdient, ist eine andere mit dem Herzen in Afrika geblieben, wo sie als Entwicklungshelferin gearbeitet hat, sie findet sich in Deutschland nicht mehr zurecht. Andere waren Augenoptiker oder Stabsoffizierin, haben aber nach der Entlassung keinen neuen Job mehr gefunden. So unterwerfen sie sich furchtbaren Arbeitszeiten bei schlechtester Bezahlung, Schikanen, hässlichen Polyester-Uniformen und dem Unverständnis der ungeduldigen Flugreisenden.

Doch dann trifft Annette völlig überraschend Simon wieder, ihre große Liebe. Er hatte sie vor zehn Jahren verlassen, um eine Familie zu gründen. Nun ist Simon nach einer Scheidung wieder Single, und Annette ist zunächst überglücklich, ihn endlich für sich zu haben. Aber je öfter sie sich treffen, umso mehr muss sie sich eingestehen, dass etwas mit Simon nicht stimmt. Er leidet unter starken Stimmungsschwankungen, ist in der einen Minute aggressiv und gemein zu ihr und in der nächsten wieder die Liebenswürdigkeit in Person ...

In "Fliegende Koffer" wirft die Autorin Annegret Held einen spannenden, zu Herzen gehenden Blick in ein Berufsfeld, mit dem man meistens nur als Außenstehender in Berührung kommt. Der Mikrokosmos der Flughafen-Sicherheitskontrollen ist es, der hier eindringlich und sehr beklemmend geschildert wird. Schon bei den ersten Sätzen auf der allerersten Seite des Romans wird deutlich: Es ist ein Höllenjob, den Annette da macht. Doch es gibt auch Momente von überragender Schönheit, von Intimität und Glück, wenn Annette sich in die Fluggäste hineinversetzt, Trost und ein paar nette Worte für die Verirrten und Erschöpften übrig hat. Hauptsächlich aber spricht aus den Sätzen Trostlosigkeit, stupide Routine und Erschöpfung. Dazu bedient sich Annegret Held langer, ja endlos langer Sätze, die uns direkt in Annettes Gedanken- und Seelenleben hineinversetzen und uns bald ebenso rastlos und erschöpft werden lassen wie die Protagonistin. Sehr gekonnt jongliert die Autorin mit diesen Satzmonstern - sprachlich ein wirklich ausgezeichneter Roman!

Als Simon in Annettes Leben tritt, glaubt man als Leser zunächst an eine Besserung, eine Erlösung von Stress und mieser Bezahlung, doch es kommt anders: Quälend beschreibt die Autorin die Zusammentreffen von Annette und Simon, die sich zunächst vorsichtig aneinander herantasten nach zehn Jahren der Trennung - bis dann klar wird, dass Simon nicht ganz richtig im Kopf ist. Trotz des bedrückenden Themas ist "Fliegende Koffer" aber auch unglaublich witzig, skurril, voller Situationskomik und herzerwärmender Szenen. Das Buch macht regelrecht süchtig, man kann nicht aufhören zu lesen, was auch daran liegt, dass man hier Einblicke in einen Bereich bekommt, der mit einem Hauch von Geheimnis und großer weiter Welt umgeben ist.

Ein wunderbares, durch und durch menschliches, aber auch trauriges Buch über gescheiterte Lebensentwürfe, über die Leute, die man häufig nicht so recht wahrnimmt, über Träume, die Realität und die Kraft, die man braucht, um sein Leben zu ändern. Witzig, skurril, bedrückend - nach der Lektüre wird man sich zweifellos zweimal überlegen, ob man unfreundlich zum Sicherheitspersonal am Flughafen ist, auch, wenn es mal nur sehr langsam vorangeht.

Christina Liebeck



Hardcover | Erschienen: 01. Januar 2009 | ISBN: 9783821857329 | Preis: 19,95 Euro | 304 Seiten | Sprache: Deutsch

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