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Deutschland wird dir gefallen. Interview mit Rafael Seligmann
Interview mit Rafael Seligmann
Media-Mania.de: Herr Seligmann, vor Kurzem ist Ihre Autobiografie im Aufbau Verlag erschienen. Was hat Sie dazu bewogen, einen Lebensrückblick zu schreiben, und wann haben Sie damit begonnen? Und warum dieser Zeitpunkt – Sie sind ja noch nicht alt?

Rafael Seligmann: Ich finde, man soll Bilanz ziehen, solange man noch etwas ändern kann. – Mit Anfang sechzig fühle ich mich klug genug, mich zu erinnern, und hoffnungsvoll genug, etwas zu lernen. Hauptzweck einer Autobiografie ist, die eigenen Fehler zu überdenken – ich habe einen Haufen Fehler gemacht; wenn man lebt, macht man auch vieles falsch -, und vielleicht manchem Leser zu helfen, Fehler zu vermeiden, in schwierigen Situationen Mut zu ziehen und das Leben weiter mit Freude zu führen.

Media-Mania.de: Ganz spontan gefragt: was würden Sie denn als Ihren größten Fehler bezeichnen?

Rafael Seligmann: Zeit zu vergeuden. Das Leben ist so kurz, 63 Jahre sind ein Hui. Ich habe zum Beispiel jahrelang ein Drehbuch geschrieben, das ein Film wurde, meine Ideen und Vorstellungen aber habe ich darin nicht wieder erkannt. So vergeudete ich drei Jahre mit einer Tätigkeit, die mir nicht entsprach.

Media-Mania.de: Sie kamen 1957 als Zehnjähriger aus Israel nach Deutschland, in die frühere Heimat Ihrer Eltern, gerade einmal zwölf Jahre nach dem Sturz des Naziregimes. Wie hat sich Deutschland im vergangenen halben Jahrhundert Ihrer Meinung nach hinsichtlich des Miteinanders mit "seinen" Juden und des Umgangs mit Israel entwickelt? Sind wir auf einem guten Weg – beziehungsweise: Gefällt Ihnen Deutschland?

Rafael Seligmann: Deutschland gefällt mir im Großen und Ganzen. Nur ein Trottel kann alles immer gut finden. Deutschland ist auf dem richtigen Wege, es ist eine der freiesten Gesellschaften, es ist eine Wohlstandsgesellschaft – Menschen wollen nach Deutschland zuwandern. Wir sollen die Freiheit dieser Gesellschaft verteidigen. Die Juden, Hunderttausend unter 82 Millionen Deutschen und Zugewanderten, können allenfalls Seismographen sein – oder die Gänse auf dem Kapitol, die schnattern, wenn etwas nicht stimmt.
Das Verhältnis zu den Juden hat sich entspannt. Es gibt hierzulande Vorurteile, wie auf der ganzen Welt, doch ich bin davon überzeugt, dass sich Deutschland zu seinem Vorteil entwickelt hat.

Media-Mania.de: Im Lauf Ihres Lebens in Deutschland hatten Sie immer wieder Erlebnisse, die Sie Kluft zwischen "den Deutschen" bzw. "Deutschland" und "den Juden" fühlen ließen, zum Beispiel die Reaktion Ihres Mitlehrlings zu Beginn des Sechstagekrieges. Welches war das einschneidendste?

Rafael Seligmann: Man muss unterscheiden zwischen mir als Einzelperson und dem Land. Das Einschneidendste für das Land war der Fall der Mauer und die sich daraus ergebende Wiedervereinigung. Für mich persönlich waren das mehrere Erlebnisse – a) dass ich meinen behäbigen Lebensstil als Lehrling aufgegeben habe und sagte: "Du machst das Abitur nach und studierst, was dich interessiert: Geschichte" – und b) die Geburt meiner Kinder.
Also eine Mischung aus gesellschaftlichen Veränderungen und privaten Herausforderungen.

Media-Mania.de: Das klingt, als ob Sie keine traumatisierenden Erlebnisse antisemitischer Natur gehabt hätten …

Rafael Seligmann: Nein, traumatisiert hat mich das nicht. Man muss lernen, Situationen zu bewältigen. Natürlich hätte ich daran knabbern können, als mir jemand sagte: "Jetzt werden endlich die Juden ausgerottet", was mein Mitlehrling von sich gab, oder als eine Mitarbeiterin sagte: "Wenn man den Seligmann sieht, ist es wirklich schade, dass nicht alle Juden vergast wurden", und die anderen Kollegen vorgaben, nichts gehört zu haben – die Feigheit ist teilweise schlimmer als das, was gesagt wird. Doch es hat keinen Sinn, gekränkt zu sein und es dabei bewenden zu lassen, man muss vielmehr die Situation verbessern und für die eigenen Rechte, aber auch die der anderen eintreten – dann wird es ganz allmählich besser.

