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 Ein Jahrhundert der Gewalt in Sowjetrussland


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Gesamt ++++-
Anspruch
Aufmachung
Preis - Leistungs - Verhältnis


Stalins Schreckensherrschaft wird im Westen überwiegend nicht mehr beschönigt. Anders sieht es mit Lenin aus, der zumeist eher als zielstrebiger Politiker und Stratege denn als Tyrann angesehen wird, und mit Chruschtschow, der das "Tauwetter" aufkommen ließ. Die Quellen aus der Sowjetunion führen diese Bilder ad absurdum, wie in diesem Buch ein "Insider" nachweist.
Der 1923 geborene Alexander Jakowlew hatte schon frühzeitig hohe Positionen im Sowjetstaat inne und kannte den Apparat daher gründlich. Je mehr er beobachtete, desto größer wurden die Zweifel am System und schließlich die Abscheu. Seine persönlichen Erfahrungen fließen daher in sein Buch ein.
Der Autor berichtet zunächst über sein eigenes Erleben von Chruschtschows bekannter Rede, die Stalin scheinbar von seinem Sockel stieß. Allerdings änderte sich trotz der Aufdeckung mancher Gräuel des Diktators nichts an den bewährten Praktiken des Regimes - Denunziation, Folter und Sippenhaft wurden, so Jakowlew, beibehalten. Im ersten Kapitel geht es zudem um die Hauptverantwortlichen des "Programms der Massenmorde" von den späten Zwanzigern bis in die frühen Sechzigerjahre.
Ein Kapitel befasst sich mit Kindern, die Opfer des mörderischen Regimes wurden - verschleppt, häufig von ihren Eltern getrennt, mit einem Kainsmal versehen, häufig auch hingerichtet oder an den erbärmlichen Bedingungen ihrer Gefangenschaft zugrunde gegangen.
Weitere Kapitel schildern die trostlose Geschichte der "Mitläufer", das heißt der Mitglieder jener Linksparteien, die von den Bolschewiki erbarmungslos verfolgt wurden, der Intelligenzija, die den Bolschewiki zutiefst suspekt war, weshalb diese das Land der meisten seiner klügsten Köpfe beraubten, der Geistlichkeit - sprich, der orthodoxen Kirche -, die als Konkurrentin um die Seelen des sowjetischen Volkes besonders erbittert und grausam verfolgt wurde, und jener Unglücklichen, die von Hitlers Schergen zur Zwangsarbeit verlockt oder gepresst worden oder in Kriegsgefangenschaft geraten waren, und unter Stalin daher als Kollaborateure deportiert oder umgehend ermordet wurden.
Ein eigenes Kapitel gilt den Deportationen, von denen mehr oder weniger ganze Völkerschaften betroffen waren, und die, wie der Autor ausführt, nicht zuletzt mit für die aktuellen Konflikte zwischen Tschetschenen und Russen verantwortlich sind. Aber auch der Antisemitismus wird ausführlich behandelt. Insbesondere geißelt Jakowlew dessen verstärkte "Gesellschaftsfähigkeit" im modernen Russland nach der Perestroika. Schließlich folgt ein Kapitel über die Massaker von Kronstadt bis Nowotscherkassk, die Reaktionen des Regimes auf Demonstrationen des Volkes waren, das im Rahmen seiner bescheidenen Möglichkeiten gegen unerträgliche Lebensbedingungen protestierte. Statt eines Epilogs folgt eine traurige, anklagende Bilanz.

Wer das "Schwarzbuch des Kommunismus" gelesen hat, wird grundsätzlich mit dem Inhalt dieses Buchs vertraut sein, das sich freilich auf die Gräuel in der Sowjetunion beschränkt. Jakowlew hat, wie aus dem Inhaltsabriss hervorgeht, seine Betrachtung des kommunistischen Terrors vor allem nach den Opfergruppen gegliedert. Er nennt viele Zahlen - Deportierte, Verhaftete, Folteropfer, Ermordete ("Eliminierte") -, geht aber immer wieder - und das macht dieses Buch sehr erschütternd und zu einer besonders bedrückenden Lektüre - auf Einzelfälle ein. Diese sind nicht unbedingt außergewöhnlich, was beispielsweise Foltermethoden und Willkür bei der Aburteilung betrifft, sondern spiegeln hauptsächlich das übliche Procedere wider und somit die Blutrünstigkeit einer Ideologie, der es auf Machterhalt durch Terror ankam.
Jakowlew untermauert seine bittere Anklage gegen Lenin, Stalin, Chruschtschow, Andropow und deren Handlanger durch eine Vielzahl von Quellen wie Originalbriefen und Telegrammen, die ganz eindeutig zeigen, dass es den "roten Zaren" niemals um Recht, sondern um Abschreckung ging. Nicht umsonst mussten auch in Sachen Verhaftungen und Todesurteile Quoten erfüllt werden, sodass grundsätzlich jeder betroffen sein konnte. Im Falle der Juden, oft auch der Zwangsarbeiter, richtete sich der Terror vielfach gegen linientreue Menschen, was die Praktiken der Sowjetregierungen besonders unverständlich erscheinen lässt.
Wer Geschichtsbücher nach den üblichen Regeln, das heißt, ohne erkennbare Subjektivität, gewohnt ist, wird sich gelegentlich an stark emotional gefärbten Einwürfen stoßen. Gerade diese aber machen dieses Buch "griffiger" und vermitteln ein tieferes Verständnis für die sowjetische Geschichte als etwa das "Schwarzbuch", dessen streng sachliche Auflistungen den Leser eher abstumpfen lassen. Der immer spürbare Hass und Zorn Jakowlews auf das System, dem er zunächst selbst angehörte, an das er bis zu ersten Zweifeln bedingungslos glaubte, und das Millionen ruinierte und tötete, verleitet den Autor indes niemals zu einer nicht durch Belege abgesicherten Behauptung. Insofern handelt es sich um ein vorzüglich recherchiertes Geschichtsbuch.
"Ein Jahrhundert der Gewalt in Sowjetrussland" lässt die eine oder andere Illusion, die wir möglicherweise bezüglich Lenins oder Chruschtschows, vielleicht auch Andropows hegen, erbarmungslos platzen. Der Autor hat aber auch das moderne Russland im Blick, das sich zusehends vom demokratischen Weg entfernt und zwischen Links- und Rechtsextremen aufgerieben wird.
Ein beeindruckendes und durchaus verstörendes Buch, das einen starken Nachgeschmack hinterlässt!

Regina Károlyi



Taschenbuch | Erschienen: 01. Oktober 2006 | ISBN: 9783833303890 | Originaltitel: A Century of Violence in Soviet Russia | Preis: 11,90 Euro | 368 Seiten | Sprache: Deutsch

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