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 Die dunkle Seite des Mondes

Autoren: Martin Suter
Verlag: Diogenes

Cover
Gesamt +++++
Brutalität
Humor
Preis - Leistungs - Verhältnis
Spannung
Ein Mann geht durch einen Wald, das erste Mal seit Langem. Nichts Besonderes. Es ändert nur sein ganzes Leben.
Urs Blank ist prominenter Wirtschaftsanwalt, hat viel Geld und lebt mit Evelyne zusammen, sein Umfeld ist die High Society. Im Wald stellt er fest, dass ihm irgendwas fehlt. Er sucht es, unter anderem bei dem jungen hübschen Hippiemädchen Lucille. Evelyne setzt ihn vor die Tür, als er die Affäre nicht einmal mehr zu verheimlichen versucht.
Dann nimmt ihn Lucille mit zu Joe, der Drogenzirkel abhält. Urs macht mit, kaut Pilze mit halluzinogener Wirkung und dreht ab. Am Ende des Trips gibt es nur eine Wahrheit für ihn: Urs Blank. Zurück bleibt eine absolute Gleichgültigkeit seiner Umwelt gegenüber. Auch Tage und Wochen nach dem Rauscherlebnis ändert sich nichts an diesem Zustand, es geschehen Dinge, aufgrund derer Blanks Freund und Psychiater Wenger Blank als gefährlich einstuft - dabei hat Blank ihm noch nicht einmal von dem Autounfall mit tödlichem Ausgang erzählt, den er herbei geführt hat. Wenger empfiehlt, den Trip zu wiederholen und an den wichtigen Passagen Entscheidungen zu korrigieren. Das hat nicht den gewünschten Effekt, aber die Nebenwirkung, dass Urs einen sich immer weiter verdichtenden Bezug zum Wald gewinnt - seine Art der Selbsttherapie. Der Versuch, sein altes Leben weiterzuführen, gelingt ihm vorne und hinten nicht mehr - was ihm herzlich egal ist. Urs besucht Joe und erfährt die Ursache für seinen heftigen ersten Trip. Joe widerfährt ein gewaltsamer Tod, der die Polizei auf den Plan ruft, und Urs zieht sich immer öfter in die Wildnis zurück. Nachdem er bei einem Kurzbesuch bei Lucille beinahe ihren neuen Freund umgebracht hätte und mit einer Anzeige rechnen muss, täuscht er seinen eigenen Tod vor. Im Wald lebt er nach allen Regeln der Survival-Anleitungen, die er sich angeschafft hat. Doch nachdem er dort wieder einen Menschen umgebracht hat, stellt er fest, dass das nicht der rechte Weg ist. Er beginnt nun heimlich, in der Welt der halluzinogenen Pilze zu forschen.
Seine Kanzleipartner, die Blank längst ersetzt haben, bekommen mit, dass er noch lebt. Aufgrund eines Missverständnisses bezüglich geheimer Unterlagen erklären sie ihn für gefährlich und schicken Teilhaber Ott, seines Zeichens begeisterter Großwildjäger, der noch eine Rechnung mit Urs offen hat, auf die Jagd ...

