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Buch "Diagnose Boreout"
Interview mit Philippe Rothlin, Peter R. Werder
Media-Mania.de: Vom Burnout, der lange Zeit Top-Thema in den Medien war, hat jeder gehört. Der Begriff "Boreout" hingegen ist neu und meines Wissens von Ihnen eingeführt worden. Wie äußert sich der Boreout, und welche Faktoren führen zum Boreout?

P. Rothlin: Der Begriff "Boreout" ist tatsächlich von uns, wir haben ihn kreiert in Abgrenzung zum "Burnout" als sein Gegenteil. Wer am Boreout leidet, wird bei der Arbeit unterfordert, er verliert das Interesse an seiner Arbeit und langweilt sich bei der Arbeit. Hinzu kommen Verhaltensstrategien - so zu tun, als ob man in Wirklichkeit beschäftigt wäre. Eigentlich ist das in der globalisierten Welt, in der wir uns befinden, ein Paradox, aber wir haben in unseren Gesprächen und in den Analysen verschiedener Studien gesehen, dass der Boreout wirklich ein Problem ist.

Media-Mania.de: Das klingt ja fast schon nach Stress, wenn Sie sagen, es gibt Verhaltensstrategien?

P. Rothlin: Ich gebrauche das Wort "Stress" lieber im Zusammenhang mit dem Burnout, weil man diesen so besser abgrenzen kann. Es wird anstrengend für die Person, so zu tun, als ob sie beschäftigt wäre, denn man muss sich immer überlegen: "Werde ich erwischt? Hat mein Vorgesetzter gesehen, dass ich eigentlich gar nicht arbeite?" Das kann natürlich schon zu unangenehmen Situationen führen.

Media-Mania.de: Gab es ein spezielles Ereignis, das Sie auf das Phänomen Boreout aufmerksam gemacht hat, oder haben Sie boreout-typische Verhaltensweisen längerfristig beobachtet und daraus Ihre Schlüsse gezogen? Wie kam es dazu, dass Sie den Boreout genauer analysiert und zum Thema eines Buchs gemacht haben?

P. Werder: Das Thema war für uns von zwei Seiten her aktuell. Zum einen gibt es Studien, die belegen, dass 30 % der Beschäftigten gestresst sind. Wenn Sie diese Studien aber umgekehrt lesen, dann kommen Sie auf die Frage: Was ist mit den restlichen 70 %? Unter ihnen finden viele das Arbeitsvolumen ganz okay, aber es gibt auch jene, die sich unterfordert fühlen. Zum anderen haben wir beide in der Unternehmensberatung und an Projekten gearbeitet und sind immer wieder auf Leute gestoßen, von denen wir nicht wussten, was sie eigentlich machen. Das kennen Sie vielleicht, die laufen dann immer mit Stapeln von Papier herum, und man fragt sich, wozu die denn überhaupt da sind. Diese zwei Elemente - die Studien und die Beobachtungen - haben uns dann zu der Frage gebracht: Was ist mit den Leuten, die unterfordert sind? Warum wir das zusammen machen: weil wir uns schon lange kennen [aus der Schulzeit, Anmerkung MM gemäß Gespräch].

Media-Mania.de: Nichtstun, im Büro Privates erledigen, stundenlang im Internet surfen, vielleicht sogar PC-Spiele spielen und trotzdem sein Gehalt bekommen: für viele gestresste Arbeitnehmer klingt das wie ein Traum. Warum macht der Boreout trotzdem krank?

P. Rothlin:Viele Leute denken, es sei angenehm, eine Arbeitsstelle zu haben, Geld zu verdienen und nichts zu tun zu haben. Aber die Wirklichkeit sieht anders aus: Die Leute beginnen, unter dieser Situation zu leiden, denn wir sind heutzutage auf der einen Seite sensibilisierter, wir akzeptieren nicht mehr alles, was am Arbeitsplatz passiert. Das Vorhandensein von Burnout und Mobbing zeigt eindeutig in diese Richtung. Auf der anderen Seite sind wir immer besser ausgebildet. Die Leute betreiben Aufwand mit Aus- und Weiterbildungszyklen, und wenn man dieses Wissen am Arbeitsplatz nicht anwenden kann, vermisst man die Anerkennung, fühlt sich fehl am Platz, und das ist ein Gefühl, das die Leute nicht haben wollen. Das führt zu Unzufriedenheit, selbst wenn man jeden Monat seinen Gehaltsscheck bekommt.

