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 Abgrenzungsdebatten und politische Bekehrungen

Die Sozialdemokratie zwischen Politik und Religion im Wilhelminischen Kaiserreich


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Religiöse und politische Bekenntnisse und Zugehörigkeiten scheinen viele Gemeinsamkeiten aufzuweisen. Wechsel der Religion sind für Menschen meistens nicht weniger schwerwiegend als der Wechsel einer Partei. Wer Überzeugungen grundsätzlich ändert, muss oft mit Ausgrenzung oder Häme rechnen, je nachdem wie tolerant das eigene Milieu ist.

So stellt sich historisch die Frage, wie in vergangenen Epochen mit politischen Wechseln umgegangen wurde. Christian Hörnlein analysiert dies am Beispiel der Sozialdemokratie im Wilhelminischen Kaiserreich. Dazu spannt er einen weiten Bogen und klärt zunächst in mehreren Kapiteln vorab die Begriffsgeschichte von Begriffen wie Bekehrung, Dissident oder Abfall und erläutert, wie diese im Zuge des 19. Jahrhunderts von der Religion in die Politik kamen. In den Abschnitten drei bis fünf zeigt er dann anhand von Beispielen wie Menschen, die zur oder von der Sozialdemokratie weg konvertierten, dies begründeten und wie mit ihnen umgegangen wurde. Ergänzt wird der gut 500-seitige Text durch zahlreiche Anmerkungen und ein Literaturverzeichnis sowie ein Personenregister.

Christian Hörnleins Studie "Abgrenzungsdebatten und politische Bekehrungen" ist keine leichte Kost. Mit viel soziologischer Analytik und Begriffsgeschichte sowie vergleichender religions- und politikwissenschaftlicher Ansätze wird hier ein facettenreiches Phänomen der neuzeitlichen Politik untersucht. Zielgruppen dieser Studie sind kaum interessierte Laien, sondern fachkundige Geisteswissenschaftler.

Allein die ersten beiden Kapitel lesen sich wie eine soziologische Studie mit langen und ausführlichen Begriffsdefinitionen und eschatologischen Herleitungen, teilweise bis zurück in die Antike. Konversion, Dissident, Bekehrung, jeder Begriff, der in einem Zusammenhang mit einem Wechsel religiöser oder politischer Organisationen oder Einstellungen zu tun hat, wird ausführlich behandelt. Den Laien ermüdet das, der interessierte Student oder Wissenschaftler dürfte aber sehr viel für sich entdecken.

Die weiteren Kapitel lesen sich etwas einfacher, sind aber nicht weniger dicht und ausführlich. Anhand von Beispielbiografien, etwa von Politikern, die von der Sozialdemokratie abfielen, oder von Priestern, die sich der Sozialdemokratie zuwandten, wird so ziemlich jeder denkbare Fall, für den der Autor ein historisches Beispiel finden konnte, analysiert. Das Ergebnis des Ganzen ist zugespitzt formuliert: Sowohl Begründungsstrategien solcher Konversionen als auch die Reaktionen auf diese ähneln sehr solchen Konversionen im religiösen Bereich.

Das mag heißen, dass die politische Sphäre im 19. Jahrhundert einen religiösen Impetus erhalten hat, kann aber auch eine spezielle Ausnahme für die Sozialdemokratie sein. Immerhin wurde diese im Kaiserreich besonders stark ausgegrenzt und die Mitglieder der Partei entwickelten ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl und hatten mit dem Marxismus auch eine Organisationsideologie, die Aspekte einer Heilsgeschichte aufwies. Kurz: Die SPD zu verlassen oder ihr beizutreten hatte einen anderen Charakter als einer im Kaiserreich nicht ausgegrenzten Partei beizutreten oder eine solche zu verlassen.

Inwiefern also die Ergebnisse Hörnleins verallgemeinerbar sind, bleibt letztlich unbeantwortet und bedürfte weiterer Studien. Für die Sozialdemokratie belegt der Autor aber überzeugend, ausführlich und fundiert, dass Konversion in welcher Richtung auch immer, eine erstaunliche Nähe zu Konversionen im religiösen Bereich aufweist. Dieses Phänomen zum ersten Mal in einer eigenen Studie so grundlegend behandelt zu haben, ist der Verdienst dieser für die Fachwelt empfehlenswerte Studie.

Eine Leseprobe gibt es auf der Verlagswebsite.

Andreas Schmidt



Taschenbuch | Erschienen: 6. August 2018 | ISBN: 978-3801242596 | Preis: 32,00 Euro | 512 Seiten | Sprache: Deutsch

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