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 Geistig Behinderte im Spiegel der Zeit

Vom Narrenhäusl zur Gemeindepsychiatrie


Cover
Gesamt ++++-
Anspruch
Aufmachung
Preis - Leistungs - Verhältnis


Das Buch "Geistig Behinderte im Spiegel der Zeit", erschienen im Thieme Verlag, gibt einen historischen Überblick über die Lebensumstände geistig behinderter Menschen und das Verhältnis der "nicht-behinderten" Gesellschaft zu ihnen. Die Geschichte der Menschen mit geistiger Behinderung ist in diesem Werk - seinem Titel entsprechend - chronologisch wiedergegeben und beginnt in der Antike, erstreckt sich über das Mittelalter bis hinein in die Neuzeit und schließt folgerichtig mit der Gegenwart ab. Als einzelne Stationen dieser "Zeitreise" sind unter anderem die Rolle der behinderten Menschen während der Zeit der Aufklärung, während des Nationalsozialismus und in der ehemaligen DDR hervorzuheben.

Interessant ist, dass das Buch den Rahmen für "geistige Behinderung" recht weit gefasst hat: Die zitierten Quellen und Zeitzeugnisse beziehen sich sowohl auf angeborene geistige Behinderungen (zum Beispiel Down-Syndrom), erworbene geistige Behinderungen (zum Beispiel durch Hirnverletzungen als Folge eines Unfalls) als auch auf psychotische Erkrankungen (Schizophrenie, Manien), körperliche (Epilepsie) und seelische Leiden (Depressionen).

Nicht alle, die im Lauf der Jahre als "geisteskrank", "schwachsinnig" oder "wahnsinnig" abgestempelt und ausgegrenzt wurden, waren dies auch tatsächlich; dennoch finden sie hier Erwähnung. Die Autoren zeigen das gesamte Spektrum dessen, was als "närrisch", "bekloppt", "geisteskrank" und "irre" gilt und galt. Sie gehen beispielsweise recht detailliert auf das Phänomen der Hofnarren ein, die sich teilweise nur körperlich von den "Normalen" unterschieden (Kleinwüchsige), die aber geistig vollkommen gesund waren. Am Rande finden sich auch immer wieder kurze Anmerkungen und Quellen zu körperlicher Behinderung.

Inhalt:

1. Der Blödsinnige in Mythen, Märchen und Legenden
2. Der am Geist Kranke in der Antike
3. Klöster, Städte, Burgen und Schlösser als Umfeld von Schwachsinnigen
4. Narren, Toren und Tölpel als Spiegelbild der Gesellschaft
5. Der Schwachsinnige als Bettler und König
6. Die Aufklärung und die Menschenrechte auch für die Schwachsinnigen?
7. Die Anstalt als Ort der Verwahrung
8. Der Schwachsinn bekommt einen Namen
9. Die systematische Vernichtung "unwerten" Lebens
10. Das große Vergessen
11. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit - Vom Umgang mit Geisteskranken und Behinderten in der DDR
12. Auf dem Weg in die Sozialpsychiatrie
13. Narren, Geisteskranke und Schwachsinnige im Buch und auf der Bühne
14. Behindert in der modernen Spaßgesellschaft


Die einzelnen Kapitel geben jeweils in aller Kürze einen Überblick über die in ihnen thematisierte Zeit. Das Thema "geistige Behinderung" wird danach umfassend im Kontext historischer, religiöser und soziokultureller Zusammenhänge betrachtet.

Bis weit ins 20. Jahrhunderte hinein ergibt sich hier ein bitteres Bild von Ausgrenzung und Verfolgung bis hin zur systematischen Ausrottung der geistig Behinderten. In der Antike häufig schon als Kleinstkind ausgesetzt oder unmittelbar getötet, im 16. und 17. Jahrhundert vielfach belacht und verspottet, im 19. Jahrhundert in "Irrenanstalten" weggesperrt, zur Zeit des NS-Regimes systematisch ermordet - die Liste der Benachteiligungen und Grausamkeiten, die geistig und körperlich behinderte Menschen erleiden mussten und heute noch erleiden müssen, zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Buch und löst Betroffenheit beim Leser aus. Das Buch bietet damit nicht nur eine Schilderung der Lebensumstände der Menschen mit geistiger Behinderung, sondern zeichnet auch ein Bild der beschriebenen Gesellschaften, indem es ihren Umgang mit den behinderten Mitmenschen schildert.