Media-Mania.de: Das hat also auch etwas mit Selbstachtung zu tun.

P. Rothlin: Absolut.

Media-Mania.de: Provozierend kann man sagen, wie Sie in Ihrem Buch ja auch ausführen, dass Boreout-Patienten faul sind ?

P. Werder: Achtung! Wir sagen ganz klar, dass Boreout-Betroffene nicht faul sind. Faulheit ist etwas anderes. Leute, die faul sind, wollen nicht arbeiten. Boreout-Betroffene kommen mit einer gesunden, guten Vorstellung in den Job und wollen arbeiten, wollen gefordert werden. Aber sie werden dort am Arbeitsplatz faul gemacht, wieso auch immer - sie sind nicht faul.

Media-Mania.de: Sie würden also auch wieder "einsteigen", wenn sie eine erfüllende Aufgabe bekämen?

P. Werder: Wenn jemand vom Boreout betroffen ist, ist es anfangs sehr schwierig, da wieder herauszukommen. Das Schlimmste in der Zeit von "keiner Arbeit" ist "neue Arbeit". Man muss sich dann überwinden. Aber, grob betrachtet: wenn eine Person an Boreout leidet, kann man ihr mit herausfordernder Arbeit helfen.

Media-Mania.de: Sie schreiben, dass sowohl einfache Angestellte als auch Führungskräfte bis hinauf in die Managerebene vom Boreout betroffen sind. Gibt es Häufungen bei bestimmten Positionen oder Berufen, vielleicht auch eine Anfälligkeit gewisser Altersstufen?

P. Rothlin: Das haben wir so nicht festgestellt. Wir kennen Beispiele von jungen Leuten, die direkt aus der Lehre kommen, Siebzehnjährige, die nichts zu tun haben, die zudem das Problem haben, in dem Job, den sie mal machen wollen, auch wirklich qualifiziert zu werden. Wir kennen aber auch Beispiele von Dreißig- und Vierzigjährigen, die genau in dieser Situation sind. Es kommt, denke ich, weniger auf das Alter oder die Geschlechtszugehörigkeit als auf die Position an, darauf, wie das Arbeitsumfeld und der Arbeitsinhalt aussehen. Das Beispiel von dem CEO, das wir in dem Buch bringen, ist natürlich eine leichte Überzeichnung wie alle Geschichten von Alex in unserem Buch, es soll zeigen, dass Führungskräfte am Ende des Arbeitstages auch nur Angestellte sind und nicht per se vom Verdacht freigesprochen werden können, dass sie eventuell einen Boreout haben. Außerdem wollen wir mit diesem Beispiel den Unterschied zwischen einer Führungskraft und einem Unternehmer zeigen. Für einen Unternehmer, der sein ganzes Herzblut in ein Projekt steckt, ist es schwierig, sich selbst zu betrügen. Wenn mich mein eigenes Projekt unterfordert oder nicht interessiert, muss ich es aufgeben - ich kann mich nicht selber belügen. Man kann es aber als Angestellter, selbst in einer hohen Position.

Media-Mania.de: Ich fand die Feststellung in Ihrem Buch interessant, dass Selbstständige, aber auch Fließbandarbeiter keinem Boreout unterliegen können. Allerdings frage ich mich, ob es nicht auch zum Boreout kommt, wenn man als Fließbandarbeiter oder in einer beliebigen anderen Position mit einer zwar stressigen, aber monotonen Tätigkeit betraut ist, für die man überqualifiziert ist.

P. Rothlin: Das kann vorkommen, dann ist es aber kein Boreout. Den Boreout machen die drei Elemente Desinteresse, Unterforderung und Langeweile aus, aber ein wesentliches Element sind auch die Strategien: dass man so tut, als ob man arbeiten würde. Ein Fließbandarbeiter kann das nicht vortäuschen. Der Definition des Boreout zufolge kann ein Fließbandarbeiter unterfordert sein, aber keinen Boreout haben.

