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"Wir können nicht allen helfen": Interview mit Boris Palmer, Oberbürgermeister der Universitätsstadt Tübingen
Interview mit Boris Palmer
Media-Mania.de: Herr Palmer, wie fanden Sie zu Ihrer Partei und generell zu politischer Betätigung? Hatten Sie Vorbilder in Bezug auf gesellschaftliches oder politisches Engagement in Ihrem unmittelbaren Umfeld?

Boris Palmer: Eher eine Reibungsfläche. Mein Vater war bis zur Selbstaufgabe politisch engagiert, das hat mich sehr geprägt. In der Abgrenzung wie in der Nachahmung.


Media-Mania.de: Sie haben sich nie gescheut, aus Ihrer Sicht in Politik und Gesellschaft vorhandene Missstände und Konflikte öffentlich darzustellen und zu diskutieren. Oft vertreten Sie Standpunkte, die der veröffentlichten Meinung scheinbar oder tatsächlich diametral entgegengesetzt sind, und Sie haben viele Anfeindungen und Drohungen über sich ergehen lassen; auch aus der eigenen Partei. Das muss eine starke Belastung sein – zusätzlich zum zweifellos fordernden "Job". Haben Sie manchmal bereut, dass Sie sich so sehr engagieren?

Boris Palmer: Nein, da bin ich mittlerweile wie mein Vater. Ich kann nicht anders.

Media-Mania.de: Was hat Sie dazu gebracht, Ihr Buch "Wir können nicht allen helfen – Ein Grüner über Integration und die Grenzen der Belastbarkeit" zu schreiben? Sie legen darin unter vielem anderen Ihre Erfahrungen als von der Flüchtlingskrise unmittelbar und massiv betroffener Oberbürgermeister dar und zeigen auf, was Ihrer – mit Fakten belegten – Meinung nach in Sachen Aufnahme und Integration von Flüchtlingen geht und was nicht. Wie waren die Reaktionen darauf? Glauben Sie, dass Sie über das Buch auch die Menschen erreichen, die Sie anhand von aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten verurteilen und nicht verstehen, dass Sie sich eben nicht mit populistischen Äußerungen bei umstrittenen Themen wichtigmachen, sondern mittels einer schlüssigen Argumentation aufklären und zu einer Politik mit "Herz", aber auch Augenmaß auffordern wollen?

Boris Palmer: Ja. Ich bin ein überzeugter Anhänger der Aufklärung und der Kantischen Aufforderung, selbst zu denken. Ich habe in der Diskussion über Flüchtlinge so viele moralische Urteile ohne faktisches Fundament gesehen, dass ich dem etwas entgegen setzen wollte. Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit. Und die kann man in einem Buch besser beschreiben als in drei Sätzen in einem Interview oder mit 160 Zeichen auf Twitter.

Media-Mania.de: Entgegen den Überzeugungen der meisten Ihrer Parteifreunde und vieler weiterer Politiker aus den anderen bislang im Bundestag vertretenen Parteien setzen Sie den Schutz von Minderheiten nicht über alles – sprich, Sie plädieren diesbezüglich für ein auch für die Mehrheit (also den "Normalo") vertretbares Maß. Das klingt eigentlich sehr vernünftig, wenn man einen großen gesellschaftlichen Konsens erzielen möchte, der ja gerade in Bezug auf anstehende umfangreiche Veränderungen notwendig erscheint. Sie zeigen auf, dass es diesen Konsens nicht gibt und sich ein nicht unbeträchtlicher Teil der Bevölkerung alleingelassen fühlt, ohne noch aufzubegehren – denn das führt rasch zu "Shitstorms" und "Bashing", eventuell sogar zum Verlust des Arbeitsplatzes. Warum tun sich viele Politiker und sonstige Prominente so schwer damit, einen offenen Diskurs zuzulassen – halten sie ihre eigenen Argumente für zu schwach oder Menschen mit anderen Auffassungen schlicht für tumbe Neonazis, wie es oft den Anschein hat? Wie weit sind etwa Bundes- oder Landespolitiker vom "Volk" entfernt?

Boris Palmer: Nein, das sind sie nicht. Die meisten verbringen sehr viel Zeit mit den Menschen. Der Grund ist ein anderer: Hier hat ein Pendel zu weit ausgeschlagen. Früher wurden viele Minderheiten diskriminiert und keiner hat sich dafür interessiert. Dagegen vorzugehen ist richtig und bis heute notwendig, das gibt es noch immer. Aber heute wird es übertrieben. Man sieht gar nicht, wie groß die Fortschritte schon sind und dass es nur noch wenige gibt, die diskriminieren wollen. Darauf müsste man sich jetzt einstellen. Das wird dauern.


