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Auge und Gehirn - Wie unser Gehirn sieht

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, heißt es. Und doch wurde das Bild im Gegensatz zur Sprache von der Forschung lange Zeit eher stiefmütterlich behandelt. Dabei kommt dem Bild nicht nur in der bildenden Kunst eine besondere Rolle zu, sondern auch in der Werbung oder im Journalismus. Wir sind umgeben von Bildern, aber was passiert eigentlich, wenn wir Bilder sehen?

Zum Sehen ist zunächst einmal Licht erforderlich. Denn wo kein Licht ist, können wir nichts sehen. Allerdings nehmen wir von dem Licht, das in unser Auge fällt, nur einen Bruchteil wahr. Welcher Bruchteil das ist, entscheidet die Aufmerksamkeit, die die Verarbeitung der visuellen Reize im Gehirn beeinflusst: Sehen ist nämlich kein passiver, sondern ein aktiver und vor allem konstruktiver Prozess, der nicht nur vom einfallenden Licht, das heißt, der uns umgebenden Welt, abhängt, sondern auch vom Sehenden und seinen bisherigen Erfahrungen.

Ein Vergleich zwischen der Funktionsweise einer Kamera und der menschlichen visuellen Wahrnehmung ist somit nur sehr eingeschränkt sinnvoll und richtig: Es gibt ein optisches System (Objektiv der Kamera vs. Linse des Auges), das Licht den Gesetzen der Optik entsprechend einfängt und auf eine lichtempfindliche Oberfläche (Film bzw. Bildsensor vs. Netzhaut) projiziert. Natürlich funktioniert die Netzhaut anders als ein Film oder der Bildsensor einer Digitalkamera, aber die Abbildung des Lichts auf der lichtempfindlichen Oberfläche funktioniert in beiden Fällen ähnlich und gehorcht den Gesetzen der Optik.

Der größte und entscheidende Unterschied zwischen dem Fotografieren und dem Sehen liegt in der Weiterverarbeitung der gewonnenen Daten. Beim Fotografieren wird das gesamte Licht, das auf der lichtempfindlichen Oberfläche ankommt, zu einem Foto weiterverarbeitet, und es entsteht ein „passives“ Abbild des durch das Objektiv fallenden Lichts. Bei der visuellen Wahrnehmung des Menschen ist das anders. Die Aktivierung der lichtempfindlichen Rezeptoren bildet zwar die Grundlage für die Weiterverarbeitung, ist aber nur ein kleiner Schritt auf dem Weg zum wahrgenommenen Bild, das eben nicht nur ein „passives“ Abbild des auf die Netzhaut fallenden Lichts ist. Zunächst zieht der Sehnerv, mit den Lichtinformationen, auf eine ihm sehr eigene Weise einmal quer durch das Gehirn bis zum rückwärtigen Ende der Hirnrinde, zum so genannten primären visuellen Kortex. Hier werden die weitergeleiteten Informationen in einem Areal namens V1 vorverarbeitet.

Das Areal V1 macht insgesamt 15 Prozent der Hirnrinde aus, ist aber nicht allein für die visuelle Wahrnehmung zuständig. Insgesamt sind 60 Prozent der Hirnrinde mit der Verarbeitung visueller Reize befasst, was die Bedeutung des Sehens für das (Über-)Leben der Menschen erahnen lässt.

Es gibt Nervenzellen in V1, die nur auf bestimmte Reizmerkmale reagieren, beispielsweise Bewegung, Orientierung oder Farbe. Je weiter die Verarbeitung voranschreitet, desto weiter entfernt sie sich räumlich vom vorverabeitenden V1 und desto spezialisierter werden die einzelnen Gehirnareale, die für die Verarbeitung zuständig sind. So gibt es Areale, die nur für die Verarbeitung von Formen oder Bewegungen zuständig sind, und dass der Mensch ein hochsoziales Wesen ist, erkennt man auch daran, dass der Verarbeitung menschlicher Gesichter ein eigenes Areal zur Verfügung steht.

Die Reizmerkmale werden also parallel in und von hochspezialisierten Arealen verarbeitet. Das ist zwar von Vorteil für unsere Wahrnehmungsgeschwindigkeit, wirft allerdings auch die Frage auf, warum und vor allem wie ein rollender, roter Ball als solcher schließlich „ganzheitlich“ wahrgenommen wird, denn wir sehen ja nicht: etwas Rundes, etwas Rollendes und etwas Rotes. Dieses so genannte Bindungsproblem ist bisher von der Forschung noch nicht eindeutig beantwortet worden.

Welche Reize, die auf der Netzhaut ankommen, letztlich so weit verarbeitet werden, dass wir sie tatsächlich sehen, hängt vor allem von der Aufmerksamkeit ab. Wollte man den Vergleich des Sehens und Fotografierens auf die Spitze treiben, so könnte man sagen: Das Analogon zum Fotografen ist die Aufmerksamkeit. So wie nur das auf der Fotografie zu sehen sein wird, was der Fotograf auswählt und für fotografierenswert hält, so werden nur Reize, denen wir Aufmerksamkeit schenken, von den spezialisierten Arealen weiterverarbeitet.

Was aber gelangt in den Fokus unserer Aufmerksamkeit und vor allem: Steuern wir unsere Aufmerksamkeit oder steuert unsere Aufmerksamkeit uns? Da es zwei verschiedene Formen von Verarbeitung gibt, ist beides der Fall.