Media-Mania.de: Mehr noch als sein Verwandter, der Burnout, scheint der Boreout ein Phänomen der modernen Arbeitswelt zu sein. Welche Entwicklungen haben den Trend zum Boreout gefördert?

P. Werder: Es gab mit Sicherheit schon immer Unterforderung, ebenso gab es mit Sicherheit schon immer Langeweile, und es gab mit Sicherheit schon immer Desinteresse. Neu ist, dass man am Arbeitsplatz ein Alternativangebot findet in Form von Internet, E-Mail und Handy. Das Internet bietet alle Möglichkeiten, sich zu beschäftigen, wenn man zu wenig zu tun hat. Wir gehen davon aus, dass man mit diesem Alternativangebot Beschäftigung vortäuschen kann, so tun kann, als ob man etwas für die Firma täte, was früher schwieriger war. Früher hat man vielleicht Sitzungen auf 14 Uhr gelegt und ist dann nicht mehr zurückgekehrt, oder man hat sein Jackett über den Stuhl gehängt und damit demonstriert, dass man eigentlich da ist, momentan jedoch auf irgendeiner Sitzung oder dergleichen, und ist einfach irgendwohin gegangen. Wir können jedoch keine Aussage machen, wie es früher war, weil wir ja erst vor sieben Monaten den Begriff im Buch präsentiert haben. So können wir heute eine Nullmessung machen und sagen, es sind 15 % betroffen, und wir gucken in zehn Jahren wieder. Kurz, die einzelnen Elemente des Boreout sind sicher nicht neu, aber in dieser Kombination wurden sie sicherlich durch das Alternativangebot am Arbeitsplatz gefördert.

Media-Mania.de: Befasst man sich mit den von Ihnen geschilderten Symptomen des Boreouts, fühlt man sich an eine Reihe von Beamtenwitzen erinnert. Demnach wäre Boreout in Behörden und staatlichen Einrichtungen oder Betrieben schon lange ein Thema.

P. Werder: Wir haben den Begriff definiert und unsere Beobachtungen mit Expertengesprächen gestützt, aber wir haben momentan noch keine Untersuchungen darüber, ob in Verwaltungen, Versicherungen, Banken, Spitälern - oder wo auch immer - Boreout mehr oder weniger verbreitet ist. Es ist plausibel, davon auszugehen, dass es im Umfeld einer großen Bank einfacher ist, sich zu verstecken, das muss aber nicht so sein. Wir bekommen fast täglich Geschichten von Leuten, die auch in kleineren Betrieben unterfordert sind und einen Boreout haben. Es wäre der nächste Schritt, zu untersuchen, wo, in welchem Alter und mit welcher Ausbildung der Boreout am häufigsten auftritt.

P. Rothlin: Boreout hat auch mit den höheren Erwartungen an das Arbeitsumfeld zu tun, die wir heute haben. Früher war das anders, da hatte man eine Arbeit, die einen das ganze Leben lang mehr oder weniger ausfüllte, man war froh, eine Arbeit zu haben, und stellte sich die Sinnfrage gar nicht. In unserem Buch wollten wir mit diesem Tabu brechen. Das Phänomen der Unterforderung gibt es wahrscheinlich schon länger, aber jetzt kann man es benennen, und man kann es aus diesem Mikrokosmos Mitarbeiter - Vorgesetzter herausnehmen, also auf eine höhere Stufe stellen und es sozial anders gewichten, sprich, den Finger darauf legen und sagen: Es gibt nicht nur eine solche Person, sondern viele.

Media-Mania.de: Sind die am Boreout Erkrankten "selbst dran schuld", oder findet der Boreout eine überproportionale Verbreitung bei bestimmten Arbeitgebern beziehungsweise Vorgesetzten?

