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 Die Nacht, die Lichter

Stories

Autoren: Clemens Meyer
Verlag: Fischer

Cover
Gesamt +++--
Anspruch
Aufmachung
Brutalität
Gefühl
Humor
Preis - Leistungs - Verhältnis
Spannung


Der Film "Lichter" von Hans-Christian Schmid warf 2003 in fünf unabhängigen Handlungssträngen einen flüchtigen Blick in einige Leben. Arbeitslose in der Grenzstadt Frankfurt an der Oder, Flüchtlinge, Zigarettenschmuggler, ein Taxifahrer und ein junger Architekt aus Deutschland sind gefangen in von alltäglichen und existenziellen Problemen geprägten Situationen. Darin nämlich liegt deren Schlagkraft, dass sich jedes von diesen Problemen schon gegen die Existenz richtet. Der Film schildert den Zeitabschnitt, in dem einen kurzen Augenblick die Möglichkeit durchschimmert, dass alles gut werden könnte. Am Ende erreicht ein Flüchtling sein Ziel, Berlin, um die Lichter der verheißungsvollen Großstadt für seinen Bruder zu fotografieren und sich selbst in den Lichtern und der Menschenmasse aufzulösen. Alle anderen Geschichten sinken wieder zurück in die vorherige Hoffnungsarmut.

"Die Nacht, die Lichter" heißt das zweite, vieldiskutierte Buch von Clemens Meyer, das nicht nur im Titel, sondern auch in der Leitmetaphorik dieses Titels an den Film von Schmid erinnert. "Die Nacht, die Lichter" versammelt 16 "Stories", ebenfalls aus unzusammenhängenden Lebensfäden, ebenfalls mit einem Personal von überwiegend Unterprivilegierten, die versuchen auch ein Zipfelchen vom Glück zu erhaschen. In der Gattungsbezeichnung erfolgt auch ein Bezug zur short story, die in den letzten Jahren im deutschsprachigen Raum vor allem durch Ingo Schulzes "Simple Stories" kultiviert wurde.

In der Geschichte "Warten auf Südamerika" bekommt der Protagonist Frank plötzlich, nach einer Kontaktpause von drei Jahren, Briefe und Postkarten von seinem alten Freund Wolfgang, der, wie er in diesen Postkarten beschreibt, von seinem Onkel etwas Geld geerbt hat und jetzt durch Kuba und Südamerika reist. Und so schildert er dem daheimgebliebenen Freund, der es nicht so weit geschafft hat, eine Mayapyramide in Yucatán, die riesige, über dem Meer untergehende Sonne oder die erotischen Abenteuer mit einer Indianerin. "Ich wünsche mir," schreibt Wolfgang, "dass Dir mein Brief Kraft und Mut gibt. Einer von der alten Garde hat es geschafft."
Und da leuchtet sie auf, die Hoffnung, und macht das Leben etwas erträglicher. Denn dass Wolfgang es geschafft hat, bedeutet, dass auch Frank es schaffen könnte. Umso unangenehmer wirken die Zweifel, die zuerst subtil, dann immer deutlicher in die Story eingeflochten sind: Vielleicht erfindet Wolfgang all das nur, vielleicht erzählt er nur Geschichten - und schon fängt der Text an, über sich selbst zu sprechen. Das Schweben zwischen Eskapismus und Enttarnung wird zu einer poetologischen Bestimmung des Erzählens selbst, ohne moralisierend auf eine Seite festgelegt zu werden.

Überhaupt zeichnet es Clemens Meyer aus, dass in seinen Texten das hinter den Dingen Liegende durchschimmert, ohne den Zauber zu verlieren. Und doch kommt immer wieder das Zerstörerische durch, meist als Selbstzerstörung. In der Geschichte "Die Flinte, die Laterne und Mary Monroe" beschreibt der Erzähler das Zimmer, in dem er sitzt und damit zugleich den hermetischen Zustand, in dem er sich befindet. Im Nebenzimmer liegt die Freundin und der Erzähler versucht das Zerstörerische in sich zu bändigen, ihr zuliebe. Umso schmerzlicher ist es, als plötzlich die Wirklichkeit in diese Hermetik einbricht.

Mit Meyer scheint die Literatur wieder einmal die unterste Schicht der Gesellschaft entdeckt zu haben, neben den beiden bereits erwähnten Gestalten tummeln sich da allerlei deklassierte Existenzen, Hartz-IV-Empfänger, Gefängnishäftlinge, Bordellbesucher, Drogenabhängige, abgehalfterte Boxer. Natürlich könnte man jetzt den Vorwurf von Sozialromantik und Exotismus auspacken, doch hieße das, den Texten die eigene Erwartung überzustülpen. Es ist ein graues und zugleich schillerndes Ensemble, das Meyer in seinem Buch auflaufen lässt, grau von der Tristesse und Hoffnungslosigkeit, durch das immer die Lichter schimmern, dass alles doch gut werden könnte, wie sie es auch im Film von Hans-Christian Schmid tun. Manche von diesen ansatzlos einsetzenden und endenden Miniaturen greifen dem Leser tief in die Magengrube, manche gehen flüchtig vorüber. Immer aber drehen sie sich um den Scheidepunkt zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit. Olli Schulz singt in seinem Lied "Spürhund": "Man ist bestens ausgerüstet/auf der Suche nach dem Glück/Mit den besten Spezialisten/und man nimmt gern alles mit/was nur irgendwie nach Spaß riecht/und das große Los verspricht/und wenn es still wird kann man fühlen/wie das Herz zerbricht". Bei Clemens Meyer hört man jenes Klirren deutlich - oder tritt mitten in die Scherben. Doch vielleicht wird ja doch noch alles gut, alles setzt sich wieder zusammen und morgen fängt dann auch endlich das Leben an.

Stefan Rehm



Hardcover | Erschienen: 01. Februar 2008 | ISBN: 9783100486011 | Preis: 18,90 Euro | 272 Seiten | Sprache: Deutsch

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