Von allen Vorurteilen, unter welchen der Anime zu leiden hat, hält sich jenes, der japanische Zeichentrick richte sich per definitionem nur an Kinder, am hartnäckigsten - obwohl mehrere Meisterwerke schon längst den Gegenbeweis erbracht haben. Dass sich der Anime auch perfekt für die Thematisierung von Tabugegenständen eignet, ist ebenfalls kein Geheimnis mehr. Mit "Now and Then, Here and There" wurde eine brisante Lücke endlich gefüllt: die Thematik der Kindersoldaten.

Nach einem verlorenen Kendð-Kampf zieht sich Shû in sein Lieblingsversteck, auf den Schlot einer stillgelegten Fabrik, zurück. Dort findet er ein geheimnisvolles Mädchen vor, das schweigsam den Sonnenuntergang betrachtet. Shûs Bemühungen, mit ihr in ein Gespräch zu kommen, scheitern, doch er erfährt zumindest ihren Namen: Lala Ru. Von einem Moment auf den nächsten ist es aber unheimlich still, die Autos auf der Straße erstarren mitten in der Fahrt, die Vögel in der Luft bewegen sich keinen Fingerbreit; die Zeit scheint wie eingefroren. Wie aus dem Nichts tauchen plötzlich Kampfmaschinen aus einer riesigen Energiekugel auf und verschleppen Lala Ru. Bei seinem Versuch, das enigmatische Mädchen zu retten, strandet Shû in einer fremden Welt: In der Kriegsfestung Hellywood wird er von den Kindersoldaten des größenwahnsinnigen und paranoiden Despoten Hamdo gefangen genommen. In einer Wüstenwelt, in welcher extreme Wasserknappheit zu erbarmungslosen Kämpfen führt, plant Hamdo die Weltherrschaft an sich zu reißen. Dafür braucht er aber Soldaten und Wasser. Letzteres scheint nun mit dem magischen Anhänger Lala Rus gesichert, doch Soldaten lassen sich nicht so einfach herbeizaubern. Zu diesem Zweck unterwirft das Heer Hellywoods friedliche Dörfer und versklavt die Einwohner, Widerstand wird rücksichtslos niedergewalzt. Und während Shû zwangsrekrutiert und gedrillt wird, sieht sich das amerikanische Mädchen Sala dem wiederholten Missbrauch durch Hellywoods Soldaten ausgesetzt - Hamdos Streitmacht braucht Zuwachs …

Kaum ein Anime spricht gesellschaftliche und politische Missstände so direkt und unverhohlen an wie "Now and Then, Here and There". Nicht nur, dass der Anime mit der Kindersoldatenproblematik Neuland betritt, auch sämtliche Begleiterscheinungen dieser Thematik werden schonungslos vor Augen geführt: Krieg und Hunger, Massenmord und Vergewaltigung sind hierbei wohl die erschreckendsten. Mit Gewaltdarstellungen wird nicht hinterm Berg gehalten, doch was den Zuschauer noch mehr schockiert, sind jene Dinge, welche dem Auge verborgen bleiben und dennoch überdeutlich zu sehen sind. Das wohl tragischste Beispiel ist Salas mehrfache Vergewaltigung durch Hamdos Soldaten: Das blonde Mädchen wird in ein dunkles Quartier gestoßen, das zerfurchte Gesicht eines Mannes schält sich aus den Schatten, die Tür gleitet zu, kein einziger Laut ist zu vernehmen. Doch sieht man Sala anschließend in ihrer finsteren Zelle hockend, die Beine an den Körper gezogen und lautlos Tränen vergießend, besteht nicht der geringste Zweifel, was ihr widerfahren ist.

Massig Pluspunkte heimst "Now and Then, Here and There" mit dem Verzicht auf fantasielose Schwarzweiß-Zeichnungen ein. Das Schicksal von Kindersoldaten wie Nabuca wird packend dargelegt und will den Zuschauer für die Kinder einnehmen, gleichzeitig ist es schwierig, ihren blinden Gehorsam und ihr rücksichtsloses Vorgehen auszublenden. Das Kinderheer ist trotz der Uniformität nicht homogen, jedes der Kinder sieht sein Tun aus einem anderen Blickwinkel, und auch die Widerstandskämpfer nehmen bei ihrem Kampf gegen Hellywood Züge an, die sonst nur Hamdo vorbehalten sind. Lediglich die Figur der Lala Ru ist - trotz der Tatsache, dass sich die gesamte Reihe um sie dreht - unausgearbeitet, in der letzten Episode ist man nur unwesentlich schlauer als zu Anfang.