P. Rothlin: Die "Schuldfrage" zuerst: Es gibt ja mehrere mögliche Ursachen für einen Boreout, vielleicht tut jemand von Anfang an das Falsche, das heißt, er hat eine falsche Ausbildung gewählt, die ihn grundsätzlich nicht interessiert, eventuell, weil er die Karriereaussichten für sehr gut hält, oder weil das Lohnniveau höher ist als in anderen Industrien, in denen er vielleicht lieber arbeiten würde. Das ist die eine Seite, die andere Seite bedeutet, ich arbeite am falschen Ort, das heißt, das Arbeitsumfeld stimmt nicht: Zum Beispiel lässt mich mein Team nicht richtig arbeiten, oder mein Vorgesetzter delegiert überhaupt nicht, und dann ist die Arbeit langweilig. Wir haben allerdings gesehen, dass es sich in den meisten Fällen um ein Führungsproblem handelt und sich die Arbeitnehmer dann nicht so entwickeln können, wie sie eigentlich möchten.

Media-Mania.de: Durch einen bestimmten Typ von Arbeitnehmer wird das ja vielleicht gefördert, ich meine solche, die sich leicht unterbuttern lassen von der Art Leute, die wiederum für den Burnout anfällig ist - könnten Sie sich so etwas auch vorstellen?

P. Rothlin: Ich denke, es kann wirklich jeden treffen und es ist nicht nur von der Person abhängig, sondern von der Situation, in der sich die Person befindet. Wenn jemand natürlich eine scheue Person ist und keine Kritik zu äußern wagt darüber, dass jemand anders im Team sehr dominant ist, ist das denkbar. Die Reaktion des Vorgesetzten und die Unternehmenskultur sind zentral: Wie geht die Unternehmenskultur mit solchen zwischenmenschlichen Phänomenen am Arbeitsplatz um? Dazu gehören auch Burnout und Mobbing. Das sind keine technischen Fragen, für die man eine mathematische Formel zur Berechnung der Lösung finden kann, sondern es geht wirklich um zwischenmenschliche Beziehungen, also um die Werte, die das Unternehmen anbietet, um mit solchen Situationen umzugehen.

Media-Mania.de: Im Zeitalter der Globalisierung ist das natürlich nicht so einfach, denn die Werte wechseln ja ständig im Zuge von Firmenübernahmen.

P. Rothlin: Das ist eben das Problem. Unternehmenswerte müssen dauerhaft sein; um es überspitzt zu formulieren: sie müssen hundert Jahre bestehen, während eine Unternehmensstrategie, ein Fokus, das Geschäftsfeld alle fünf bis zehn Jahre wechseln kann. Aber die Werte, die Persönlichkeit eines Unternehmens sollten immer im Kern erhalten bleiben. Manchmal werden falsche Unternehmenswerte formuliert - Shareholder-Maximierung ist kein Unternehmenswert. Sie ist begründet, wenn es um den Gewinn geht, aber sie ist keine Orientierungshilfe seitens des Unternehmens für den Mitarbeiter, der wissen möchte, wie er seine tägliche Arbeit erledigen muss. Wenn man dies richtig definiert und einige Werte statisch bleiben, kann ich mein Schiff quasi durch die stürmischen Gewässer der Globalisierung führen.

Media-Mania.de: Langeweile am Arbeitsplatz, nichts tun, nicht ausgelastet sein - das sind in unserer auf Leistung ausgerichteten Welt fast schon Makel, über die man nicht gerne spricht. Welche Reaktionen hat Ihr Buch hervorgerufen, das die Dinge erstmals beim Namen nennt?

P. Werder: Einige Leute waren von Anfang an sehr skeptisch, die meisten haben mit Erleichterung reagiert, weil ihr Problem jetzt einen Namen hat. Auch die Reaktionen über unsere Website, über unser Buch bestätigen dies. Wir haben ja vorhin schon darüber gesprochen, die einzelnen Bestandteile sind nicht neu, aber die Diagnose ist neu, und es ist neu, dass man es auch als Diagnose anerkennt. Auch ist zu beobachten, dass die Arbeitspsychologie so etwas gern entdeckt hätte, man könnte auch sagen, es ist verständlich, dass dort ein gewisser Neid vorherrscht, denn es handelt sich ja um ein Phänomen, das in die Arbeitspsychologie gehört. Die waren nun nicht so schnell, aber sie erkennen es immerhin an und sagen, das kennen wir schon lange, nur gab es eben die Diagnose nicht. Es gab das Problem, dass Leute sich nicht gefordert, nicht anerkannt fühlen, und so haben wir zum Teil quasi offene Türen eingerannt. Man ist froh, dass man darüber reden kann, und ich glaube, es ist auch ein bisschen enttabuisiert. Die Skeptiker sind mittlerweile sehr ruhig geworden, und der Boreout wird jetzt auch auf der gleichen Ebene wie der Burnout diskutiert. Es geht nun auch darum, zu entdecken, welche Konsequenzen das hat, was es für den Einzelnen bedeutet, was es für die Volkswirtschaft bedeutet, und ich glaube, wir können zuversichtlich sein, dass wir in den nächsten Jahren noch sehr viel darüber erfahren werden.

