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 Bellboy

oder: Ich schulde Paul einen Sommer


Cover
Gesamt +++--
Anspruch
Gefühl
Humor
Preis - Leistungs - Verhältnis
Spannung


Lukas Baumgarten ist 31 Jahre alt und versucht den Großteil seines Lebens zu verdrängen. Das provinzielle Landleben der Kinder- und Jugendjahre hat er mit all seinen Gewohnheiten, der Engstirnigkeit und Hinterwäldlertum ausgeblendet und hinter sich gelassen. Doch auch wenn das Vergessen und Verdrängen ganz gut zu funktionieren scheinen, so fristet er doch eher ein trostloses Dasein. Er lebt bei Steve, einem homosexuellen evangelischen Pfarrer, und schlägt die Zeit als Kirchendiener und Nachhilfelehrer tot, wobei sich dies eher auf sonntägliches Glockenleuten und sexuelle Geschichten mit den verzweifelten Müttern der Nachhilfeschüler konzentriert. Und dies in Bayern, genauer: in München im Jahre 2003.

Nachdem seine Freundin ihn verlassen und er "erfolgreich das Studium abgebrochen" hat, lebt Lukas in den Tag hinein. Er versucht seine Laune durch eine gehörige Portion Zynismus aufrecht zu erhalten und dabei seine Vergangenheit auf dem Land zu vergessen - bis eines Tages sein Cousin Paul vor der Tür steht und ihn genau mit dieser konfrontiert.
Etwas muss geschehen sein, denn der erwachsene Paul benimmt sich wie ein Kind und scheint starke Probleme mit der Erinnerung zu haben. Es sieht so aus, als trage Paul ein furchtbares Geheimnis in sich, welches ihn zwar zu Lukas geführt hat, an welches er sich aber nicht erinnern kann. Lukas muss erkennen, dass dieses Geheimnis auch ihn betrifft und er eine mögliche Antwort nur in der verdrängten Vergangenheit findet. Als klar wird, dass Paul an einer Art Demenz leidet, weiß Lukas, dass es an ihm ist, dem Geheimnis auf den Grund zu gehen und sich der zurückgelassenen Familie zu stellen. Leider lebt diese immer noch ihr typisches Provinzleben mit all seinen Tücken und Gewohnheiten. Noch während Lukas versucht, Pauls Erinnerung an damals wieder zu finden, muss er selbst seinem Vergessen ein Ende machen. Der eine kann sich nicht erinnern, der andere möchte es lieber gar nicht. Bei der Wahrheitsfindung dieser beiden jungen Männer bleibt es fast unausweichlich, dass hier und da eine kleine bis mittlere Katastrophe geschieht, sei es die Überflutung des Pfarrhauses, das Versenken eines Schiffes, Kling-Glöckchen-Rock in der Messe oder andere lustige Begebenheiten des alltäglichen Wahnsinns eines solchen Paares.

Der Untertitel "Ich schulde Paul einen Sommer" beschreibt genau die Erkenntnis, die Lukas nach und nach gewinnt. Sein Leben hat sich zwar verändert, jedoch nicht verbessert. Er läuft immer noch vor Problemen davon und hat sein Leben nicht wirklich im Griff. Es gibt einiges nachzuholen, was er mit Steve und Paul auch gehörig tut.
Die Geschichte von Bellboy ist eine Zusammenfassung weltweiter Begebenheiten des Jahres 2003, projiziert auf die Sommererlebnisse eines interessanten Dreigestirns in der Hauptstadt Bayerns. Jess Jochimsen nimmt lustige, interessante und teils erschreckende Geschehnisse der Weltgeschichte aus dem Jahre 2003, betrachtet sie mit einer gehörigen Portion Zynismus und verstrickt sie zu einer amüsanten Geschichte fiktiver Personen in München. Die gelungene Zusammenstellung zeugt von guter Recherche des Autors, wie auch von detailreichem Hintergrundwissen in Sachen Politik, Medien und Musik. Leider basiert die Handlung eher auf der Aneinanderreihung dieser Geschehnisse als auf einem interessanten Handlungsverlauf, so dass die Lektüre teilweise etwas schleppend wirkt. Dies wird jedoch durch den dargebrachten Zynismus und spitzen Humor wettgemacht. Auch finden sich ein gewisser Tiefgang und Emotionen in der Geschichte wieder, so dass man den Titel, aufgegriffen vom "The Who"-Song "Bell Boy", nicht nur auf Paul beziehen kann, der in einem Klosterhotel als Page hilft und auf Glockenläuten hin die Koffer der Gäste auf die Zimmer trägt, sondern auch auf Lukas selbst, der als Glöckner arbeitet. Gerade der demenzkranke Paul führt Lukas zu seiner Erinnerung an die Vergangenheit mit all ihren Tiefen und Untiefen heran, und nicht selten erkennt sich Lukas selbst in seinem Cousin wieder. Das emotionale Element nimmt jedoch erst gegen Ende des Romans deutlich zu und endet in einem eher unbefriedigenden Schluss.
Zwar muss man den Lektoren ein Lob für das fast tippfehlerfreie Werk aussprechen, jedoch verwirren die Grammatik wie auch die fehlerhafte Interpunktion an manchen Stellen sehr stark, was durch Wechsel im Tempus wie auch durch häufige Satzfetzen und Einfügungen in Klammern unterstützt wird. Der Schreibstil macht so zwar die Gedankenwelt von Lukas deutlich und authentisch, lässt das Werk jedoch im sonst akzeptablen Anspruch sinken. Umgangssprachliche Umschreibungen und eingeschobene Anglizismen lockern die Lektüre angenehm auf, grenzen die Zielgruppe stark ein.

Alles in allem ist "Bellboy" ein humoristisches Werk über faszinierende Gegebenheiten, verwoben mit der amüsanten Darstellung des ernsten Themas von Vergessen, Verdrängung und Lebensweisen, so dass man oftmals genauso ins Grübeln wie ins Lachen kommt. Jess Jochimsen beweist sich hiermit als Kabarettist, der es versteht, seine Ideen für ein Bühnenprogramm auch in einem Roman wiederzugeben. Man hofft nur, dass Jochimsen, trotz der Ich-Perspektive im Roman, keine derartige Vergangenheit hat.

Markus Bug



Taschenbuch | Erschienen: 01. Oktober 2005 | ISBN: 3423244771 | Preis: 12,00 Euro | 237 Seiten

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