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 Moloch


Cover
Gesamt ++++-
Anspruch
Aufmachung
Brutalität
Preis - Leistungs - Verhältnis
Spannung


Der vorliegende Band "Moloch", herausgegeben von Peter Crowther, präsentiert vier Erzählungen namhafter Autoren, durch die thematische Klammer "Großstadt" zusammengehalten. Die vier Autoren fassen dieses Thema sehr unterschiedlich auf; die Erzählungen decken stilistisch und inhaltlich eine große Bandbreite ab. Ergänzt wird der Band durch eine Vorbemerkung des Herausgebers Crowther; Hintergrundinformationen über die Autoren fehlen. "Moloch", vom Verlag als Science-Fiction etikettiert, bietet zahlreiche Elemente der Phantastik, die Genrepuristen die Tränen in die Augen treiben, Freunden von Genrecrossovern aber eine Menge Vergnügen bereiten werden.

Paul di Filippos Opener "Ein Jahr in der linearen Stadt" bildet einen gelungenen Auftakt. Auf knapp hundertzwanzig Seiten erzählt di Filippo ein Jahr aus dem Leben des Autors Diego Patchen, der "Kosmogonische Fiktion" für ein Magazin schreibt. Die "lineare Stadt" Gritsavage, in der Patchen und seine Lebensgefährtin, die unorthodoxe Feuerwehrfrau Volusia, leben, ist ein schnurgerades, ungeheuerliches Gebilde aus Millionen aufgereihter Wohnblocks, die sich zwischen "gleiswärts" und "flusswärts" erstrecken, scheinbar ohne jemals irgendwo ein Ende zu finden. Di Filippo erzählt mit leichter Hand eine Geschichte, die zunächst ziellos wirkt, in deren Verlauf aber die lebendig geschilderten Protagonisten und die zwischen Mythos und Realität angesiedelte Umgebung zunehmend mehr zu faszinieren vermögen. Diegos und Volusias gesellschaftlicher Aufstieg, die Heroinsucht einer Freundin, Patchens todkranker Vater - mehrere Erzählstränge laufen hier zwanglos nebeneinander, berühren sich, um schließlich wieder in Unerwartetes zu münden. Der gewaltige Lebensraum Gritsavage selbst ist eingebettet in unfassbare, aber nicht minder reale Mysterien. Unter der Stadt lebt eine riesenhafte geschuppte Kreatur, wie die Stadt selbst scheinbar ohne Anfang und Ende; an ihren Rändern warten die "Pompaten", geflügelte Jenseitswesen, darauf, Verstorbene in ihr Reich hinter den Nebeln zu entführen. In diesem teils großstädtischen, teils mythologischen Kontext erzählt der Autor eine Geschichte, in der er Banales und Großartiges, Frustration und Hoffnung, Ohnmacht, Fatalismus und Lebenslust zu einem Ereignisfaden spinnt, dem man gern folgt. Lesenswert!

Wer China Miéville nur aus seinen Bas-Lag-Romanen kennt, kann in seiner Erzählung "Spiegelhaut" einmal andere Facetten des britischen Erfolgsautors kennen lernen. Bereits in seinem Debütroman "König Ratte", ebenfalls bei Lübbe erschienen, entwarf Miéville ein düsteres, abgründiges London, in dessen labyrinthischen Eingeweiden sich Fabelwesen und namenlose Bedrohungen tummeln, eine verstörende, verdrehte Welt hinter der Welt, nur einen Fingerbreit neben dem Alltäglichen. Diesmal sind es die eigenen Spiegelbilder, die über die ahnungslose Menschheit herfallen. Und was diese in Miévilles typischer Manier überaus bizarren Kreaturen mit der Stadt anstellen, spottet jeder Kurzzusammenfassung. Der geheimnisvolle Plan, den sein Protagonist dabei zur Rettung der Menschheit ersinnt, lässt den Leser am Ende allerdings etwas ratlos zurück - hier hätte man doch etwas anderes erwartet.
China Miévilles rastlose Fantasie bringt den Leser in "Spiegelhaut" ein weiteres Mal an die Grenzen seiner Vorstellungskraft. Seine Sprache und sein detailversessener Bildreichtum kommen auch in "Spiegelhaut" wieder voll zur Geltung; wer noch nie etwas von China Miéville gelesen hat, für den ist diese Erzählung ein guter Einstieg, um einen Eindruck von seiner Schreibe zu gewinnen. Und auch Bas-Lag-Stammleser werden ihre Freude daran haben.

