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Der deutsche Journalist Jörg Böckem führte zwei Jahrzehnte ein Doppelleben zwischen heroinabhängigem Junkie und erfolgreichem Redakteur bekannter Zeitschriften wie "Spiegel", "Max" oder der Wochenzeitung "Die Zeit". 2001 gelang ihm nach vielen fehlgeschlagenen Versuchen endlich der Absprung von den Drogen, und er verarbeitete sein bewegtes Leben in seinem ehrlichen und berührenden Buch "Lass mich die Nacht überleben" (2004).
Auf Böckems Autobiografie, die sich wochenlang in der Spiegel-Bestsellerliste hielt, sprachen den Autor Menschen jeden Alters und aus allen sozialen Schichten an und schilderten ihm ihre persönliche Lebensgeschichte. Abhängige oder Angehörige berichteten ihm von Alkoholismus, Essstörung und Drogensucht. Böckem besuchte sieben dieser Männer und Frauen zu Hause, sprach mit ihnen über ihre Lebenswege, Erfahrungen, Ängste sowie Hoffnungen und schrieb ihre Geschichten auf.
Das Buch "Danach war alles anders" erzählt vom Berliner Schauspieler Alexander Scheer, der nach dem Mauerfall nicht mehr wusste, wo er genau hingehört und seine Unsicherheit mit Drogen kompensierte. Es handelt von der siebzehnjährigen Laura aus Dresden, die mit einem alkholkranken Vater und einer schwerstbehinderten Schwester schon früh viel zu viel Verantwortung übernehmen muss, viel zu wenig Aufmerksamkeit erhält und ihrem Frust durch Essstörungen Ausdruck verleiht.
Ein anderer Protagonist ist der Polizist Peter. Er starb mit 36 Jahren in Hamburg. Der langjährige zivile Drogenfahnder hatte so intensiv mit Dealern und Junkies zu tun gehabt, "dass er einfach neugierig war auf die Drogen und ihre Wirkung" und sich dann in den Drogen selbst verlor. Böckem sprach sowohl mit Peters Ehefrau Andrea als auch mit dessen Schwester und Eltern, die sich über Jahre hinweg mit ihren Hilfeversuchen in einer Co-Abhängigkeit befanden. Andrea opferte sich auf und reichte schließlich verzweifelt und ohne Glauben auf eine Heilung ihres Partners die Scheidung ein - eine Entscheidung, die Peters Familie ihr auch nach seinem Tod nicht verzeiht. An solchen Beschreibungen wird dem Leser vor Augen geführt, wie schwierig die Situation für alle Beteiligten ist, für die Angehörigen genauso wie für die Süchtigen - beide Täter und Opfer zugleich, in einem Teufelskreis aus Abhängigkeit und Co-Abhängigkeit.
Auch der Wiener Theaterregisseur Georg wurde jahrelang von Familie und Lebensgefährtin in seinem Alkoholismus unterstützt. Immer wieder log seine Umgebung für ihn gegenüber seinem Arbeitgeber und Freunden, unterstützte ihn bedingungslos und verharmloste sein Problem. Erst als der arbeitswütige und erfolgsorientierte Österreicher zwei Engagements an renommierten Theatern aufgrund seiner Abstürze verlor, stellte er sich seinem Alkoholproblem ernsthaft. "Nachdem ich in Folge in Linz und Bregenz so massiv gescheitert war, dass mir beide Male das Engagement aufgekündigt wurde, konnte ich mir nichts mehr vormachen. Und dieses Eingeständnis meines Scheiterns kam einer Kapitulation gleich. Ich hatte alles probiert und war gescheitert. Mein Leben war vorbei. Vielleicht, sagt er, habe er diesen Zustand erreichen müssen, bevor er ernsthaft aufhören konnte."