Die Kritiken zu diesem Buch überschlagen sich vor Begeisterung, und man kann sich dem guten Gewissens anschließen: Dem Schweizer Schriftsteller und Drehbuchautor Martin Suter ist eine hervorragende Studie über einen schrittweisen vollständigen Lebenswandel eines Anwalts zum "Dr. Naturmensch" gelungen, die von Beginn an fesselt. Dabei ist der moralische Fingerzeig zum Thema Drogenkonsum hier maximal drittrangig. Im Vordergrund steht Blanks innere Wandlung vom eleganten Wirtschafts-Fachmann zum wilden Naturburschen mit zunehmend tierischen Verhaltensweisen. Die zunehmende Gleichgültigkeit seiner Umwelt und anderen Menschen gegenüber und der Verlust jeglicher Skrupel gehen einher mit der Verlagerung des Lebensraums von der Stadt in den Wald. Schließlich sitzt Blank, nachdem er einen Mord begangen hat, in seinem Versteck im Wald und wartet auf die Gewissensbisse - es drängt sich die Frage auf, ob der Mensch sich durch sein Gewissen vom Tier unterscheidet. Blank hat es nicht vergessen und sehnt sich danach.
Daneben steht die unverhohlene Gesellschaftskritik. Man trifft auf immer gut gestylte Frauen reicher Männer, einen fanatischen Großwildjäger, eine kiffende Veganerin, einen karrieregeilen Junganwalt, einen städtischen Polizeigefreiten auf persönlichem Rachefeldzug, beschränkte Hinterwäldler, lauter skurrile Gestalten und einen Psychiater, der paradoxerweise einer von zwei wirklich vernünftigen Menschen in der Geschichte ist; der andere ist ein Dorfpolizist, den das Schicksal immer tiefer in die Welt hinein drängt, aus der sich Blank immer mehr ausgeklinkt hat. All diese Gestalten, jede Nebenfigur und jeder Schauplatz werden von Suter mit scharfer Zunge unbekümmert sarkastisch unter die Lupe genommen. Droht in der Welt der Großstadt, der Wirtschaft und des Luxus der Mensch seine Ursprünge und den Bezug zur Natur zu vergessen? Die Figuren in Suters Komposition scheinen sich nicht allzu viele Gedanken über ihr Gewissen zu machen - bis auf Urs Blank, der seins nahezu verloren hat. Könnte ein solcher psychischer Absturz jeden von ihnen, jeden von uns treffen? Ist der Geist des Großstadtmenschen ein derart wackeliger Jenga-Turm?

Suters Ausdrucksweise verzichtet auf blumige Ausschmückungen. Kein Wort ist hier zuviel und ohne Zweck angebracht. Das bringt bisweilen eine große Zahl recht knapper Sätze mit sich, die aber immer mit Bedacht eingesetzt erscheinen. Der Autor beschreibt nie überdramatisiert, sondern sehr nüchtern und dennoch spannend mit sehr verständlicher Wortwahl. Jeder seiner Charaktere ist einzigartig dargestellt, und doch wirken sie in Suters steriler Schreibweise alle irgendwie gleich - ein faszinierender Effekt. Die zwanzig nicht betitelten Kapitel bestehen immer aus vielen kurzen Abschnitten mit zum Teil sehr kunstvollen Überleitungen, und die Geschichte ist sehr glaubhaft erzählt und wirkt selten konstruiert, vielmehr muss man schmunzeln über die glücklichen oder unglücklichen Fügungen, durch die Jäger und Gejagter immer wieder aneinander vorbei irren. Man fiebert förmlich mit Blank, der das Opfer von Drogen, schlechter Therapie und der Anwaltswelt geworden ist, mit, man sieht ihm sogar seine Verbrechen nach, da er ja auf der Suche nach Heilung ist, und man mag das Buch ungern beiseite legen bis zum extrem spannenden Finale.

Dieses Werk - vorliegend in der Taschenbuchausgabe -, dessen Titel die Übersetzung eines Pink-Floyd-Songs ist, hat jedes Lob verdient: Ein akribisch recherchierter Psychotrip um Verlust und Erneuerung der Grundbausteine des Menschseins, eine schwarzhumorige Satire auf die städtische Gesellschaft, die ihr Gewissen erst dann wahrnimmt, wenn es abhanden kommt, und eine Warnung vor dem unkontrollierten Gebrauch von Drogenpilzen. Eine sehr raffiniert aufgebaute und nüchtern-genial erzählte Geschichte. Eine unbedingte Kaufempfehlung.

Stefan Knopp



Taschenbuch | Erschienen: 1. Januar 2001 | ISBN: 3257233019 | Preis: 9,90 Euro | 315 Seiten | Sprache: deutsch

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