In der so genannten Bottom-Up-Verarbeitung werden Reize automatisch und reflexiv verarbeitet. Reflexive Reize wirken auf alle Menschen ähnlich, denn die Reaktion darauf ist Teil der menschlichen Grundausstattung. In Marketing und Werbung werden emotionale, irritierende oder widersprüchliche und physisch intensive Reize als reflexive Reize betrachtet. Das Kindchen-Schema beispielsweise macht glücklich1, sexuelle und gewalttätige Inhalte „fesseln“ unsere Aufmerksamkeit2, aber auch bestimmte Kontraste oder Farbkombinationen (physische Reize) werden vom System „Gehirn“ weitgehend automatisch detektiert, selektiert und damit wahrgenommen.
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Kindchenschema


Dass das automatische Wahrnehmen (lebens-)bedrohlicher und unbekannter Reize das Überleben des Individuums fördert, ist wahrscheinlich jedem unmittelbar einsichtig. Und so haben sich in der Evolution ebenjene Individuen fortgepflanzt, die zu dieser automatischen Wahrnehmung fähig waren. Emotionen spielen bei dieser automatischen Verarbeitung ebenfalls eine große Rolle, denn sie transportieren - schnell und automatisch - die Bedeutung eines Reizes für den Organismus. Angst zeigt Gefahr an - man muss also bei dem Anblick einer Pistolenmündung nicht erst überlegen, woher man das Gesehene kennt und was für Erfahrungen man damit gemacht hat, sondern das Gehirn kann dank der damit verbundenen Angst quasi automatisch die Gefahr für das eigene Leben erkennen.

In der Top-Down-Verarbeitung ist die Reizverarbeitung vom Individuum, seinen bisherigen Erfahrungen und dem Wahrnehmungskontext abhängig. Was wir bisher gelernt und im Gedächtnis gespeichert haben, unsere persönlichen Erwartungen, Meinungen und Erfahrungen, sind hier bedeutsam und damit natürlich auch die Kultur, in der wir leben. Die angesprochene Pistolenmündung kann sich unserer Aufmerksamkeit relativ sicher sein, weil wir gelernt haben, dass Pistolen töten können. Allerdings wird der Reiz zugleich auch top-down verarbeitet, was länger dauert, aber den Automatismus „Pistole - Angst - Gefahr - Aufmerksamkeit – Verhalten (zum Beispiel Flucht)“ modifiziert, sodass erkannt wird, dass das Foto einer Pistolenmündung keine unmittelbare Gefahr darstellt und somit das entsprechende Verhalten trotz unserer Aufmerksamkeit nicht ausgelöst wird. Bottom-Up- und Top-Down-Verarbeitunsprozesse laufen also parallel ab und greifen ineinander.

Was bedeutet das alles aber nun für unsere alltägliche Wahrnehmung?
Der Mensch, so könnte man sagen, wendet sich aufgrund seiner durch die Evolution ausgesuchten Natur automatisch (und schnell) besonderen Reizen zu: vor allen Dingen potenziell lebensbedrohlichen Reizen. Generell zeigt der Mensch eine Tendenz hin zu Negativem. So werden negative Reize nicht nur schneller wahrgenommen, sondern auch beispielsweise besser erinnert als positive, denn zu vergessen, dass eine Frucht lecker schmeckt, ist nicht so schlimm, wie zu vergessen, dass eine Frucht bitter schmeckt und zu Bauchweh führt.

Doch der Mensch ist nicht nur mit einer automatischen und reflexiven Bottom-Up-Verarbeitung ausgestattet, sondern kann auch kontrolliert und willentlich seine Aufmerksamkeit auf etwas richten. So kann zwar die kontrollierte Aufmerksamkeit jederzeit von reflexiven Reizen abgelenkt werden (siehe Studie unter Fußnote 2), wird dafür aber auch länger aufrechterhalten. Bilder, die also allein auf reflexive Reize setzen, können sich zwar der Aufmerksamkeit des Betrachters relativ sicher sein, wie lange diesem Bild allerdings Aufmerksamkeit geschenkt wird, steht dann auf einem anderen Blatt und ist von vielerlei abhängig - insbesondere in einer Welt, in der unzählige Bilder um die Aufmerksamkeit der Betrachter buhlen.

Eine Fotografie lediglich auf ihr Abbild zu reduzieren, greift zu kurz. Fotos vermitteln etwas; was das sein kann, ist von Bild zu Bild verschieden, und ob ein Bild den Betrachter wirklich interessiert und seine Aufmerksamkeit halten vermag, kann man als Fotograf nicht wissen – so sind Urlaubsfotos meist nur für die eigene Familie interessant, auch weil sie oft den ästhetischen Ansprüchen des Betrachters nicht genügen. Denn natürlich hat auch die Ästhetik eines Fotos Einfluss auf die Dauer der Aufmerksamkeit, die ihm geschenkt wird.

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Welches dieser Fotos fesselt die Aufmerksamkeit länger? Entscheiden Sie.


Für Berufs- und ambitionierte Hobbyfotografen wäre darum auch eine Psychologie der Ästhetik von Interesse – das aber ist eine ganz eigene Fragestellung, und deren Erörterung würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen.



1 http://www.focus.de/gesundheit/baby/news/hirnforschung-kindchenschema-wirkt-wie-kokain_aid_404919.html oder
http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,628330,00.html behandeln beide dieselbe Arbeit
2 http://www.wissenschaft.de/wissenschaft/news/256438.html - Erotik macht blind

Benutzte und weiterführende Literatur
E. Bruce Goldstein: Wahrnehmungspsychologie, Spektrum Akademischer Verlag
Jochen Müsseler & Wolfgang Prinz: Allgemeine Psychologie, Spektrum Akademischer Verlag
Nina Zschocke: Der irritierte Blick. Kunstrezeption und Aufmerksamkeit, Wilhelm Fink Verlag

Katja Maria Weinl, 28.02.2010