Böckem widmet sich in seinem Reportagen auch dem Umgang mit Drogen, die oft wenig Beachtung finden. Der neunzehnjährige Axel, Sohn einer gutbürgerlichen Familie, interessierte sich für Kunst und Literatur und experimentierte mit Heroin, um seine Sinne anders anzusprechen und auf diese Weise mehr über sich und die Welt zu erfahren: Drogen als künstliches und künstlerisches Mittel, das Bewusstsein zu erweitern. Leider blieb es nicht bei diesem Anspruch; der junge Mann starb nach mehreren fehlgeschlagenen Entgiftungsversuchen durch eine Überdosis Heroin in den Armen seiner Mutter.
Auch die oft vernachlässigten Folgen bei der Einnahme von Drogen werden von Böckem beispielsweise in der Reportage über den 36-jährigen Bernd, einem Frührentner aus Hannover, angesprochen. Im Alter von zwanzig Jahren hatte der junge Mann eine Psychose, die erste von dreien, jedes Mal wahrscheinlich ausgelöst durch LSD-Konsum. Bernd hielt sich in solchen Zuständen für den neuen Heilsbringer der Menschheit und taumelte zwischen manischer Euphorie und tiefster Depression.
Besonders bedrückend, aber auch bewundernswert ist das Schicksal der 44-jährigen Kristine aus Hamburg. Die Buchhändlerin ist Mutter zweier Mädchen im Alter von sechs und zwölf und seit fünfundzwanzig Jahren heroinabhängig - eine starke Frau, die als allein erziehende Mutter alles für das Wohl ihrer Kinder gibt und doch schwach im Umgang mit Heroin ist. Immerhin hat sie ihren Konsum so gedrosselt, dass sie die Droge in einen "normalen" Lebensalltag einigermaßen integriert, und doch wünscht sich die ältere Tochter Marie oft eine andere Mutter: "Ich finde mich ja damit ab, ich kann ja doch nichts ändern. Aber ich hätte dich lieber ohne."
Dem Buch ist anzumerken, dass Jörg Böckem journalistisch tätig ist. Die sieben Reportagen sind interessant geschrieben und trotz des sachlichen Reportagestils einfühlsam und bewegend. Böckem gelingt es, den Leser in das Leben der Protagonisten einzutauchen und besondere Aspekte herauszugreifen. Kristines Geschichte beginnt beispielsweise mit einem szenischen Einstieg, bei dem sich die Tochter Marie darüber aufregt, dass ihre heroinsüchtige Mutter im Rausch der Familienratte mit Edding einen schwarzen Punkt zwischen die Augen gemalt hat: "Irgendetwas in deinem Gehirn läuft doch falsch, wenn du so etwas tust! Das ist doch krank!" Kommentiert wird die Situation durch den Autor mit den Worten: "Marie ist zwölf, über die Dinge, die ihre Mutter tut, kann sie nur selten lachen."
Wer die Schicksale dieser Menschen liest, hat keine Lust mehr Drogen zu nehmen. Der ehemalige Junkie Jörg Böckem schafft es, die Gefahren und Probleme übermäßigen Drogenkonsums aufzuzeigen, abschreckend zu wirken und trotzdem Verständnis für die Betroffenen und ihre Angehörigen aufzubringen.
Im Anhang erklärt Dr. Henrik Jungaberle, Wissenschaftler an der Uni Heidelberg, die Wirkungsweisen psychoaktiver Substanzen und Mechanismen des Suchtverhaltens anhand der geschilderten Fälle. Etwas heikel, aber nachvollziehbar ist seine These, dass Rauscherlebnisse nicht nur normal, sondern notwendig und gesund seien - egal mit welcher Droge. In unserer Gesellschaft fehlten nur die kontrollierten Konsummuster. Interessant ist diese These als neuer Ansatz für die Drogenprävention.
Böckem schließt mit einer ausführlichen Adressenliste von Informationsstellen für Süchtige und deren Angehörige in Deutschland, der Schweiz, Liechtenstein und Österreich. Die Reportagensammlung "Danach war alles anders" ist genauso bewegend wie "Die Kinder vom Bahnhof Zoo" von Christiane F. und zeigt darüber hinaus verschiedene Wege in die Sucht und manchmal auch wieder hinaus.