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 Magic Edition: Rattenfänger


Cover
Gesamt +++--
Aufmachung
Preis - Leistungs - Verhältnis
Kurzgeschichten muss man schätzen, um an dieser Sammlung mit dem Titel "Rattenfänger" seinen Spaß zu haben. Wie üblich bei der "Magic Edition" ist auch dieser achte Band auf 999 Exemplare limitiert. Herausgeber Bernd Rothe konnte den Illustrator Pat Hachfeld gewinnen, dessen Bleistiftzeichnungen zu Beginn jeder Geschichte stimmungsvoll wichtige Elemente derselben auf skurrile Weise vorweg nehmen.

Die Anthologie bietet 18 Geschichten von unterschiedlichster Länge - zwischen sechs und vierzig Seiten -, in denen es Jäger und Gejagte gibt. Diese lassen sich in zwei Kategorien unterteilen: Zum einen die Variationen der Rattenfänger-Sage und zum anderen Geschichten, die damit nichts oder nur entfernt zu tun haben. Bei ein paar Geschichten fällt die Trennung schwer.
Zur ersten Gruppe gehört eindeutig die erste Geschichte, "Schattenschläger" von Stefanie Bense, denn sie ist eine schlichte Nacherzählung der Rattenfänger-Geschichte mit wenig inhaltlicher Eigenleistung, aber viel Gefühl fürs Mittelalter. Ebenfalls in mittelalterlichen Gefilden spielt "Die Flöte des Spielmanns" von Stefanie Hübner-Raddatz, eine seltsame, um Suspense bemühte Geschichte mit bitterem Ende, bei der die Flöte den Spieler lenkt. Ebenfalls bitter endet "Lenas Wege" von Marlies Eifert, die die Suche der Eltern nach ihren entführten Kindern unter Anleitung der lahmen Lena in die Neuzeit transportiert. Ein positives Gefühl dagegen drücken Frank W. Haubolds "Der Puppenmacher von Canburg" und Monique Lhoirs "Das Rattenmädchen" aus. Erstere Geschichte ist wunderschön geschrieben, ersetzt Ratten durch Krähen und Kinder durch Hunde, allein die Pointe funktioniert nicht richtig - wenigstens hat diese Geschichte eine. In der zweiten Geschichte, die eine Karikatur einer spaßverwöhnten mittelalternahen Gesellschaft präsentiert, wird der Rattenfänger zum Rattenfreund, ein Plädoyer für mehr Toleranz. Zwei Geschichten, "Die Königin und ihr Gardist" von Barbara Jung und "Die Stadt der Riesen" von Dirk Taeger, beleuchten das Thema aus der Sicht der Ratten und ähneln einander sehr: In beiden Fällen geht es um eine Ratten-Majestät und einen Untergebenen. Die Unterschiede liegen in der Machart: Jung erzählt traditionell, während Taeger einen archaischen Stil und Zwischenüberschriften benutzt und auf Anführungszeichen verzichtet. "Der Verlorene" von Armin Rößler spielt auf einem fernen Planeten und bietet ein paar nette Ideen, aber auch hier bleibt das Prinzip der Rattenfängergeschichte gleich. Und Veruka Anikos "Canard - Liebling" fängt keine Ratten, sondern Räuber, und entführt seinen Lohn, die Tochter des Bürgermeisters - mit unschönen Konsequenzen. Diese Geschichte ist charmant geschrieben und hat etwas von einem Gleichnis - "Schuster, bleib bei deinen Leisten"?

