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Cover
Gesamt +++++
Anspruch
Gefühl
Preis - Leistungs - Verhältnis
Spannung
Zwar bewegen wir uns während unseres Lebens in der Zeit stets nach vorne, doch anders als bei einer Wanderung oder Fahrt können wir wenig von dem sehen, was vor uns liegt – umso facettenreicher ist jedoch im Allgemeinen der Blick zurück.
In den elf Kurzgeschichten von Alejandro Zambra, die im Suhrkamp-Verlag erschienen sind, wird recht viel zurückgeblickt: beispielsweise auf die verstörende Schulzeit in einem Elite-Internat, auf den einen oder anderen öden, unterfordernden, aber halbwegs einträglichen Job, der unerwartet zu einer zwischenmenschlichen Beziehung führen kann, die dann eher überfordert, auf den ersten Computer, mit dem sich viele spannende Abenteuer verbinden und der dann doch erbärmlich endet, auf Liebe, Hass und Missbrauch und sehr viel mehr.

Im In- und Ausland pflegen Chilenen, die sich jeweils als Alter Ego des Autors präsentieren, ihre politischen und privaten Verletzungen. Sie spüren ihren Wurzeln nach oder werden mit diesen konfrontiert, lieben, leiden. Und manche existieren scheinbar einfach nur, bis eine kleine Ursache eine massive Veränderung hervorruft.

Ein mittlerweile altertümlicher Computer wird zum Zentrum einer Liebesbeziehung und später zum Sinnbild ihrer Vergänglichkeit. Erfahrungen eines Jungen vom Lande auf einem Elite-Internat prägen das ganze Leben. Und aus einem Job als Telefonist für eine Versicherung, die auch und gerade Kunden im Ausland betreut, ergibt sich eine erstaunliche und verwirrende Freundschaft. Die letzte Zigarette, auf die immer wieder die allerletzte folgt; ein eigenwilliges Rollenspiel zweier Liebender; die letzte Geschichte dürfte die bestürzendste sein, sie handelt von jahrelangem inzestuösem Missbrauch und der Unmöglichkeit der Protagonistin, dieses Kapitel ihres Lebens abzuschließen und "normale" Bindungen aufzubauen.
Und immer ist ein junger Schriftsteller beteiligt, als Protagonist oder Beobachter am Rande: Der autobiografische Bezug lässt sich unschwer erkennen. Auf diesen verweist auch der Originaltitel "Mis Documentos", "Meine Dokumente".

Viele der Rückblicke behandeln zumindest am Rande das Aufwachsen und Jungsein im von der restriktiven Pinochet-Ära geprägten Chile. Alejandro Zambra wurde 1975 geboren, im zweiten Jahr nach Pinochets Machtergreifung, und war beim Sturz des Diktators fünfzehn Jahre alt – definitiv alt genug, um die Auswirkungen der Diktatur und die gleichfalls schwierige Zeit danach bewusst wahrgenommen zu haben und seinen Geschichten durch sie eine ganz eigene Prägung geben zu können.

Im Ausland verhalten sich Zambras Chilenen linkisch und unsicher, aber auch daheim suchen sie oft vergeblich nach ihrem Platz im Leben und im Beziehungsgefüge um sie herum. Dank der klaren und empathischen Zeichnung der Charaktere und der sie begleitenden Zwänge, Träume und Schwächen sowie dem schlicht-eleganten Stil und der Fähigkeit des Autors, geschickt mit Spannungsbögen zu arbeiten, fesseln die nur vordergründig ruhigen, unaufgeregten Geschichten den Leser und regen ihn auch nach der Lektüre noch zum Nachdenken an.
Eine sehr starke Kurzgeschichtensammlung – gerade wegen der leisen, doch deutlich artikulierten Zwischentöne.

Eine Leseprobe wird auf der Verlagsseite angeboten.

Regina Károlyi



Hardcover | Erschienen: 8. Mai 2017 | ISBN: 9783518425954 | Originaltitel: Mis Documentos | Preis: 22,00 Euro | 237 Seiten | Sprache: Deutsch

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