Media-Mania.de: Das heißt, das Buch hat gewissermaßen die Scham von den Betroffenen genommen, man weiß, man ist krank und nicht einfach nur faul.

P. Werder: Wenn Sie das Problem haben, ist es nicht ganz leicht, richtig zu reagieren, den richtigen Zeitpunkt zu finden, das Gespräch zu suchen, wenn man merkt, dass Nichtstun nicht so toll ist. Aber es ist natürlich leichter geworden, weil man jetzt weiß, dass es ein Problem ist, dass es eine Diagnose gibt. Man fühlt sich nicht so alleine, aber man ist immer noch eigenständig dafür verantwortlich, das Problem zu lösen.

P. Rothlin: Die Unternehmen müssen auch die Strukturen schaffen, die es ermöglichen, darüber zu sprechen. Es ist also auch eine gewisse Selbstreflexion einzuführen: Wie definiere ich Führungsqualitäten, welche Art von Führungskräften suche ich, und wie gehe ich mit diesem Problem um? Denn es ist gar nicht so einfach, in der Praxis mit diesem Problem umzugehen. Es spielen ja zwischenmenschliche Prozesse mit. Das Unternehmen muss also sensibilisiert werden und Strukturen zum Umgang mit dem Problem entwickeln.

Media-Mania.de: Der volkswirtschaftliche Schaden durch den Boreout dürfte beträchtlich sein. Lässt er sich abschätzen?

P. Rothlin: Es gibt insbesondere zwei Studien, die wir auch im Buch erwähnen, eine davon aus den Vereinigten Staaten, die den Schaden in den Vereinigten Staaten auf 200 Milliarden Dollar beziffert. Dazu wurden zehntausend Arbeitnehmer befragt, die im Schnitt angaben, während der Arbeit zwei Stunden pro Tag Privates zu erledigen, weil sie explizit zu wenig Arbeit bekommen. Hier in Deutschland stützen wir uns auf eine Gallup-Studie, die von der Bindung der Arbeitskräfte an ihr Unternehmen handelt und davon spricht, dass 87 % keine oder nur eine geringe Bindung zum Unternehmen haben, was sich dann äußert in Langeweile am Arbeitsplatz, geringer Produktivität etc. Man geht von Schäden bis 200 Milliarden Euro aus. Der Schaden ist also beträchtlich. Man kann natürlich immer zu einem Unternehmen sagen: Das Humankapital ist das Wichtigste für dich, und du lässt es brachliegen. Denn es ist ein großes Problem, wenn ich mein Humankapital nicht vollständig ausnütze. Wir stellen Burnout und Boreout gegenüber und sagen, es geht um die Arbeitsverteilung im Team. Es geht also nicht darum, die Leute, die unterfordert sind, zu entlassen und dadurch Kosten zu sparen, sondern darum, die Prozesse zu durchschauen und danach zu sehen, ob meine Führungskräfte sich auf ihre Kernaufgaben konzentrieren und anderes delegieren, auf die Arbeitnehmer eingehen und sie entsprechend ihrem Stand führen. Auf diese Weise könnte man die Effizienz des Humankapitals auch wieder erhöhen.

Media-Mania.de: Eine meiner vorbereiteten Fragen ging in diese Richtung, nämlich, ob es nicht am effektivsten wäre, diese nicht ausreichend geforderten Arbeitnehmer wegzurationalisieren. Sie meinen also, eine Weiterbeschäftigung hätte durchaus nach wie vor Sinn.