In "Firing the Cathedral" legt Michael Moorcock eine furiose Collage aus Realität und Fiktion vor, eine Montage von Zeitungsausschnitten und Erzählabschnitten, in denen er seinen bereits aus früheren Arbeiten bekannten Helden Jerry Cornelius wieder auftreten lässt. Die Handlung dieser Geschichte in wenigen Worten wiederzugeben, ist nicht leicht, denn Moorcock entfesselt eine derart wirr erscheinende Abfolge von Ereignissen, dass man sich noch nach der Lektüre der ersten Hälfte fragt, was er eigentlich erzählen will und ob man tatsächlich Lust hat, diesem kraus mäandernden Parcours weiter zu folgen. Dem Klappentext zufolge entwirft Moorcock in "Firing the Cathedral" eine "Zukunft, die auf den Trümmern des 11. September errichtet ist", und dementsprechend begegnet der Leser immer wieder Fragmenten politischen Kräftespiels, Aspekten der globalisierten Wirtschaft, interkulturellen Krisen und Kriegen; das Ganze erscheint - wenn man sich denn nun auf die Suche nach einem roten Faden macht - als Satire auf die Doppelzüngigkeit "westlicher" Werte und eine gnadenlose Ausplünderung aller Kulturen einschließlich der eigenen. Dazu inszeniert Moorcock eine verschwenderische, scheinbar vollkommen zweckfreie Materialschlacht. In diesem launig kommentierten Krieg aller gegen alle ist es letztlich vollkommen gleichgültig, ob man sich nun als Vertreter der Wirtschaft, der Religion oder irgendeiner Regierung begreift, weil all das ohnehin aufs Gleiche hinausläuft.
Auch erfahrene Leser, die sich im Genre auskennen, dürften Schwierigkeiten haben, sich in dieser überspannten Zirkuspolka zurechtzufinden. Vielleicht können Leser, die Moorcocks Werk bereits kennen, dieser Erzählung mehr abgewinnen. Im Vergleich mit den anderen Storys dieser Anthologie gelingt es "Firing the Cathedral" nicht, zu punkten, denn durch ihren Zickzack-Flipperkugelkurs, das völlige Fehlen einer zusammenhängenden Handlung und die Überfrachtung mit beziehungsreichen Anspielungen gerät die Story zu einem vertrackten Puzzle - alles andere als unterhaltsam.

Das exklusive Cyberaltenheim, das Geoff Ryman in "S.A.S.", dem kürzesten Beitrag der Anthologie, präsentiert, ist ein betongewordener Alptraum totaler Kontrolle: Bei allen alltäglichen Verrichtungen außer den allerintimsten von Kameraaugen aufgezeichnet, von Sensoren fortlaufend analysiert und von nörgelnder Software pausenlos herumkommandiert, fristen die Insassen dieses hochtechnisierten Gerontoknastes einen alles andere als geruhsamen Lebensabend.
Draußen geht es nicht viel anders zu; auch hier prägen elektronische Kontrolle und automatisierte Bevormundung das soziale Leben. Zum Zeitpunkt der Erzählung haben einige brutale Verbrechen, die offensichtlich von einer militanten Gruppe alter Menschen begangen wurden, für Entsetzen gesorgt. Die Spur führt in das Altenheim, wo der Ich-Erzähler Brewster - früher selbst ein Softwareentwickler, der an dem allgegenwärtigen Verhaltenskontrollsystem mitgearbeitet hat - nur dadurch dem Verdacht entgeht, der Kopf der Gruppe zu sein, dass seine eigene Enkelin ein Opfer des jüngsten Vorfalls wird. Brewster macht sich selbst auf die Suche nach der Wahrheit und fördert Erstaunliches zutage.
Mehr als die anderen Beiträge in "Moloch" hält sich Rymans Beitrag an klassische SF-Themen. Das hochtechnisierte Szenario, der thrillerhafte Plot, all das lässt "S.A.S." als die wohl traditionellste SF-Story dieser Zusammenstellung erscheinen. Lesenswert ist die Geschichte nicht nur wegen Rymans flottem, sehr lebendigem Stil und seiner differenzierten Figuren, sondern auch wegen der Art und Weise, in der der Autor das Thema des Alterns und des damit einhergehenden Verlusts an Möglichkeiten und menschlichen Kontakten unauffällig in den Mittelpunkt der Story rückt. Die Alten sind der Technik, die sie selbst entwickelt haben, in die Falle gegangen. Dieser Umstand verleiht der Story etwas Parabelhaftes. Schade ist nur, dass es Ryman ähnlich ergeht, als er seiner eigenen Moral auf den Leim geht, denn zum Ende der Handlung schleicht sich ein doppelt moralinsaures Element ein, das nach der Lektüre dieser ansonsten großartigen Story einen schlechten Nachgeschmack hinterlässt. Leider lässt sich dieser Punkt, der die größte Schwäche der Erzählung darstellt, nicht näher kommentieren, ohne Spoiler zu produzieren.

Alles in allem ist "Moloch" eine sehr lesenswerte Zusammenstellung, die man getrost weiterempfehlen kann. Informationen über die Autoren und den Herausgeber hätten den Band noch ein wenig runder gemacht, aber ihr Fehlen allein stellt keinen gravierenden Mangel dar.

Frank Hoese



Taschenbuch | Erschienen: 01. Februar 2005 | ISBN: 3404232801 | Originaltitel: Cities | Preis: 8 Euro | 430 Seiten | Sprache: Deutsch

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