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 Winterreise

Autoren: Meinrad Braun
Verlag: Dielmann

Cover
Gesamt ++++-
Anspruch
Aufmachung
Brutalität
Gefühl
Humor
Preis - Leistungs - Verhältnis
Spannung


Deutschland zwischen den Zeiten.
Das Jahr 1953 in Deutschland muß man sich, hat man es nicht selbst erlebt, als ein Niemandsland vorstellen: Die unmittelbare Nachkriegszeit ist gerade vorüber, das Wirtschaftswunder deutet sich noch kaum an. Entsprechend weiß niemand so recht, wohin die Reise gehen wird.

In diesem Land, es ist zumal Winter, unternimmt einer eine nur halb freiwillige Reise. Sie hat sich ihm aufgedrängt, nachdem er auf krude Weise vom Tod eines lange verschollen gewähnten ehemaligen Schulkameraden und phasenweisen Weggefährten erfahren hat: Der da reist, ist Pathologe, wurde 1900 geboren, so daß er den ersten ebenso wie den zweiten Weltkrieg mit erlebt hat, August Brenner heißt er und wurde noch an den Universitäten des Dritten Reiches ausgebildet. Inzwischen ist er selbst Professor, leitet Sektionen vor seinen Studenten. Und als Brenner eines Morgens verspätet in den Sektionssaal tritt, wird vor ihm die Leiche seines Schulkameraden und Ex-Kommilitonen Heinrich seziert.

Das kann selbst einen mit Formalin-Gestank und mit dem Tod insgesamt bestens vertrauten Menschen aus der Bahn werfen, zumal er seinerseits, wie der Leser aus Andeutungen über einen medizinischen Befund erfährt, mit dem Tod zu ringen hat - August Brenner bricht aus. Er hat sich die Habseligkeiten seines toten Freundes aus einem Asyl besorgt, das geliehene Auto seiner Geliebten bringt ihn von Hamburg aus ein erstes Stück weit durch das kalte Land seiner Winterreise. Er hat entdeckt, wie tief die gemeinsame Vergangenheit die unterschiedlichen, aber beide Male vom Tod bedrohten Existenzen geprägt hat - er sucht den Nazi-Mediziner, bei dem er seine Ausbildung genossen hatte, der seine "Präparate" im Einverständnis mit dem Betrieb von KZs erhalten, als "Wissenschaftler" aktiv an den Euthanasien der Nazis teil hatte und seine Studenten in dieses Elend hineinzerrte.

Diese Quest erzählt Meinrad Braun, der damit seinen Debüt-Roman vorlegt, in einer ruhigen, dabei hohe Dichtigkeit herstellenden Kraft. Die Zeit, die einst Wolfgang Koeppen in seiner Roman-Trilogie "Tauben im Gras", "Das Treibhaus" und "Tod in Rom" brillant ins Auge gefaßt hatte und vor einigen Jahren von Thomas Hettche in seinem "Fall Arbogast" eher aus Versatzstücken illustriert wurde, wird bei Meinrad Braun nachgerade riechbar. Je weiter die Winterreise von Brenner sich verlangsamt, weil er vom Auto auf die Bahn, von der Bahn auf Schusters Rappen umsteigt, besser herabsteigt - je schwieriger diese Wanderschaft wird und sich in die Niederungen des genau werdenden Blicks einläßt, desto reicher an Begegnungen wird sie. Wie in einem E.T.A. Hoffmannschen Panoptikum führt Meinrad Braun den Leser durch Zusammenkünfte mit Geschlagenen und Schlägern, mit Altvorderen und Ausreißern in eine fantasiereiche Zukunft, mit Kriegsgewinnlern und Sichdurchwurstlern.

Eine Serie von Szenen und Begegnungen rollt nun wie in einem Roadmovie ab. Sie alle sind von Figuren bewohnt, die man nicht so schnell loswerden wird, man erlebt Dialoge, die wie winterliche Atemfahnen kühl bleiben, aber dennoch ganze Reihen von Lebensentwürfen transportieren - und in den aufspringenden Abgrund einer gigantischen Mangelwirtschaft kippen.

Was einen als Leser hierbei am meisten aufwühlt, ist, dass nicht ständig ein allgemeiner Hunger herausgebrüllt wird von diesen Figuren, dass die physische Armut ebenso wenig wie die Hoffnungs- und Ideen-Leere nicht permanent zum Himmel schreit: Zwischen Fantasten, die teilweise ebenso faschistoid herrenmenscheln wie das acht Jahre vorher gestürzte Regime, und den vielen, die sich abfinden mit dem status quo, gibt es offenbar nur wenige, nur einzelne, die auf der Suche sind.

Brenners Begleiter auf seiner Suche ist, neben einem ganzen Röhrchen Schlafmittel und Heinrichs Pappkoffer, eine Aufnahme von Franz Schuberts "Winterreise", die dem Roman den Titel, aber auch die kühne Romantik beigibt. Das ist Aufbruch und Steckenbleiben in einem, das ist Aufgreifen eines Sturm und Drang, den Brenner in seiner studentischen Jugend erlebte, dann ablegen zu müssen meinte und nun zu beleben sich müht. Das ist Moderne mit hinreißenden Klangfiguren, aber zugleich Korsett aus Selbstverständlichkeiten des Althergebrachten. Man muss sich Schuberts Musik ohne die Lied-Texte von Müller vorstellen, um einen Begriff von diesem Aufwallen und Ausbrechen bei gleichzeitigem Verharren und Stillstand im Vertrauten, Vormodernen zu machen.

Am Ende steht Brenner seinem ehemaligen Lehrer und Nazi-Mediziner gegenüber, der noch immer vom Auftrag des Herrenmenschen doziert und erneut die Staatsmacht auf seiner Seite zu haben scheint. Mittlerweile ist Brenner selbst zum zerlumpten und desolaten Subjekt verkommenen und läuft Gefahr, in eine zwielichtige Zwischenwelt zu stürzen, wie sie hoffmannscher nicht sein könnte. Und dann setzt Meinrad Braun noch einen zweiten Schluss nach, der noch einmal eine große Wende vollführt - aber die muss man wirklich selbst lesen …

Toni Morheimer



Hardcover | Erschienen: 01. August 2006 | ISBN: 9783933974594 | Preis: 19 Euro | 176 Seiten | Sprache: Deutsch

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