Media-Mania.de: Das Verhältnis zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen ist zwangsläufig ein zentrales Thema in Ihrer Autobiografie. Was bedeutet für Sie persönlich "Jude sein" in der Diaspora, insbesondere in Deutschland? Es gibt ja etliche Atheisten und Agnostiker unter ihnen, die sich nicht über die Religion als Juden definieren können, sich aber dennoch sehr bewusst als solche sehen. So haben Sie mit Bruno Kreisky und Ariel Sharon gesprochen, echten Gegenpolen, die im Grunde nur Charisma und politischen Instinkt gemein haben, aber das haben auch andere Politiker. Also: Was bedeutet "Jude sein" für Sie heute?

Rafael Seligmann: Für mich ist der Kern des Judentums der Glaube, das Gesetz, die Thora, das heißt, eine Reihe von ethischen Geboten, die Zehn Gebote. Diese sind die Grundlage des Alten Testaments, aber auch der abendländischen Moral. Darüber hinaus definiere ich mich natürlich auch über jüdische Kultur und Geschichte. Wenn ich den Glauben und das Gesetz, also die Ethik, weglasse, dann ist das Judentum ein leeres Gefäß. Dieser Antrieb zur Nächstenliebe – nicht zu morden, nicht zu ehebrechen, also andere nicht zu verletzen –, das ist der Kern des Judentums und für mich das Entscheidende in der Diaspora, in Israel. Aber das ist natürlich kein jüdisches Monopol. Das Christentum hat das Alte Testament übernommen, und das stimmt mich zuversichtlich.

Media-Mania.de: Gab es Momente, in denen Sie sich als Deutscher unter Deutschen ohne Wenn und Aber gefühlt haben? Man hat es Ihnen ja nicht leicht gemacht.

Rafael Seligmann: Ja … im Sportstadion zum Beispiel.
Es handelt sich ja um zwei Aspekte: Zum einen, was andere tun, und zum anderen, was man selbst daraus folgert. Zum Beispiel die Wiedervereinigung Deutschlands – es gab viele Juden in Israel und auch in Europa, die das nicht wollten. Das habe ich nie verstanden, denn wenn 16 Millionen Menschen in Freiheit kommen, ist das doch eine tolle Sache, die man unterstützen sollte.
Deutscher unter Deutschen … Einerseits bin ich Deutscher, andererseits Europäer, dann bin ich Mann, dann bin ich Jude, bin ich Schriftsteller … man gehört der Mehrheitsgesellschaft an, aber teilweise auch einer Minderheit. Aber das soll man nicht überbewerten.

Media-Mania.de: Sie haben sich, nicht zuletzt im Rahmen Ihrer Promotion, intensiv mit dem Staat Israel befasst und Gespräche mit bedeutenden israelischen Politikern geführt. Wie stehen Sie heute zur Politik Israels?

Rafael Seligmann: Die gegenwärtige Politik Israels ist starr, sie ist angstbesessen und nicht mutig genug, Risiken einzugehen. Allerdings ist es leicht, dies zu kritisieren, man darf aber nicht außer Acht lassen, wer Israels Nachbarn sind: der fundamentalistische Islam im Libanon, auch im Gaza-Streifen, vor allem aber im Iran. Ich finde es bedenklich, dass ein großer Teil der Welt zuguckt, wie ein Land dabei ist, Kernwaffen zu entwickeln, das ganz eindeutig sagt: Wir wollen den jüdischen Staat vernichten.
Meiner Meinung nach befindet sich die israelische Gesellschaft in einer Schockstarre. Man wählt natürlich, wenn man Angst hat, populistische Parteien …

Media-Mania.de: … Das müssen wir als Deutsche besonders gut verstehen …

Rafael Seligmann: In Europa sind populistische Parteien stark vertreten in der Bevölkerung und in den Parlamenten der umliegenden Länder, in Österreich, in Italien, in der Schweiz, in Frankreich, in Holland, ganz bedenklich in Ungarn … Wir sollten uns nicht einbilden, dass wir auf Dauer eine Insel der Glückseligen ganz ohne rechtsextremistische Parteien sein werden, und wir sollten die demokratischen Parteien stützen. Wem diese demokratischen Parteien zu lasch sind, wem sie nicht genug auf den Bürger eingehen, der soll sich eben in diesen demokratischen Parteien betätigen.