Ein schwacher Lichtblick ergibt sich erst in den letzten Kapiteln, die den Wandel zur modernen Psychiatrie beschreiben. Wenn man bedenkt, dass etwa Depressionen erst seit kurzer Zeit als gesellschaftlich anerkannte Krankheit gelten und nicht mehr bloß als "Spinnerei" abgetan werden, ist dies nachvollziehbar. Geistige Behinderungen, Lernstörungen und psychische Erkrankungen lösen auch heute noch vielfach Befremden und Unsicherheit aus, im schlimmsten Falle Ablehnung und Hass, wie das Buch anhand aktueller Quellen belegt. Wünschenswert wäre gewesen, dass die beiden Autoren sich zum Schluss ausführlicher auf die heutige Situation der Menschen mit geistigen Behinderungen konzentriert hätten. Politisch und gesellschaftlich ist der Wandel noch lange nicht abgeschlossen; der Informationsbedarf ist groß. Der Abschnitt "Zuversicht und Potentiale" in Kapitel 14 reißt dies an, jedoch nur verhältnismäßig kurz.

Einen Bruch mit der ansonsten konsequenten Chronologie stellt Kapitel 13 dar. Es berichtet über "Narren, Geisteskranke und Schwachsinnige im Buch und auf der Bühne" und reiht sich etwas unglücklich zwischen der modernen Sozialpsychiatrie der 1970er Jahre und dem aktuellen Zeitpunkt ein, da es zahlreiche Quellen der Antike und des Mittelalters zitiert. Eventuell wäre es sinnvoll gewesen, dieses Kapitel hinten anzustellen, dann hätte sich auch die Literaturliste des Werks nahtlos angeschlossen.

Nicht ganz nachvollziehbar sind stellenweise die Zwischenüberschriften der einzelnen Kapitel. So enthält das Kapitel "Der Schwachsinnige als Bettler und König" beispielsweise die Abschnitte "Zunehmende Ausgrenzung" und "Brutale Härte" mit allgemeinen Schilderungen der Situation im 15. und 16. Jahrhundert, schließt dann plötzlich einen Abschnitt mit dem Titel "Spanien" an, um dann mit "Inquisition und Hexenprozesse" fortzufahren. Manche Kapitel bieten somit eine Fülle an interessanten Informationen, die jedoch durch die fett hervorgehobenen Zwischentitel ein wenig verwirrend unterteilt sind.

Die optische Gestaltung des Buches ist insgesamt sehr nüchtern und schlicht im Sinne einer wissenschaftlichen Veröffentlichung; es sind lediglich drei Tabellen enthalten. Hier hätte man durchaus erläuternde Illustrationen, Fotos oder Abbildungen von Dokumenten und Zeitzeugnissen in Betracht ziehen können.



Fazit: Wer sich für das Thema "geistige Behinderung" im historischen Kontext interessiert, ist mit diesem interessanten Querschnitt durch die Geschichte der Antike bis zum heutigen Zeitpunkt gut beraten.

Zwar wird nicht alles erschöpfend behandelt - was bei einem Buch von 120 Seiten auch nicht möglich und nicht beabsichtigt ist - jedoch wird eine Vielzahl von Aspekten und Betrachtungsweisen aufgezeigt, der man als Leser teils staunend, teils fassungslos folgt und die zum Nachdenken anregt. Die Autoren haben eine wahre Fülle an historischen Quellen aufgetan und diese mit zahlreichen Zitaten und Auszügen aus Dokumenten veranschaulicht. Gerade das Sprunghafte und die große Bandbreite an unterschiedlichen Quellen machen dieses Werk trotz seines schwierigen Themas lebendig und hochinteressant.

Auch die vielen sprachlichen Klippen, die das Thema "Behinderung" birgt, wurden gut umschifft. Zwar spricht man heute eigentlich nicht mehr von "Behinderten", sondern von "Menschen mit Behinderungen" oder "behinderten Menschen", und auch der Ausdruck "geistige Behinderung" ist gerade aus Sicht der Betroffenen nicht mehr aktuell (statt dessen gefordert: Menschen mit Lernschwierigkeiten). Durch den sachlichen Umgang mit dem Thema und die durchgehend humanistische Sichtweise des Buches fällt dies jedoch nicht weiter störend auf.

Christina Liebeck



Taschenbuch | Erschienen: 01. Dezember 2005 | ISBN: 3131425318 | Preis: 19,95 Euro | 120 Seiten | Sprache: deutsch

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