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 Europäische Erinnerungsorte (Gesamtausgabe)

Band 1 (Mythen und Grundbegriffe des europäischen Selbstverständnisses), Band 2 (Das Haus Europa), Band 3 (Europa und die Welt


Cover
Gesamt +++++
Anspruch
Aufmachung
Bildqualität
Preis - Leistungs - Verhältnis
Europa steckt in der Krise - nicht nur der "Brexit", der bevorstehende Austritt Großbritanniens aus der EU, sondern auch die fast schon flächendeckende Popularität europakritischer Parteien zeigt dies offensichtlich. Die Ursache mag einerseits in der Schwerfälligkeit der Institutionen der EU, andererseits in den Ängsten liegen, welche die Menschen in der aktuell unruhigen Zeit umtreiben. Vielleicht wird die Idee "Europa" aber auch so vorschnell aufgegeben, weil ein echtes europäisches Selbstverständnis fehlt, weil der Kitt, der Europa zusammenhält zu dünnflüssig ist. Das kann sein, muss es aber nicht - wie das dreibändige Werk "Europäische Erinnerungsorte" zeigt. Denn Europa kann sehr wohl auf gemeinsame Werte, Traditionen, Mythen, Ideen, also ein gemeinsames Erbe zurückgreifen. Allerdings - und das wird hier deutlich - liegen die europäischen "Erinnerungsorte" nicht offen, sondern müssen bisweilen erst aus der Versenkung geholt werden.


Über europäische Gemeinsamkeiten und symbolische Orte, an und in denen sich Europa konstituiert, wird seit den Zeiten nachgedacht, als die Formel "Europa" in den Mittelpunkt von Reflexionen von Intellektuellen und politischer Bestrebungen gerückt ist.


Band eins beschäftigt sich mit den "Mythen und Grundbegriffen des europäischen Selbstverständnisses". Dabei geht es in den einzelnen Aufsätzen sowohl um die religiösen (Christentum, Judentum, Islam) und geistigen (Humanismus, Aufklärung) Grundlagen als auch um rechtliche und politische Konstituenten (Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Teilhabe am Politischen). Hinzu kommen Beiträge, die sich mit der Gestalt des europäischen Raums befassen: Himmelsrichtungen, Zeitrechnung, die Erschließung des Raums, Grenzen und Sprachenvielfalt. Da Europa seit jeher auch zwischen Frieden und Krieg schwankt, thematisieren die Beiträge zudem die europäische "Kriegserfahrung und Friedenssehnsucht". Beendet wird der erste Teil schließlich durch einen Aufsatz zum "Wirtschaftsraum Europa".

Band zwei, das Herzstück, konkretisiert dann die allgemein gehaltenen "Erinnerungsorte" des ersten Bandes anhand von konkreten Fallbeispielen. So steht hier beispielsweise nicht mehr nur der antike Mythos um Europa als solches im Mittelpunkt, sondern verschiedene Mythen wie "Der Stier", "Antigone" oder "Die Hymne der Europäischen Union", die allesamt mit dem Begriff "Europa" in Verbindung gebracht werden. Ferner wird hier auch das europäische Erbe in den einzelnen Aufsätzen in konkreten Themen (Michelangelo, Goethes "Faust", "Das Rathaus" und viele mehr) beschrieben und analysiert. Auf ähnliche Weise erfolgt dies parallel zum Aufbau des ersten Bandes für die Bereiche "Grundfreiheiten", "Raum Europa", "Kriegserfahrung und Friedenssehnsucht" sowie "Wirtschafts- und Verkehrsraum Europa". Hinzu kommen acht Aufsätze, die sich "Metaphern, Zitaten und Schlagworten", welche um Europa kreisen, annehmen. Dies sind zum Beispiel die Begriffe "Das europäische Haus", "Grenze Ural" oder "Gleichgewicht der Mächte".

Band drei berücksichtigt schließlich die Tatsache, dass Europa mit dem Rest der Welt in Verbindung steht, was seit jeher zu mehr oder wenigen intensiven Austauschprozessen geführt hat. Interessanterweise geht es hier jedoch nicht um den "Export" europäischer Ideen in die Welt, sondern um den "Import" außereuropäischer Phänomene oder deren Ausstrahlung in den europäischen Raum. Nicht nur inhaltlich, sondern auch vom Gesamtkonzept durchbricht dieser Band dadurch den Aufbau der beiden vorherigen Bände, indem die fünfundzwanzig dargelegten Transferprozesse für sich stehen und nicht mehr unter bestimmten Oberpunkten zusammengefasst werden. Ähnlich wie in Band zwei erfolgt die Annäherung jedoch anhand von einzelnen Fallbeispielen.


Nach den Kräften zu fragen, die dem Kontinent wenigstens tendenziell ein gewisses - gegenüber anderen Kontinenten distinktes - Maß an Gemeinsamkeiten verliehen, ist weder abwegig noch diskriminierend.