Media-Mania.de: Derzeit haben wir in Deutschland ja eine Art Islamophobie, und ich glaube, das beschränkt sich nicht nur auf Bild-Leser …

Rafael Seligmann: Das ist keineswegs nur die Meinung der Bildzeitung und der Bildzeitungsleser. Das breite Publikum und die Sarrazin-Leser sind keineswegs Bildzeitungsleser, sondern das Bildungsbürgertum. Nicht jeder, der Sarrazins Buch liest, ist islamophob; Sarrazin hat einen Zustand der Gesellschaft beschrieben, der nicht einmal falsch ist: dass Transferleistungen ausgenutzt werden, und zwar nicht nur von Menschen aus islamischen Staaten; dass – statistisch gesehen, nicht vom Einzelfall ausgehend – die Mehrheit der Zuwanderer aus den islamischen Staaten nicht bereit ist, sich in die deutsche Gesellschaft, die deutsche Kultur, die deutsche Rechtsprechung zu integrieren. Das ist eine Tatsache, die Herr Sarrazin nicht erfunden hat. Er hat sie nur sehr drastisch ausgedrückt und teilweise mit biologistischem Unsinn unterfüttert.
Die Menschen sind nicht per se islamophob, sondern sie wollen verhindern, dass sich Leute abseits der Gesellschaft stellen, und zwar nicht nur Moslems – das sagt Sarrazin übrigens keineswegs -, es gibt auch bildungsferne Schichten, die diesen Staat ausnutzen.

Media-Mania.de: Könnte diese Diskussion dazu führen, dass der letzten Endes in Europa überall latent vorhandene Antisemitismus wieder mit hochkocht, oder finden die Juden dadurch weniger Beachtung?

Rafael Seligmann: Es ist traurig, aber in Deutschland ist das Judentum ja ziemlich ausgerottet. In Deutschland leben wieder hunderttausend Juden, vor dem Krieg waren es fünfhunderttausend. In Berlin haben früher doppelt so viele Juden gelebt wie heute in ganz Deutschland. Polen ist "judenrein" gemordet. Wie zum Beispiel in Frankreich ein schamloser Präsident mit Zigeunern umgeht, das ist eine populistische Maßnahme, die aber hilft, Vorurteile zu verfestigen. Das ist, wie gesagt, einfach schamlos.

Media-Mania.de: Sie haben eine ganze Reihe von Lebenskrisen durchgemacht, teils bereits in sehr jungen Jahren, die Sie ausführlich beschreiben. Diese Krisen führten immer zu einem Wendepunkt. Was gab Ihnen die Kraft, immer wieder Neuanfänge zu wagen, häufig ohne aufgespanntes Sicherheitsnetz? Zum Beispiel, als Sie zu Hause auszogen, um zu studieren, und keinerlei finanziellen Rückhalt hatten.

Rafael Seligmann: Oder als ich meine Beamtenstelle an der Universität aufgab und Schriftsteller wurde. – Das hat zwei Ursachen. Zum einen war ich Einzelkind, meine Mutter war eine Shoah-Überlebende. Auch wenn es Streit gab, hat mich meine Familie unbedingt geliebt, und dieses Gefühl habe ich bis heute. Wer sich geliebt fühlt, hat viel mehr Kraft als jemand, dem man sagt "Du bist überflüssig, wir brauchen dich nicht", was leider in sehr vielen Familien geschieht.
Zum anderen ist es die Kraft des Glaubens. Ich bin kein religiöser Mensch, aber ich bin ein gläubiger Mensch, und ich glaube an eine Kraft, nennen wir sie Gott, kein Mann mit Rauschebart, aber eine Kraft, die Trost spenden kann; die für eine gewisse Gerechtigkeit sorgt.
Wenn man diese zwei Punkte nimmt – das Bewusstsein, geliebt zu werden und lieben zu können, und die Überzeugung, dass es Gott gibt, dieser Satz "dein Wille geschehe" -, so verhindert das zwar nicht, dass man manchmal verzweifelt ist, aber es gibt einem Trost, Zuversicht und Hoffnung, dass es weitergeht.

Media-Mania.de: Ein Stück weit haben Sie mir die nächste Frage vorweggenommen, "Seligmann und die Frauen". Frauen spielen in Ihrer Autobiografie eine wichtige Rolle, allen voran Ihre Mutter, haben Ihr Leben immer wieder stark beeinflusst – konstruktiv wie destruktiv. Frech ausgedrückt, zieht sich zudem ein wahrer Reigen von Geliebten durch das Buch – und stets aufs Neue die dominante Mamme mit ihren ausgeprägten Stärken und Schwächen. Manche bedeutende Entscheidung wurde Ihnen von einer Frau abgenommen oder aufgezwungen, und dies keineswegs nur in Sachen "Beziehung".

