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 Alzheimer


Cover
Gesamt ++++-
Anspruch
Aufmachung
Bildqualität
Preis - Leistungs - Verhältnis


In dem Bildband "Alzheimer", erschienen im Kehrer Verlag, hat der Fotograf Peter Granser Bewohner des Stuttgarter Gradmann Hauses, einer Wohneinrichtung für Alzheimer-Patienten, porträtiert. Das Buch erschien erstmals 2005, in 2009 gibt es nun eine Neuauflage. Herausgekommen ist eine anrührende Fotoserie von eigentümlicher Ästhetik, die den Betrachter zweifellos in den Bann schlägt. Wer nun "Halt!" ruft angesichts der "Ästhetik", dem sei dringend die Lektüre des Vorwortes angeraten. Denn beim ersten Blättern durch dieses Werk werden garantiert kritische Fragen aufgeworfen nach Anspruch und Ziel der Fotoreihe. Schließlich sind diese Aufnahmen eine durchaus einseitige Sache, denn die hier Porträtierten sind größtenteils ahnungslos; sie wissen nicht, dass sie fotografiert werden und dass diese Bilder zur Veröffentlichung gedacht sind. Ist das also Bloßstellung, Sensationsmache? Ist es gar ein Zurschaustellen von medizinischen Kuriositäten, so wie dies vor vielen Jahren üblich war? Darauf geht Christoph Ribbat in einem mehrseitigen Vorwort explizit ein und beantwortet die Frage mit einem klaren Nein.

Zum einen spricht für die Bilder, dass sie anonymisiert und nach längerem Vorgespräch mit den Angehörigen der Demenz-Patienten entstanden sind. Zum anderen sind es schöne, sanfte Bilder, die den Erkrankten nicht zu Leibe rücken, sondern ihre Würde bewahren. Sie zeigen Menschen, die zwar teilweise leicht derangiert wirken, doch sie zeigen keine entblößenden Momente, keine Verwirrten in ihren Betten, keine alten Leute, die ihre Kleidung verkehrt herum tragen, keine Verwahrlosung. Wüsste man nicht, dass die Fotografierten Alzheimer haben, so würde man vermutlich ganz normale Senioren unterschiedlichster Stimmung dahinter vermuten. Aufschlussreich ist der Hinweis im Vorwort, dass es sich bei dem Stuttgarter Gradmann Haus um ein Vorzeigeprojekt handelt, um eine Einrichtung, die ganz besonders auf die Bedürfnisse von Alzheimerpatienten eingeht. Die Zustände in anderen Einrichtungen dürften demgegenüber verheerend sein.

Unbestritten wirken die Bilder in gewisser Hinsicht schonungslos auf den Betrachter; die Gesichter sind gerade durch die hellen, pastelligen Farben sehr verletzlich und geradezu nackt. Manche der hier Porträtierten scheinen ängstlich und desorientiert, diese Bilder sind eher schwer zu ertragen, wenn man weiß, dass die Menschen an Alzheimer leiden. Andere jedoch sind fröhlich, die Kamera fängt einen Ausdruck ein, den man eher im Gesicht von Kindern vermutet - Sorglosigkeit ist es wohl, ein Losgelöstsein von Problemen und Sorgen.
Eine Frau hält sich ihr Gesicht, ein Mann im karierten Hemd blickt nachdenklich, eine Seniorin birgt zärtlich ein Stofftier im Arm, eine andere, die ein Pflaster auf der Stirn trägt - vielleicht durch einen Sturz, wir wissen es nicht - blickt ausgesprochen verschmitzt. Man kann sehr viel in diese Aufnahmen hineininterpretieren mit dem Wissen um die Krankheit, die sich im Gehirn der alten Leute ausgebreitet hat, allerdings wird man wohl nie wissen, was wirklich im Moment der Fotografie empfunden wurde. So sollte man die Bilder einfach auf sich wirken lassen. Die hellen Farben schaffen dabei in gewisser Weise eine Distanz, heben die Fotos etwas aus der Realität heraus und wirken wie ein Weichzeichner.
Man fragt sich - nachdem die Bilder teilweise schon im Jahr 2001 entstanden sind - was aus den hier fotografierten Menschen wurde. Leben sie noch? Wie weit ist ihr Verfall inzwischen fortgeschritten?

Die Portraits nehmen dabei jeweils die Hälfte einer Doppelseite ein, die linke Seite ist stets weiß geblieben. Die Bilder stehen komplett für sich, es gibt keine Bildunterschriften, keine Namen oder Hintergrundinformationen. Ganz hinten im Anhang sind alle Bilder nochmals in kleinem Format aufgelistet mit einem kurzen Hinweis auf das Entstehungsjahr und die Bildnummer. Neben einem kurzen Vorwort von Michael Schmieder, dem Leiter des gerontopsychiatrischen Krankenhauses Sonnweid in Wetzikon, und dem längeren einleitenden Text von Christoph Ribbat findet sich in dem Bildband auch noch ein Text über das Gradmann-Haus in Stuttgart-Kaltental. Alle Texte sind auf Deutsch und Englisch enthalten.

Fazit: Ein hochwertig aufgemachter Bildband mit intimen Aufnahmen von an Alzheimer Erkrankten. Die ganze Bandbreite an Gefühlen - Angst, Verzweiflung, Trauer, Freude, Ausgelassenheit - ist in den hier dargestellten Gesichtern vertreten. Dieser Band will mit Bedacht durchgeblättert werden, er hinterlässt sicher zwiespältige Empfindungen. Das Vorwort sollte man auf jeden Fall lesen, es klärt viele Fragen, die sich bei der Betrachtung auftun. Insgesamt eine ungewöhnliche Fotostrecke, bei der sich allerdings die Frage stellt, für wen sie gedacht ist. Für Interessierte, für Mediziner, für selbst Betroffene, für Angehörige, für Liebhaber von Portraitfotografie? Trotz der sehr gelungenen, sehr sanften Fotos bleibt beim Betrachter ein kleines Gefühl des Verschämtseins, weil man sich als heimlicher Beobachter fühlt, trotz aller Anonymität.

Christina Liebeck



Hardcover | Erschienen: 01. Januar 2009 | ISBN: 9783868280388 | Preis: 25 Euro | 96 Seiten | Sprache: Deutsch, Englisch

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