In all diesen Geschichten spielen Undank und Rache eine große motivatorische Rolle, und dieses Prinzip wiederholt sich ermüdend oft. Anders ist es bei den anderen Geschichten, die mit dem Rattenfänger von Hameln nichts oder nur wenig zu tun haben. Sie warten fast allesamt mit einem bitterbösen Ende auf. Alleine "Die Rattenfänger sind in der Stadt!" von Christian Schönwetter endet glücklich, allerdings mit einer Lehre für den Mann, der erst Reichtum anhäuft und diesen dann mit der Entführung seiner Kinder bezahlen muss - wie ein Märchen geschrieben, ein Abgesang auf ein kommunistisches Ideal. Alisha Biondas "Mephisto" schließt eine Wette mit Gott ab und geht auf die Jagd nach einer jungen skeptischen Frau. Diese Geschichte mit ihrem Teufel, der auf Jünglinge steht, auf deren "Wunderhörnern" er blasen will, mit ihrem verliebten Faustus, den Wiederholungen, den verstörend-dramatisierenden Wiederholungen, den langen Kursiv-Passagen und dem allgegenwärtigen morbid-orgiastischen Sex, der mit Genuss beschrieben wird, aber beim Lesen keinen solchen geboten hat, ist die einzige Geschichte, die das Prädikat "Geschmackssache" erhält, denn handwerklich ist sie gut, auch wenn Serafinas Schicksal eigentlich relativ schnell zu erahnen ist. Bei Mark-Alastor E.-E.s "Nicht ohne Wut, sei vom Lamm das Blut" irritiert zu allererst der Titel, dann der ungewöhnliche altmodische Sprachgebrauch und schließlich die ganze Geschichte. Sie ist schwer zu verstehen, aber unglaublich dicht und spannend erzählt. Es geht um eine Gruppe Vampire, die beim Mäuseturm von Bingen ihrem Schöpfer entgegen treten wollen. Zum besseren Verständnis empfiehlt sich die Lektüre der Original-Rattenfängersage der Gebrüder Grimm im Anhang. Und nachdem man sie gelesen hat, wundert man sich einmal mehr über den Titel. Zwei Geschichten lassen einen modernen Rattenfänger auftreten: "Der Lichtfänger" von Dominik Irtenkauf ist zur rechten Zeit leider nicht am rechten Ort zur rechten Tat bereit, die ihm eine von Visionen geplagte Frau ans Herz legt, in "Rattentod GmbH" von Markus K. Korb ist der skurrile Jäger zur richtigen Zeit am falschen Ort und muss feststellen, dass die Ratten, die er jagt, eigentlich ihn gejagt haben. Erstere Geschichte ist verwirrend erzählt und die Auflösung scheint aus dem Nichts gegriffen zu sein; letztere ist schlicht genial, sehr spannend und unterhaltsam, man leidet gleichermaßen mit dem Menschen wie mit den Ratten. Volley Tanners "Ein leises Lied vom Verschwinden" handelt von den Folgen von Unvernunft und Kurzsichtigkeit und ist kurz und pointiert. "Der Rattenkönig" von Martin Skerhut, das vom finalen Kampf zwischen Rattenfänger und Rattenkönig erzählt, hat einen überraschenden Handlungsverlauf und ist sonst nur dann ein wenig zu verstehen, wenn man sich die Passage über das Rattenfänger-Musical im Anhang durchliest. Bleiben Christian von Asters "Niederfrequenzmanipulation oder Des großen Rattenfänger Trick" und Alexander Ambergs "Die Wege des Herrn". Beide weichen stark von den anderen Geschichten ab: In der ersten lehnen sich Berliner Revoluzzer gegen die suggestiven TV-Werbemethoden eines großen Konzerns auf, die vielleicht pointierteste Geschichte von allen. Die zweite, die die Anthologie abschließt, ist eine recht präzise Darstellung der Situation in Speyer kurz vor Ausbruch der Pest - Geißler, Judenhass, politische Zusammenhänge bilden den Hintergrund für eine kleine Kriminalgeschichte, allerdings bleibt der Bezug zur Rattenfängerthematik unklar - ganz schön morbide, wenn die bis zur Selbstverbrennung gehetzten Juden den Ratten gleichgestellt würden.

Der Anhang gibt die Rattenfängergeschichte nach den Grimms und eine knappe historische Deutungsmöglichkeit sowie eine österreichische Version wieder und informiert über die hamelner Freilichtspiele und das Musical "Rats". Es folgen die Vorstellungen von Herausgeber, Illustrator und den Autoren. Das Buch selber hat Din-A5-Format und ein durchaus lockendes Cover mit einem Flötenspieler mit Hut und Mantel und Ratte auf der Schulter vor einer Gasse in der Dämmerung.

Zurück zur einleitenden Aussage. Kurzgeschichten können sehr unterhaltsam, spannend oder auch lehrreich sein, allerdings sollten sie, um schätzenswert zu sein, ein überraschendes Ende haben oder wenigstens gut geschrieben sein. Vor allem ersteres findet sich nicht oft, es wurden bisweilen einfach Geschichten erzählt, die einen mit der Frage "Wo bleibt der Sinn?" zurück lassen, etwa "Mephisto" und "Canard - Liebling". Leute, die mit der Einstellung an dieses Buch gehen, sich diese Frage bei Kurzgeschichten nicht zu stellen, werden hier sehr gut bedient.
Ein weiteres Problem ist, dass sich das Thema und der Ablauf der Rattenfängersage allzu oft wiederholen. Das ist ermüdend, hier wäre mehr Abwechslung gut gewesen.

Die Sammlung hat gute und schlechte Geschichten, aber die meisten sind durchschnittlich. Herausgeber Rothe vermisst, wie im Anhang erwähnt wird, die Vorlesestunde bei deutschen Familien. Aus der vorliegenden Sammlung kann man nur wenige Geschichten vorlesen.

Stefan Knopp



Taschenbuch | Erschienen: 1. Dezember 2005 | ISBN: 3898402681 | Preis: 9,95 Euro | 400 Seiten | Sprache: Deutsch

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