Rafael Seligmann: Ich habe, wie ich bereits sagte, durch meine Mutter Liebe erfahren, als ich ein Kleinkind war. Das ist ja die entscheidende, prägende Phase. Eine auch physische Wärme – und danach sehnt sich jeder Mann und auch jede Frau. Jeder Roman handelt von Liebe. Wir Menschen suchen Zuneigung, suchen Liebe. Und wir Menschen sind nicht von Natur aus monogam. Man lernt jemand Neuen kennen und verliebt sich, das ist ganz normal.

Media-Mania.de: Ich meinte das auch nicht moralisierend, sondern bezog mich auf die Rolle der Frauen.

Rafael Seligmann: Die Frauen hatten die Rolle der Geliebten, als Mensch, mit dem ich zusammen sein wollte, aber auch als Anregerin. Meine Klassenliebe Eva sagte beim Treffen nach zehn Jahren: "Was, Rafael, du bist nur Lehrling?" Das hat mich dazu angespornt, das Abitur nachzumachen. Oder die Liebe meiner Frau, die mir einfach hilft, weiterzukommen.
Aber worauf Sie anspielen, die Gefährtinnen von meinen Studententagen bis zu meiner Ehe, die ich mit fünfzig geschlossen habe – das war immer wieder die Sehnsucht nach einer großen Liebe. Der Mensch verliebt sich oft, ich habe dem nachgegeben und es nicht immer sublimiert.

Media-Mania.de: In einer Lebenskrise haben Sie mit dem Schreiben Ihres ersten Romans begonnen, und in einigen Ihrer Werke verarbeiten Sie eigene Erfahrungen. Andererseits haben Sie aber auch die an Sie herangetragene Aufgabe, eine "Kohle-Saga" über das Revier samt Fortsetzung zu schreiben, angenommen. Was bedeutet für Sie das belletristische Schreiben? Sie haben dafür ja einiges aufgegeben.

Rafael Seligmann: Ich habe die materielle Sicherheit als Beamter an der Universität aufgegeben, aber da ich – das schildere ich in meinem Buch – ein Tagträumer war, teilweise noch bin, ist das Schreiben für mich die Gelegenheit, meine Phantasien umzusetzen und nicht nur in meinem Kopf, sondern in Form von Büchern andere Menschen dazu anzuregen, an diesen Phantasien teilzuhaben. Selbst Situationen zu schaffen, Schöpfer zu sein, das ist etwas Herrliches.
Das Entscheidende am Roman sind die Gefühle. Und das spricht sehr viele Leser an. Es ist für mich eine Gnade, nicht nur in meinem Kopf mit meinen Gefühlen und Sehnsüchten zu spielen, sondern diese anderen Menschen vermitteln zu können, die sich teilweise daran erfreuen, teilweise darüber ärgern. So habe ich den Wunsch, zu kommunizieren, aber, wie jeder Künstler, natürlich auch die Sehnsucht nach Beifall, nach Anerkennung.
Jeder Mensch sucht Anerkennung, aber der Künstler mit seinem schwachen Ego strebt besonders danach. Als Neunjähriger habe ich mir einen kleinen Sketch ausgedacht und aufgeführt – den Beifall meiner Mitschüler habe ich nie vergessen.

Media-Mania.de: Wenn man Ihre Romane kennen lernen möchte – welchen würden Sie zum Einstieg empfehlen?

Rafael Seligmann: Ich würde den "Musterjuden" lesen. Das ist die Geschichte eines Jeansverkäufers, der es durch Chuzpe, durch Frechheit, durch Anmaßung, durch Unsicherheit schafft, ein Starschreiber zu werden, weil die Leser seine Sehnsüchte teilen. Im Grunde aber bleibt er ein unsicherer Mensch.
Das Buch hat auch autobiografische Anklänge, es ist, wie ich finde, leicht geschrieben und gut lesbar. Und dadurch, dass es im journalistischen Milieu spielt, kann jeder es nachvollziehen. Jeder Mensch liest Zeitung oder Nachrichten im Internet, und insofern bietet das, glaube ich, einen leichten Zugang. Es ist für unter zehn Euro bei dtv als Taschenbuch zu haben. Oder eben jetzt die Autobiografie – wenn sich jemand für meine Literatur interessiert, kann er darin die Geschichte und den Inhalt der meisten meiner Bücher kennen lernen.

Media-Mania.de: Im Namen von Media-Mania.de bedanke ich mich herzlich für das Interview, wünsche Ihnen für die Zukunft alles Gute und uns als dem Publikum natürlich noch viele Bücher von Ihnen.

Rafael Seligmann: Vielen Dank.
Geführt von Regina Károlyi am 06.10.2010