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 Meridiane: Die Nacht der Kalligraphen

Serie: Meridiane
Autoren: Yasmine Ghata
Übersetzer: Andrea Spingler
Verlag: Ammann

Cover
Gesamt +++++
Anspruch
Aufmachung
Gefühl
Preis - Leistungs - Verhältnis


Es ist der 26. April 1986 und der Todestag der türkischen Meister-Kalligraphin Rikkat Kunt. Istanbul feiert das Tulpenfest. Nach ihrem Tod im Alter von 83 Jahren hält Rikkat Kunt Rückblick auf ihr Leben. Der Tod war "so sanft, wie die Spitze der Rohrfeder, wenn sie ihre Fasern ins Tintenfass taucht, und rascher, als das Papier die Tinte aufsaugt". Als ihre Hände anfangen zu zittern und ihr Geist nicht mehr gehorcht, ist es Zeit die Kalligraphieutensilien und das Leben zu ordnen.

Rikkat Kunt blickt zurück auf ein Leben mit zwei ungeliebten Männern und zwei Söhnen, von denen sie einen verliert. Sie flüchtet in die Kalligraphie, die ihr Linderung und Kraft gibt. Ihren ersten Mann, den sie als sehr derb beschreibt, lernt sie bei dessen Rückkehr aus Deutschland kennen. Den kalligraphischen Kompositionen seiner Frau schenkt er kaum Beachtung. Er soll sie um ihre besten Jahre betrügen, ihr gefällt nichts an ihm, und ihr Vater hält ihre Sprachlosigkeit für Zustimmung. Der Zweite ist ein albanischer politischer Flüchtling, ein Freund des Vaters. Er ist eine schillernde Persönlichkeit, ein Levantiner, der die Frauen liebt und das Geld. Nach einem Zwischenfall muss er überstürzt das Haus verlassen, den gemeinsamen Sohn nimmt er mit.

Rikkat Kunt widmet sich schon früh der arabischen Kalligraphie, die rein von Männern dominiert wird. Beharrlich und mit unermüdlichem Fleiß wird sie von der Schülerin zur Lehrerin und dann Professorin an der Kunstakademie in Istanbul. In einer Kalligraphiewerkstatt lernt sie den Kalligraphen Selim kennen, der sie nach seinem Selbstmord zur Erbin macht und ihr seine Kalligraphieutensilien hinterlässt. Damit tritt sie ein in die Linie der Kalligraphen. Selim wirkt fortan durch sie, führt ihre Hand und vermittelt ihr die alten Rezepte und Geheimnisse.

Yasmin Ghata erzählt in diesem außergewöhnlichen Buch die Geschichte ihrer Großmutter, einer bekannten türkischen Kalligraphin, die nach Ansicht ihrer Kollegen die traditionelle Kunst der Kalligraphie in der Türkei erneuert und für zeitgenössische Abwandlungen geöffnet hat. Sie beschreibt aber nicht nur die Lebensgeschichte ihrer Großmutter in sehr poetischen Worten, sondern es gelingt ihr auch die jahrhundertealte Tradition der arabischen Kalligraphie in vielen verschiedenen Aspekten und Dimensionen zu behandeln.

Ein Aspekt ist der politische. Atatürk hat die Türkei nach westlichem Vorbild reformiert und dabei auch die arabische Kalligraphie verboten, die für ihn anachronistisch war und einer Zukunft und Entwicklung des Landes somit im Wege stand. Rikkat Kunt findet dennoch Möglichkeiten, die von ihr so sehr geliebte Kunst weiter auszuüben und ihr sogar zu einer Weiterentwicklung zum Zeitgenössischen zu verhelfen.

Der gesellschaftliche Aspekt ist dort zu finden, wo sie beschreibt, wie sehr die Kalligraphie eine Männerdomäne ist und mit welchen Schwierigkeiten Rikkat Kunt zu kämpfen hat, um sich durchzusetzen und Fuß zu fassen. Als sie, einzige Frau unter hundert Männern, einen Wettbewerb gewinnt, wird ihr das Ergebnis nicht mitgeteilt, weil man mit einem wütenden Ehemann rechnet. Dennoch wird sie Lehrerin und sogar Professorin und ihre Arbeiten werden in Paris ausgestellt. Dann geht es natürlich auch um die Entrechtung der Frau, die mit einem ungeliebten Mann zwangsverheiratet wird und der man gegen ihren Willen den geliebten Sohn entzieht. Es ist die Geschichte der Türkei zwischen Tradition und Moderne, zwischen Europa und Orient.

Psychologisch gesehen, nutzt Rikkat Kunt die Kalligraphie, um aus ihren unglücklichen Ehen zu entfliehen, der Lebensrealität mit den ungeliebten Ehemännern. Die Kalligraphie wird ihr Trost und ihre Zuflucht, was natürlich weitere Konflikte heraufbeschwört. Nicht zuletzt ist es auch ihr Lebensinhalt und Lebenssinn.

Die mythische und religiöse Dimensionen scheint da auf, wo die Kalligraphen als ein Werkzeug Gottes beschrieben sind, der durch sie wirkt und seinen Geist mitteilt. Selbst die verstorbenen Kalligraphen nehmen Einfluss aus dem Jenseits, um ihr Werk zu vollenden und ihre Geheimnisse mitzuteilen.

Nicht zuletzt wird das bildhafte, ornamentale und dekorative Element der arabischen Kalligraphie von der Autorin erwähnt. Die Schönheit der Schrift, die das Bilderverbot im Koran umgeht und diesen illustriert, indem mit den Schriftzeichen kunstvolle Arabesken und Ranken geschaffen werden. Bleibt zu erwähnen, dass die Kalligraphie natürlich auch der Informationsübermittlung diente, ursprünglich in erster Linie, um die Texte des Koran zu erhalten und zu vermitteln.

Yasmine Ghata erzählt all dies in einer eindringlich poetischen Sprache, die den arabischen Schriftzeichen in nichts nachsteht in ihrer Schönheit und Bildhaftigkeit. Sie ist voller Schwünge und Arabesken, sie verdichtet sich in blumenhaften Ranken, um dann wieder in langen Linien auszulaufen. Sie ist damit sehr orientalisch in der Darstellung der Personen, sehr ornamenthaft in der Schilderung der Ereignisse. Die Geschichte bekommt stellenweise etwas so Phantastisches, dass man sich vor Augen halten muss, dass diese außergewöhnliche Frau tatsächlich gelebt und gewirkt hat und ihre Kalligraphien noch heute zu bewundern sind.

Das auch optisch ansprechende, in graues Leinen gebundene Buch mit rotem Lesezeichen ziert auf dem Titel eine Arbeit von Shirin Neshat: eine Hand vor einem Frauengesicht, bedeckt mit arabischen Schriftzeichen; besser könnte ein Titel nicht gewählt sein. Hier ist dem Verlag in jeder Beziehung ein ganz außergewöhnliches Buch gelungen, ein Werk voller Poesie, Zauber und Schönheit.

Sabine Seip



Hardcover | Erschienen: 1. Februar 2007 | ISBN: 9783250600862 | Originaltitel: La nuit des calligraphes | Preis: 17,90 Euro | 153 Seiten | Sprache: Deutsch

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