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 Nocturno: Nocturno Nr. 5


Cover
Gesamt ++++-
Anspruch
Aufmachung
Brutalität
Preis - Leistungs - Verhältnis
Spannung


NOCTURNO 5, herausgegeben von Markus Kastenholz und Timo Kümmel, präsentiert vierzehn Stories, deren Autorinnen und Autoren Liebhabern deutscher Phantastik größtenteils bekannt sein dürften. Den Erzählungen ist ein zwanzig Seiten starker Rezensionsteil angefügt, in dem deutsche Neuerscheinungen phantastischer Verlage besprochen werden, die zum Teil mehrere Jahre zurückliegen. Vom früheren Heftformat hat man sich verabschiedet; NOCTURNO 5 ist ein attraktives Taschenbuch geworden, das gut in der Hand liegt und einen professionellen Eindruck macht, nicht zuletzt wegen der stimmungsvollen Titelillustration von Michael Marrak.

In Charlotte Engmanns "Um Kopf und Kragen" steht ein Student der schwarzen Künste vor seinem Abschlussexamen in Dämonologie. Doch es fällt ihm schwer, sich auf seine Aufgabe vorzubereiten, da das Haustier seines Meisters, ein schwarzer Kater, den er für einige Tage hüten soll, sich als ausgesprochen zerstörungswütig entpuppt. Langsam dämmert dem begriffsstutzigen Protagonisten, dass die Prüfung bereits begonnen hat.

Stefan Pinternagels "KleX", eine Groteske, führt eine sensationelle Neuheit vor: Das staatliche Institut für gemeingefährliche Erfindungen hat einen Fleck entwickelt, der Tiere und Menschen verschlingt. Natürlich muss diese Neuheit gründlich erprobt werden. "KleX" lotet die praktischen Möglichkeiten aus. Schwarzhumorig, verschroben, die Schlusspointe ist dagegen ein wenig schwach.

Eddie M. Angerhubers "Madame Mosca" erzählt die Geschichte eines frischgebackenen Hauseigentümers, der allmählich dem Zauber seiner geheimnisvollsten Mieterin, einer ältlichen Musiklehrerin, verfällt. Madame Mosca scheint außer der Musik noch weitere, höchst fragwürdige Künste zu beherrschen. Und ihr Meisterschüler, der blasse Knabe Kasimir, sorgt am Ende für ein finsteres Crescendo.
Eine wirklich zauberhafte, atmosphärisch beklemmend dichte Story, die man gern ein zweites und drittes Mal liest.

"Das Bild über der Treppe", dessen mysteriöse Geschichte Andrea Tillmanns präsentiert, scheint auf seinen Besitzer, einen wohlhabenden Schlossherrn, einen überaus zerstörerischen Einfluss auszuüben. Der Ich-Erzähler, der seinem Freund helfen will, den Bann des Bildes zu brechen, stellt rasch fest, dass auch er nicht immun ist gegen den namenlosen Schrecken, den das friedlich wirkende Bild verströmt.

Mitherausgeber Markus Kastenholz lässt die Leser in "Marleen!" am zornigen Monolog eines jungen Mannes teilnehmen, der auf dem Rummelplatz all den Hassgefühlen freien Lauf lässt, die er gegen seine Mutter - Marleen - empfindet. Bei Bratwurst und Bier findet diese verkorkste Beziehung eine überraschende Lösung. Mahlzeit!

Micha Wischniewskis Story "Abschiedsschmerz" kombiniert einige altgediente Genreelemente - das schiefgegangene Experiment, das geheimnisvolle Elixier, das verschlossene Labor - zu einer leider nur allzu vorhersehbaren Pointe.

In "Das Innere oder: Die nullte Stunde" von Antje Ippensen, einem der interessantesten Beiträge in der Anthologie, betritt der Leser ein postapokalyptisches, klaustrophobisch wirkendes Szenario, einer bizarren Hausgemeinschaft, deren Leben sich zwischen Drogenkonsum, Verzweiflung, Hoffnung, Monotonie und fatal endenen Ausbruchsversuchen bewegt. Eine Handlung lässt sich nur schwer wiedergeben, da dabei die dichte Atmosphäre und die nuancenreiche Schilderung Ippensens zwangsläufig auf der Strecke bleiben müssten. Lesenswert.

"Die Farben der Tiefe" fügt Thomas Wagner zu einem verstörenden Fresko zusammen. Ein Kunsthändler, dem eine Anzahl Gemälde eines verschollenen Surrealisten in die Hände fällt, beginnt die letzten Tage des Malers vor seinem Verschwinden zu recherchieren. Eine Spur führt auf ein gottverlassenes polynesisches Eiland, wo er eine Verbindung zu einem uralten einheimischen Haifischkult entdeckt, mit dem der Maler und seine Ehefrau sich vor ihrem Verschwinden beschäftigt haben sollen. Der uralte Kult erweist sich als höchst lebendig ...
Wagner schreibt ausdrucksstark und ausgesprochen stilsicher. Überzeugend vorgetragen und spannend erzählt. Eine der besten Erzählungen der Sammlung.

Ein verdammt gutes Trinkgeld bietet das zwielichtige Pärchen, das in Cassandra Schwartz’ "Schneller!"einen Taxifahrer zu Geschwindigkeitsrekorden anstachelt, um sich auf dem Rücksitz ungestört übereinander hermachen zu können. Wer in derartig halsbrecherischem Tempo über die nächtlichen Straßen jagt, sollte sich allerdings mehr für die Fahrbahn als für den Rückspiegel interessieren!
Eine Spur zu drastisch und detailfreudig, was die Szenen auf dem Rücksitz betrifft - nicht weil Sexszenen an sich fragwürdig wären, sondern weil sie hier etwas hemdsärmelig ausfallen. So manches Bild hängt schief, etwa der Vergleich von Intimrasur und Chemotherapie. Autsch! Ansonsten zweifellos eine Story, die vielen Lesern Spaß machen wird.