P. Rothlin: Absolut. Es geht darum, dass man die limitierte Ressource, die man hat, sinnvoll einsetzt. Wenn man jemanden eingestellt hat, der nichts zu tun hat, andererseits aber auch jemanden, der wirklich vor Arbeit zusammenbricht, weil er jede kleine Arbeit selber erledigt und nichts delegiert, weil er glaubt, nur er und niemand anders könne das tun, stimmt irgendetwas nicht in der Organisation der Firma. Dieses Problem muss man durch eine situationale Führung angehen und dann die Mitarbeiter wieder mit an Bord nehmen und integrieren, insbesondere in den Herstellungsprozess des Produkts und bei Dienstleistungen.

Media-Mania.de: Wir wollen Ihre Anregungen zur Überwindung des Boreout nicht vorwegnehmen, schließlich soll das Buch ja auch gelesen werden. Darum nur so viel dazu: Sie setzen auf Eigenverantwortung der Betroffenen, auf Eigeninitiative. Was ist jedoch mit Arbeitnehmern, möglicherweise ohne Hochschulqualifikation, die mit einem Alter ab Mitte vierzig auf dem Arbeitsmarkt zum "alten Eisen" gehören und im Grunde nicht viel riskieren können - oder als Beamte am Ende der üblichen Laufbahn angekommen sind? Müssen sie mit dem Boreout bis zur Rente leben?

P. Werder: Grundsätzlich ist die Frage nach dem Sinn eine individuelle Frage, das heißt, wir möchten nicht dazu anregen, die Sinnfrage absolut zu betrachten. Jeder entdeckt den Sinn in der Arbeit für sich selber. Das ist ja auch der Witz an der Sache, den Sinn in der Arbeit zu entdecken, damit man weniger Gefahr läuft, in einen Boreout zu geraten.
Wir sagen das im letzten Kapitel des Buches: Man neigt zu der Haltung, es gäbe nicht für alle Sinn, nicht für alle eine tolle Beschäftigung. Das ist richtig, es existiert aber für mehr Leute als nur für die, die es bislang probiert haben. Wir glauben heute von vielen Dingen, sie würden uns zusagen, wir erwarten von vielen Dingen Spaß und Sinn, und wieso soll man das nicht auch in der Arbeit versuchen? - Ohne damit behaupten zu wollen, dass es bei allen klappt.
Wir haben mit einer Gruppe von Leuten gesprochen, die es sehr schwierig haben, die werden Probleme haben, am Arbeitsplatz über ihren Boreout zu reden, weil sie nämlich riskieren, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, und weil sie dann riskieren, nichts anderes zu finden - das ist schon richtig. Aber zumindest probieren kann man es ja, zum Beispiel darüber nachdenken, ob es ein Hobby oder eine andere Beschäftigung gäbe, mit der man auch Geld verdienen könnte, etwas, das man vielleicht über ein, zwei Jahre aufbauen muss, vielleicht über eine Weiterbildung. Zumindest sollte man daran denken und es nicht von Anfang an verwerfen. Auch wenn es nicht für alle möglich sein wird, probieren muss man's, und dazu möchten wir mit dem Buch anregen.

Media-Mania.de: Haben Sie bereits ein neues Buchprojekt in Arbeit, und wenn ja, dürfen wir darüber etwas erfahren?

P. Rothlin: Wir schreiben natürlich sehr gerne. Ich denke immer darüber nach, was man noch schreiben könnte, was es für weitere interessante Themen gibt. Im Moment ist noch nichts fix, wir konzentrieren uns noch auf dieses Buch [Diagnose Boreout, Anm. MM]. Das Medieninteresse ist groß, und wir brauchen Zeit, damit es auch so weitergeht. Aber wie gesagt, wir schreiben sehr gern - mal schauen, was kommt!

Media-Mania.de: Media-Mania.de bedankt sich für das Interview und wünscht Ihnen weiterhin viel Erfolg!



Das Interview wurde geführt von Regina Károlyi am 11.10.2007, Buchmesse Frankfurt, Stand des Verlags Redline Wirtschaft

Zum Buch:

Philippe Rothlin, Peter R. Werder: Diagnose Boreout
erschienen bei Redline Wirtschaft, ISBN: 978-3636014627
131 Seiten, Preis: ? 17,90
Zur Rezension
Website zum Buch
Geführt von Regina Károlyi am 10.10.2007