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 Warum Robben kein Blau sehen und Elche ins Altersheim gehen

Pleiten und Pannen im Bauplan der Natur

Autoren: Jörg Zittlau
Illustratoren: Lucia Obi
Verlag: Econ

Cover
Gesamt ++++-


Je mehr wir über die Evolution wissen, desto deutlicher zeigt sich, dass sie sich keineswegs streng an Darwins Idee vom "Survival of the fittest" orientiert, sondern beim mittels der Chaostheorie am ehesten erfassbaren Experimentieren mit Versuch und Irrtum den einen oder anderen Bock schießt. Etliche dieser evolutionären Fehlgriffe haben erstaunlich lange überlebt. Jörg Zittlau hat eine interessante Auswahl solcher "Pleiten und Pannen im Bauplan der Natur", wie sie im Untertitel bezeichnet werden, zusammengetragen und beschrieben.
Wie man unschwer aus dem Titel ersehen kann, sind Robben - und übrigens auch Wale - nicht dazu in der Lage, die Farbe Blau zu erkennen, obwohl ihr natürlicher Lebensraum von genau dieser Farbe in diversen Schattierungen dominiert wird. Die entsprechende Fähigkeit ist ihnen im Laufe der Evolution verloren gegangen, möglicherweise noch zu der Zeit, als sie Landtiere waren. Wenn Elche hingegen in skandinavische Altenheime einbrechen und dort randalieren, gibt es einen handfesten Grund: Die großen Hirsche lieben im Herbst den Genuss überreifer, teils vergorener Äpfel, kommen aber wie die meisten Gelegenheitssäufer nicht so recht mit den Folgen des Alkoholgenusses klar und verlieren alle Hemmungen.
In zehn Kapiteln stellt der Autor die wohl eigenartigsten Kapriolen der Natur vor. So gibt es Schlangen, die eine sehr giftige Molchart als Leibspeise erwählt haben, jedoch aufgrund einer nicht ganz perfekten Resistenz gegen das Gift durch eine Molchmahlzeit so benommen werden, dass sie anschließend selbst für Vögel eine leichte Beute sind. Der Tölpel, als Guano-Fabrikant für einige Zeit die Basis des einstigen Wohlstandes von Peru und Chile, macht seinem Ruf alle Ehre, weil er sich von cleveren Darwin-Finken mit einem unglaublich simplen Trick die Eier mopsen lässt. Die Spitzmaus, das kleinste Säugetier, gehört zwar zu den Erfolgsmodellen der Evolution, doch verliert sie aufgrund ihrer ungünstigen Oberfläche-/Volumen-Relation so viel Energie, dass sie ständig fressen muss und daher unter enormem Stress steht.
Die originellsten und verblüffendsten Extreme hält, wer hätte es gedacht, die Fortpflanzung bereit, die sich mit den absonderlichsten Vorbedingungen und Mechanismen bisweilen selbst so sehr im Wege steht, dass ein Aussterben entsprechender Arten kaum verhindert werden kann. Beispiele hierfür möchten wir auf einer ohne Altersbeschränkung zugänglichen Plattform natürlich nicht nennen, aber so viel sei verraten: Staunen und Amüsement sind bei der Lektüre garantiert.

Wir neigen dazu, in der Natur das Schöne und Erhabene zu sehen, und übersehen dabei gern das Bizarre, das ebenfalls ein Element der Artenvielfalt und Evolution ist. Jörg Zittlau hat in seinem Buch eine herrlich kuriose Sammlung von anscheinend sinnlosen, oft absurd wirkenden Ausprägungen des in der Evolution immer wirksamen Zufalls zusammengetragen und erläutert die einzelnen "Fälle" zwar durchaus sachlich, aber dabei mit einem nicht selten sarkastischen, trockenen Humor, sodass der Leser des Öfteren das Lachen nicht zurückhalten kann; hierzu tragen auch die vielen drolligen Illustrationen bei. Ein launig verfasstes Sachbuch mit hohem Unterhaltungswert? Und warum nicht? Es fehlt ja nicht an gut recherchierten und aufbereiteten Fakten, im Gegenteil. Trotz der humorigen Einlagen kann man dem Autor keine anthropozentrische Haltung vorwerfen, auch wenn das Thema durchaus dazu verleitet. Die Lektüre schärft den Blick des Lesers für eine kritischere, differenziertere Betrachtung der Evolution, die sich nun einmal nicht immer zielstrebig nach vorn und hin zu optimierten Lebewesen richtet, sondern beim genauen Hinsehen den Eindruck erweckt, sie habe bei der "Erfindung" mancher Art demselben Laster gefrönt wie die Elche vor ihren Ausschweifungen im Altersheim. Der Leser erkennt zudem auch die Grenzen der Möglichkeiten des Artenschutzes: Bei manchen Arten handelt es sich um derart gravierende Fehlkonstruktionen, dass ihr Aussterben vom Menschen allenfalls beschleunigt, aber nicht durch ihn bedingt wird.
Es darf uns nicht verwundern, dass der Autor im abschließenden Kapitel seine eigene Spezies unter die Lupe nimmt und auch bei ihr einige problematische Erbstücke entdeckt, die zum Teil in der Vergangenheit sinnvoll waren, heute aber eher schädlich sind. Dazu gehört der Jojo-Effekt von Diäten zur Gewichtsreduktion, der in Zeiten gewohnheitsmäßigen Nahrungsmangels entwickelt wurde und in Gesellschaften mit Nahrungsüberschuss zu Wohlstandskrankheiten führt.
Was Elche ins Altenheim treibt, weiß der Leser nach der äußerst kurzweiligen Lektüre. Warum freilich die Robben kein Blau sehen, bleibt ebenso ungeklärt wie beispielsweise die Frage, weshalb Marienkäfermännchen im Rausch der Frühlingsgefühle nicht wenige ihrer Partnerinnen schier zu Tode lieben. Die Launen der Natur, so der Tenor des Buchs, können für unser Empfinden originell, aber auch grausam sein - und lassen sich in vielen Fällen nicht nachvollziehen.

Regina Károlyi



Hardcover | Erschienen: 1. Januar [Value3] | ISBN: 9783430300124 | 192 Seiten | Sprache: Deutsch

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