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 Tokyo Love

Autoren: Hitomi Kanehara
Übersetzer: Sabine Mangold
Verlag: List

Cover
Gesamt +++--
Anspruch
Aufmachung
Brutalität
Gefühl
Preis - Leistungs - Verhältnis


Eine junge Frau in Tokio - ein so genanntes Barbiegirl mit blond gefärbtem Haar und einem Hang zu Extremen. Ohne Perspektive oder Ziel im Leben. Dem Exzentrischen nachspürend - um überhaupt etwas zu spüren in dieser kalten Welt?

Lui lernt ihren Freund Ama in einer Bar kennen. Eigentlich würde sie keinen zweiten Blick auf jemanden wie ihn verschwenden: ein Punk mit Irokesenschnitt und grell gefärbtem Haar, weder sonderlich hübsch noch sonderlich kräftig. Doch ein Detail an ihm weckt ihr Interesse. Seine Zunge ist in der Mitte gespalten. Selbst ein Zungenpiercing ist in Japan verpöhnt; umso mehr reizt Lui die Vorstellung, selbst eine so außergewöhnliche Zunge zu besitzen. Gemeinsam mit Ama sucht sie den Tätowierer Shiba auf, der ihr nicht nur die Zunge piercen, sondern das entstandene Loch nach und nach weiten soll, bis man den letzten Schritt vollenden und sie gänzlich spalten kann.
Shiba scheint auf den ersten Blick ein netter Kerl und ein Freund Amas zu sein. Lui will sich neben dem Piercing eine mystische Drachentätowierung bei ihm machen lassen, er jedoch verlangt im Gegenzug Intimität mit ihr. Lui erwehrt sich dieses Angebots nicht. Sie als Masochistin und Shiba als Sadist finden in dem Tätowierladen zueinander, während Ama nichts davon ahnt.
Dann überschlagen sich die Ereignisse. Erst schlägt Ama brutal einen Mann nieder, der Lui und ihre Freundin belästigt, dann verschwindet er spurlos. Hängen die beiden Ereignisse miteinander zusammen?

Autorin Hitomi Kanehara war zum Zeitpunkt des Erscheinens ihres 117 Seiten langen Debütromans "Tokyo Love" gerade 21 Jahre alt; der Roman wurde mit Preisen ausgezeichnet und erntete allgemeines Kritikerlob. Wenngleich man nun darüber diskutieren könnte, ob es sich bei dem im Original "Hebi ni piasu" heißenden Werk um eine Novelle mit Romanelementen oder um einen Roman im Novellenstil handelt, so lässt sich doch feststellen, dass sich die Handlung vornehmlich an eine jüngere Leserschaft richtet, die Kaneharas - und auch Luis - Werdegang nachvollziehen kann oder gar selbst erlebt hat. Die Autorin brach die Schule ab und unterwarf sich gesellschaftlichen Konventionen ebenso wenig wie ihre Romanheldin Lui. So wird der Leser mit Zungenpiercings, den so genannten split-tongues, also gespaltenen Zungen, Tätowierungen, Sado-Maso und anderen Obsessionen konfrontiert. Ein Faible muss man für diese Dinge schon besitzen, denn sie nehmen einen hohen Stellenwert ein; sie dienen als Katalysatoren der Handlung, denn ohne die gespaltene Zunge würde Lui Ama gar nicht kennen lernen, und ohne die Tätowierung würde sich Lui nicht Shibas Willen unterwerfen.
Aber erst mit Amas Verschwinden entwickelt der Roman Dynamik, und die oberflächliche Exzentrik, die als gegeben hingenommen wird, ohne näher beleuchtet zu werden, wird abgelöst von Passivität - die sich allerdings intensiver und stilistisch akzentuierter darstellt als die vorige Exzentrik. So lässt sich Lui erst zu diesem Zeitpunkt besser einschätzen und erfährt eine umfassendere Charakteristik, der Leser lernt sie von einer anderen, interessanteren Seite kennen.
Dann sind die 117 Seiten auch schon zu Ende gelesen. Zurück bleibt das Gefühl der Unvollständigkeit. Soll das schon alles gewesen sein? Und hier liegt die große Stärke des Romans. Kanehara sucht nicht nach einer überraschenden Wendung der Ereignisse oder einem ausgeklügelten Finale. Sie lässt, wie Lui, die Dinge geschehen, lässt ihnen ihren Lauf. Für ein umfassend befriedigendes Leseerlebnis reicht diese letzte Konsequenz jedoch leider nicht aus.

Hitomi Kanehara beweist mit "Tokyo Love", dass sie durchaus eine Entdeckung auf dem Literaturmarkt ist. Leider fehlt es an der verfeinernden Raffinesse, die den Roman aus den teilweise zu seichten Gewässern zieht. Die letzten zwanzig Seiten lassen jedoch hoffen, dass die junge japanische Autorin keine gefeierte Eintagsfliege ist.

Tina Klinkner



Hardcover | Erschienen: 1. September 2006 | ISBN: 3471795383 | Originaltitel: Hebi ni piasu | Preis: 14,95 Euro | 117 Seiten | Sprache: Deutsch

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