Media-Mania.de: In "Exodus: Warum wir Einwanderung neu regeln müssen" analysiert der britische Ökonom Paul Collier den umgekehrt proportionalen Zusammenhang zwischen der Größe der Auslandsgemeinde einer ethnischen Gruppe im aufnehmenden Land und dem Erfolg der Integration. Deutschland will (oder muss) in nächster Zeit sehr viele Menschen aus relativ wenigen Ethnien integrieren. Wie kann das funktionieren? Sie zeigen ein schönes Beispiel eines Ihrer Amtskollegen auf, der sich intensiv persönlich für die umfassende Integrationen vieler einzelner Geflüchteter engagiert, merken aber auch an, dass das nur n kleineren Kommunen so klappen kann. Wie lässt sich die Entstehung und Ausbreitung von Parallelgesellschaften verhindern, wie es sie ja heute bereits gibt?

Boris Palmer: Es braucht eigentlich kein Buch, um zu verstehen, dass eine Gesellschaft in einer bestimmten Zeit nur eine begrenzte Zahl von Menschen aufnehmen kann, ohne sich selbst aufzugeben. Das ist trivial. Daher setzt Integration zweierlei voraus: Eine Begrenzung der Einwanderung auf ein vernünftiges Maß, nicht mehr als etwa 1% der Bevölkerung pro Jahr, und den Willen zur Integration auf beiden Seiten. Der Rest ist eine gute Organisation, das können wir eigentlich in Deutschland ganz gut.


Media-Mania.de: Wie können wir Migrantenfamilien konkret helfen, die vor der großen Flüchtlingswelle nach Deutschland kamen oder zur so genannten zweiten und dritten Generation und nicht selten zu den "sozial Benachteiligten" gehören? Sie schneiden das Problem in Ihrem Buch an – diese Menschen haben es gerade in Sachen Bildung kaum leichter als die Geflüchteten, doch im Vergleich zu diesen scheinen sie wenig Unterstützung zu erhalten. Sie fallen offensichtlich einfach "hinten runter".

Boris Palmer: Sie fühlen sich manchmal so, weil sie bei weitem nicht die Aufmerksamkeit erhalten haben, wie die Flüchtlinge in jüngerer Zeit. Ich denke aber nicht, dass sie „hinten runter“ fallen. Was wir tun müssen? Bildungschancen schaffen, Jobs vermitteln und bezahlbare Wohnungen für alle anbieten. Das sind die wichtigsten Faktoren.

Media-Mania.de: In Ihrem Buch beschreiben Sie teils recht drastisch, wie die Kommunen die Bundespolitik gerade auch hinsichtlich des Ansturms an Asylbewerbern regelrecht ausbaden müssen. Was könnte, was müsste der Bund tun, um den Kommunen ihre Aufgaben zu erleichtern – vom Finanziellen, das ohnehin ein Problem ist, mal abgesehen? Und wie sähe eine nachhaltige Flüchtlingspolitik Ihrer Meinung nach aus?

Boris Palmer: Heute ist das schon viel besser. Die Zahlen sind beherrschbar. Nur noch 5% des Zustroms aus dem Herbst 2015. Das schaffen wir. Besser werden muss das Verfahren. Es dauert viel zu lange, bis entschieden ist. Und wir müssen schärfer trennen nach dem Verhalten bei uns im Land. Zu viele Kriminelle dürfen bleiben, zu viele Fleißige müssen gehen. Das sollte umgekehrt sein.

Media-Mania.de: Themenwechsel: Was macht Ihnen an Ihrer Arbeit als Oberbürgermeister am meisten Freude, und was bereitet Ihnen am meisten Kopfzerbrechen?

Boris Palmer: Die Chance, mit den Menschen in meiner Lieblingsstadt ein Umfeld zu gestalten, in dem alle gerne leben. Am meisten frage ich mich, wie es uns gelingt, die Sicherheit im öffentlichen Raum zu verbessern. Da haben wir derzeit die schwierigste Entwicklung zu verzeichnen.

Media-Mania.de: Und noch eine ganz platte Frage: Wer sollte Ihr Buch lesen und warum?

Boris Palmer: Alle, die sich ganz sicher sind, dass sie genau wissen, was richtig ist in der Flüchtlingspolitik, sollten es unbedingt lesen. Ich will nämlich aufzeigen, dass es auch in dieser Frage nicht nur einen legitimen Standpunkt gibt.

Media-Mania.de: Media-Mania.de bedankt sich herzlich für das Interview und wünscht Ihnen weiterhin viel Erfolg und alles Gute!

Das Interview wurde per E-Mail geführt.

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Geführt von Regina Károlyi am 19.10.2017