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 Die Wissenschaft der Gesellschaft


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"Von Wissen und Wissenschaft spricht man üblicherweise in einer subjektbezogenen Begrifflichkeit." So beginnt Luhmann, nach einer kurzen Einleitung, sein Werk über die Wissenschaft als soziales Phänomen. Das Subjekt, so hieß es früher, so heißt es oft genug heute noch, sei dasjenige, das wisse; und es sei eben deshalb auch dasjenige, das für die Wahrheit verantwortlich sei. Luhmann zieht in diesem Buch aus, um dem alten Wissen von der Wahrheit das Fürchten zu lehren. Er wendet ein, dass es nie der ganze Mensch sei, der erkennt, sondern dass Erkennen nur dann sinnvoll als Erkennen sei, wenn es die Möglichkeit des Sich-Irrens gibt. Wie aber unterscheidet man nun zwischen wahrem und irrendem Erkennen? In der Gesellschaft passiert dies, so Luhmann, nicht aufgrund von "wahren" oder "falschen" Wahrnehmungen, nicht aufgrund von "wahren" oder "falschen" Prozessen im Gehirn, sondern aufgrund von Programmen in der Gesellschaft selbst. Es ist also nicht der Einzelne, der Herr über Wahr und Falsch ist, sondern ein sozialer Mechanismus, der darüber entscheidet. Luhmann führt dies mit aller Radikalität aus. Wahrheit ist ein Effekt einer bestimmten Art und Weise der Kommunikation und hat wenig mit Vernunft, Fortschritt, Durchleuchtung zu tun.
Die Gedankengänge Luhmanns sind hier notwendig komplex und ich kann sie nur in aller Knappheit vorführen. Zunächst haben die Systeme bei Luhmann eine zentrale Stellung. Die Wissenschaft ist ein solches System, das sich gegen andere Systeme durch die Art und Weise, wie es kommuniziert, abgrenzt. Die Wissenschaft spricht weder Recht, noch erzieht sie, noch tätigt sie Zahlungen: Sie entscheidet aufgrund eigener Operationen, was wahr und was falsch ist. Freilich heißt dies nicht, dass die Wissenschaft unabhängig ist. Luhmann ist Soziologe und er weiß, dass Bücher unterdrückt, Wahrheiten verschwiegen, Wissenschaftler denunziert werden können. Andererseits kann sich die Politik Experten heranholen, um sich über eine Sache zu informieren, um sich Entscheidungssicherheit zu holen. Ähnlich ist es mit dem Recht: Dieses operiert eigenständig; es begründet nicht selbst, warum ein Mensch zu einem Mörder geworden ist, aber die Rechtssprechung stützt sich auf Begründungen, die die Wissenschaft liefert. Nicht zuletzt ermöglichen Zahlungen, welche wissenschaftlichen Programme realisiert werden; und andersherum empfiehlt die Wissenschaft, was lohnenswert sein könnte, wo man am sichersten investieren könne. Die Wissenschaft arbeitet also mit eigenständigen Operationen, ist aber beständig an seine Umwelt gekoppelt. Dies ist einer der zentralen Gedankengänge Luhmanns.
Wie wird im Wissenschaftssystem nun entschieden, welche Aussagen wahr sind? Eine Möglichkeit, Kommunikation als wahre Kommunikation durchzusetzen, geschieht durch Reputation: Wer einen guten Ruf hat, wird mehr Wahrheiten produzieren können als jemand, der keinen oder einen schlechten Ruf hat; und andererseits ist der Ruf eine Möglichkeit, sich in der Wissenschaft zu orientieren oder sich die Orientierung zu vereinfachen. Der Ruf ist also eine "Selbstvereinfachung" im Wissenschaftssystem. Andererseits heißt dies auch für den jungen Wissenschaftler, dass er Reputationsmanagement betreiben muss, das heißt ein geschicktes Vorgehen, um sich einen Ruf zu erwerben.
Luhmann wird häufig als radikaler Konstruktivist bezeichnet. Seine Theorie autopoietischer Systeme liest sich zwar weitestgehend so, doch gibt es einen feinen Unterschied zu diesem freischwebenden "Alles ist möglich". Da die Konstruktion neuen Wissens immer in irgendeiner Weise Rücksicht auf gesellschaftliche Zusammenhänge nehmen muss, kann es sich weder bei Luhmann selbst noch bei anderen Wissenschaften um einen radikalen Konstruktivismus handeln. Selbst der radikale Konstruktivismus ist nicht so radikal, dass er sich nicht immer wieder selbst erklärt und sich versichert, aus welchen Traditionen er kommt. Neues Wissen muss nicht fortschrittlich sein, es muss vor allem zumutbar und nachvollziehbar bleiben. Luhmanns "Zauberformel" dafür lautet Plausibilität.

Insgesamt beleuchtet Luhmann in diesem Buch das wissenschaftliche System in zehn großen Kapiteln. Ich habe diese hier aus einem Grund nicht der Reihe nach dargestellt: Die Begriffe und Gedankengänge sind dermaßen vernetzt, dass man schlecht von einer Abfolge, von einem schrittweisen Aufbau des Buches reden kann. In meiner Darstellung oben berühre ich nur einige, wenige Punkte aus diesem gigantischen Begriffsnetz.
Das Buch ist nicht einfach und ich kann bei Luhmann immer nur mit Durchhalteparolen Mut machen, sich trotzdem an diesen schwierigen, aber großartigen Denker zu wagen. Gerade in diesem Buch muss er extrem dicht argumentieren, denn er argumentiert als Wissenschaftler selbst "von dem System der Wissenschaft her". Er muss also in aller Schärfe plausibel machen, was er macht, wenn er so schreibt, wie er schreibt. Und so ist dieses Buch neben seinem Grundlagenwerk "Soziale Systeme" vielleicht sein wichtigstes Buch. Da mag es beruhigen, dass Luhmann zwar hochkomplex ist, dass er aber im Kleinen sehr schlicht zu schreiben weiß und darüber auch für sehr abstrakte Phänomene einen Zugang erzeugen kann.
Von allen Büchern von Luhmann liebe ich vor allem dieses Buch. So ernüchternd es oft ist, so ist es, ganz unwissenschaftlich gesagt, auch sehr bezaubernd und auf sehr vernünftige Weise völlig verrückt.

Frederik Weitz



Taschenbuch | Erschienen: 01. Juni 1992 | ISBN: 3518286013 | Preis: 18 Euro | 732 Seiten | Sprache: Deutsch

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