Bisweilen entziehen sich handbuchartige Sammelbände einer klaren Beurteilung, da die Beiträge oftmals sehr unterschiedlich sind - nicht einmal aufgrund ihrer Qualität, sondern schon allein durch ihre Herangehensweise. Wie viel schwerer fällt dies bei einem dreibändigen Werk mit rund 140 Essays auf mehr als 1200 Seiten. So lohnt es sich nicht, hier auf einzelne Aufsätze einzugehen. Stattdessen soll an dieser Stelle vielmehr auf das Gesamtkonzept, welches wahrlich überzeugen kann, eingegangen werden. Denn die Bände eins und zwei sind ihrem Aufbau synchron angelegt und kreisen so die Mythen, das gemeinsame Erbe, die Grundfreiheiten, den Raum Europa, die prägende Kriegserfahrung und Friedenssehnsucht sowie den Wirtschaftsraum - oder kurzgefasst: alles, was Europa auszeichnet - immer mehr ein, indem die allgemeinen Überlegungen aus Band eins im zweiten Band anhand von Fallbeispielen aufgeschlüsselt werden.

Für gewöhnlich finden sich an dieser Stelle die Beschwerden, dass dieser oder jener Aspekt vergessen wurde. Doch bereits in der Einleitung nehmen die Herausgeber dem Rezensenten hier sogleich den Wind aus den Segeln, indem sie anmerken, dass "das Gesamtspektrum aller Konstrukte von europäischen Erinnerungsorten ohnehin nicht erfasst werden konnte". Weitaus interessanter erscheinen da schon die Auswahlkriterien, um dem Phänomen europäischer Erinnerungsort gerecht zu werden. Diese waren eine zeitgenössische Betrachtung als europäisch, transnationale Vermittlungswege sowie eine Berücksichtigung Osteuropas. Zusammengenommen ein schlüssiges, durchdachtes Konzept, welches zusätzlich noch an Überzeugungskraft gewinnt, da der Begriff "Erinnerungsort" sehr weit gefasst wurde und auch geistige Entwicklungen mit berücksichtigt. Konsequent erscheint auch der im dritten Band vorhandene Ansatz, welcher im Sinne der "postcolonial studies" dem europäischen Sendungsbewusstsein widerspricht und stattdessen jene Aspekte erfasst, die Europa von der außereuropäischen Welt erhalten hat oder die durch die Auseinandersetzung mit dieser Welt entstanden sind, beispielsweise die Tropenmedizin oder Völkerschauen.


Dem Werk liegt ein weiter "Orts"-Begriff zugrunde, weil zwar versucht wird, viele Phänomene und Entwicklungen von einem Punkt her zu verstehen, aber kein Weg daran vorbei führte, auch die Spezifika Europas in seinem eigenen Selbstverständnis im Vergleich zu anderen Kontinenten herauszuarbeiten, die eine gewisse Systematik erfordern und deswegen das Konzept von "Erinnerungsorten" etwas modifizieren.


Ein weiteres charakteristisches Merkmal der vorliegenden Gesamtausgabe ist vor allem seine Interdisziplinarität, sodass Kunstwerke jeglicher Couleur, Gebäude, Ereignisse, Orte, Ideen, Geisteshaltungen, aber auch die wirtschaftliche und politische Dimension Berücksichtigung finden. Hinzu kommt, dass neben theoretischen Konstrukten zudem auch ganz alltägliche Aspekte des Europäischen zur Sprache kommen. Denn europäisch heißt eben nicht nur Aufklärung, Teilhabe am Politischen oder Sprachenvielfalt, sondern europäisches Lebensgefühl manifestiert sich auch in Form des Kaffeehauses, des Chansons oder einfach einer guten Pizzeria.

Obwohl den drei Bänden ein Register fehlt, so sind zumindest die einzelnen Beiträge durch Zwischenüberschriften sehr übersichtlich proportioniert und ermöglichen dadurch, dass die gedankliche Struktur der Aufsätze gut nachvollziehbar ist. Ganz vereinzelt finden sich auch Schwarz-Weiß-Abbildungen, deren Qualität jedoch äußerst schlecht ist, da diese in der Gesamtheit viel zu dunkel belichtet sind dadurch kaum Details erkennen lassen. So ist der Versuch auch das Visuelle einzubringen zwar löblich, in der vorliegenden Form aber auch verzichtbar.

FAZIT: Ein beeindruckendes Gesamtwerk, welches den europäischen Gedanken überzeugend einkreist und das herausarbeitet, was Europa eigentlich ausmacht. Eine vieldimensionale geisteswissenschaftliche Antwort an alle, die dem europäischen Gemeinschaftsgedanken skeptisch gegenüberstehen - auch wenn diese wohl den Band vorurteilsbelastet nicht lesen werden.

Weitere Informationen zum Buch finden sich auf der Webseite des Verlags.

Matthias Jakob Schmid



Softcover | Erschienen: 19. September 2012 | ISBN: 9783486716948 | Preis: 99,95 Euro | 1249 Seiten | Sprache: Deutsch

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