Der wahre Kunstgriff jedoch ist der Stil des Animes, es wird auf das typische, klischeehafte Bild zurückgegriffen, welches sich in den meisten Köpfen manifestiert, kaum dass das Wort Manga oder Anime gefallen ist: Große Augen zieren die Gesichter der Kinder, die Charaktere sind einfach gezeichnet und strotzen nicht gerade vor Details. Damit wird das gesamte brutale Geschehen einerseits aus der kindlichen Perspektive gezeigt und der Schrecken potenziert. Gleichzeitig graben die Zeichner damit der weit verbreiteten, engstirnigen Vorstellung, der Anime wäre ein Medium allein für Kinder, das Wasser ab; ein stilistischer Kniff, der schon Keiji Nakazawas "Barfuß durch Hiroshima" zu einem der bewegendsten und dramatischsten Comics der Welt gemacht hat. Erweckt "Now and Then, Here and There" zu Beginn noch den Eindruck einer Kinderserie, so wird spätestens ab der zweiten Episode der Spieß unvermittelt um 180 Grad gedreht.

Den Umstand, auf einen einfach gehaltenen Stil zurückzugreifen, haben die Verantwortlichen jedoch wohl zum Anlass genommen, häufiger auf Kaffeepause zu gehen: Den Hintergründen fehlt jegliche Liebe zum Detail und der ausgiebige Einsatz aufeinander folgender Standbilder soll stellenweise eine Dynamik erzeugen, die mittels zeitgemäßer Grafik hätte besser erzielt werden können. Nicht wenige Hintergründe wirken einfach nur - ein anderes Wort ließ sich nicht finden - billig, vor allem angesichts des Produktionsjahres 1999. In Anbetracht der Qualität, mit welcher das Publikum konfrontiert wird, würde man eher auf die ausklingenden achtziger Jahre als Entstehungszeitraum tippen. Bestenfalls …

Die vorliegende DVD-Gesamtausgabe wird dem hohen Wert des Animes nicht wirklich gerecht: Bild- und Tonqualität gehen in Ordnung, an ersterem hätte aber durchaus noch etwas gefeilt werden können. Die Extras geben sich äußerst ernüchternd, neben einer Handvoll Trailer zu anderen Anime-Produktionen - die nebenbei bemerkt auf jeder Disc dieselben sind - gibt es knappe biografische Angaben zu Regisseur Akitaro Daichi ("Fruits Basket") und Drehbuchautor Hideyuki Kurata ("Read or Die") sowie einen Überblick über Kendð, daneben kann sich der Abspann mit Rðmaji-Untertiteln zu Gemüte geführt werden. Die DVD-Menüs sind lieblos zusammengeschustert und teils unübersichtlich, die Artworks, welche auf den Covern Verwendung gefunden haben, wandern schwankend auf dem schmalen Grat zwischen düster-gelungen und miserabel-billig.

Es ist verwunderlich, dass für die Erstveröffentlichung eines Animes im deutschsprachigen Raum auf eine deutsche Synchronisation verzichtet worden ist, der Filmgenuss beschränkt sich auf den Originalton mit deutschen Untertiteln. Nicht, dass dies dem Anime irgendeinen Abbruch tun würde: Die japanische Synchro ist wirklich hervorragend, besonders die Stimmen von Shû, Sala, dem Kindersoldaten Nabuca und Hamdos rechter Hand Abelia sind wirklich exzellent ausgewählt. Das Tüpfelchen auf dem i ist aber definitiv Kðji Ishii, der in seiner Rolle als megalomaner und nicht selten hysterischer Diktator regelrecht aufblüht.

Was Anime Virtual dem Liebhaber des japanischen Zeichentricks mit "Now and Then, Here and There" serviert, ist nichts Geringeres als eine der gesellschaftskritischsten und psychologisch härtesten Animes aller Zeiten. Raffiniert spricht die Reihe brisante Themen wie Kindersoldaten, Vergewaltigung und Massenmord ungeschminkt und unter dem Deckmantel der "großen Augen" an und entlarvt so die ewigen Vorurteile der Anime-Gegnerschaft als borniert und nicht haltbar. Bedauerlicherweise spiegelt sich der Wert der Reihe weder in der Qualität der Zeichnungen noch in der Aufmachung der vorliegenden DVD-Edition wider. Aber auch wenn man sämtliche Geschütze der Kritik ausfährt und auf die zweifelsohne vorhandenen Schwächen hinweist, so kommt man als Anime-Fan doch nicht um dieses packende wie traurige Meisterwerk des japanischen Zeichentricks herum.