Sieben steile Treppen hinauf folgen wir dem wohnungssuchenden Protagonisten in "Die (Alp)Traum-Wohnung", vorgestellt von Ramona Schroller. Dieser Platz ist ein wahres Inferno, und seine Geschichte ist alles andere als friedlich. Doch für den Bewerber scheint es genau das Richtige zu sein.
Kurz und schwarzhumorig.

Wer bei Michael Tillmanns Storytitel "Innsmouth in Metropolis" an Lovecraft denken muss, liegt nicht verkehrt. Die finstere Macht, die sich hier in Kellern und lichtlosen Gassen verbirgt, trägt erkennbar Lovecraftsche Züge. Welcher Dämon allerdings den Autor geritten hat, eine derartige Aufarbeitung des Metropolen-Schreckgespenstes "islamistischer Terror" (den er auch noch zu "islamischer Terror" verkürzt - was für ein Patzer!) zu versuchen, weiß Cthulhu allein. Xenophobische Ängste und die Vorstellung dämonischer Nester voller finsterer Gestalten, die sich nicht integrieren lassen wollen und mit ihrer hasserfüllten Irrationalität den Untergang der zivilisierten Welt anstreben, sind das Letzte, was man derzeit gebrauchen kann. Am liebsten möchte man Tillmanns unterstellen, er wüsste nicht, welches Bild er heraufbeschwört, wenn er sich ausmalt, diese von Fremden mit "warzenbedeckten Händen" bewohnte Gasse niederzureißen, ihre Bewohner in rasender Wut zu zerfetzen, bis "seltsame Organe" aus ihren "aufgeplatzten Leibern" quellen - und "ihr werdet auf den Trümmern stehen wie zwei Giganten aus einer längst vergessenen deutschen Sage"!
Der schlimmste Ausreißer nach unten, den NOCTURNO 5 zu bieten hat.

Sieglinde Breitschwerdt schildert in "Blutiger Hauch", wie eine verlassene Frau ihre Einsamkeit zu vertreiben versucht, indem sie einen Mann, den sie für den Bruder ihrer Nachbarin hält, in ihre Wohnung lässt. Dummerweise treibt gerade ein Serienmörder in der Nähe sein Unwesen.
Dass das Ende ziemlich vorhersehbar ist, täte der Spannung der Geschichte keinen Abbruch, wenn da nicht die Frage wäre, warum zum Henker ihre Protagonistin so dämlich ist, diesen Mann hereinzulassen, obwohl sie gerade die Horrormeldungen über die Morde im Fernsehen gesehen hat.

Eine besondere Art von Schrecken malt Andreas Gruber in "In Gedenken an meinen Bruder" aus, die hinsichtlich des Themas und der Genreauffassung heraussticht. Keine mordgierigen Höllenkreaturen oder dämonischen Mächte bedrohen das Geschwisterpaar seiner Erzählung, sondern der Schrecken einer von Gewalt und Missbrauch verwüsteten Kindheit, der Horror, der aus den Tiefen der eigenen Seele aufsteigt und gegen den ein Kampf unmöglich scheint. Nach einer in Heim und Psychiatrie verbrachten Jugend treffen sich die beiden Brüder als Erwachsene wieder. Der Ich-Erzähler versucht, seinem in einer selbstzerstörerischen Psychose gefangenen Bruder eine Stütze zu sein, und muss ohnmächtig miterleben, wie dessen Selbstverstümmelungsrituale immer bizarrere Formen annehmen.
Gruber gelingt es in dieser Story überzeugend, ein schwieriges Thema auf eine Weise darzustellen, die den Schmerz und die Hilflosigkeit seiner Figuren glaubhaft macht. Ein weiteres Highlight dieser Zusammenstellung.

Die mit Abstand längste Erzählung in diesem Band ist Linda Budingers "Nebeltanz", eine Story, die eher der Fantasy als dem Horrorgenre zuzurechnen ist.
Eigentlich sind es ganz andere Geschäfte, die die Kriegerin Eiskrone in das kleine Fischerdorf führen. Aber als der Geist einer jungen Frau ihr bei einem nächtlichen Überfall das Leben rettet, fühlt sie sich verpflichtet, mehr über die Tempelnovizin herauszufinden, die seit ihrem gewaltsamen Tod am See umgeht. Also beginnt sie, den Umständen ihres Todes nachzuforschen, und stößt auf eine tragische Geschichte.
Routiniert geschrieben, souverän und detailreich erzählt. Linda Budinger bietet eine spannende Fantasygeschichte voller Höhen und Tiefen und ohne überflüssige Längen. Die Figuren sind gut ausgearbeitet, der Hintergrund wirkt glaubwürdig und plastisch. Ein hervorragender Abschluss für die Anthologie - und ein Grund mehr, dieser Sammlung eine Empfehlung und ein Lob auszusprechen.

NOCTURNO 5 wird dem guten Ruf, den das Magazin in Fankreisen genießt, vollauf gerecht. Die Mischung der Stories ist höchst ansprechend, und auch gelegentliche Schwächen - über die man durchaus geteilter Meinung sein kann - trüben den Lesegenuss kaum. Kastenholz und Kümmel haben eine sehr lesenswerte Sammlung zusammengetragen, deren Anspruch durch die überwiegend hohe Qualität der Illustrationen noch unterstrichen wird. Man darf gespannt sein, welche Preziosen wir in Zukunft noch von NOCTURNO erwarten können.







Frank Hoese



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