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Interview mit Xinran über ihr Buch "Gerettete Worte"
Interview mit Xinran
Media-Mania.de: Xinran, zuerst möchte ich sagen, dass Ihr Buch "Gerettete Worte" eines der besten, anrührendsten Werke ist, die ich in den letzten Jahren gelesen habe, und ich rezensiere wirklich leidenschaftlich gern! – Als Sie mit den Recherchen für Ihr Buch begannen, wollten Sie die Erinnerungen einer "stummen Generation" von Chinesen für die Nachwelt bewahren: der Generation der Menschen von etwa siebzig bis neunzig Jahren. In Ihrem Buch erwähnen Sie mehrmals, dass, wenn nicht jemand diese wahren und tief berührenden Erinnerungen veröffentliche, die Kinder und Enkel der Menschen dieser Generation niemals von den Beschwerlichkeiten erfahren werden, denen ihre Eltern und Großeltern ausgesetzt waren, von ihren Erfolgen und Leiden.
Bitte erläutern Sie, was Ihr Buch auch für Europäer interessant machen könnte, für die das China von Guomindang (Kuomintang) und Mao wie auch das heutige China eine recht fremde Welt zu sein scheint, die sie womöglich gar nicht verstehen können.


Xinran: Als ich mein erstes Buch veröffentlichte, "Verborgene Stimmen", wurde ich zu drei oder vier Lesereisen durch die ganze Welt eingeladen, in mindestens dreißig Ländern. Und mich als Chinesin hat, ehrlich gesagt, die Sicht der Europäer und ihr geringes Verständnis für mein Land sehr überrascht und schockiert. Denn wohin auch immer ich gehe, befragen mich die Leute über Menschenrechte, die Kulturrevolution, die politische Lage oder den wirtschaftlichen Fortschritt. Und für mich, die ich zwanzig Jahre damit verbracht habe, bezüglich der Chinesen, insbesondere jener der letzten beiden Generationen, zu recherchieren, sie zu befragen und ihnen zu folgen, zeigt sich, dass es gar kein einziges China gibt. Es existiert ein tiefer Spalt zwischen Stadt und Land, zwischen den Generationen und sogar zwischen West- und Ostchina.
Es ist wie in Deutschland vor zwanzig Jahren. Es gab damals kein Deutschland als solches. Was mich angeht, ich habe mich wirklich bemüht, in meinen Worten von China zu erzählen. Und nach zwanzig Jahren Lehrzeit, in denen ich die letzten Generationen interviewte, recherchierte und ihnen zuhörte, erkannte ich, dass China viele Schattierungen aufweist, wie eine chinesische Tuschzeichnung. Zwischen Schwarz und Weiß haben wir viele Abstufungen von Grau. Das ist China für mich.
Um das heutige China zu verstehen, müssen die Menschen, mich eingeschlossen, die Wurzeln verstehen, die Generation, die uns aufgezogen hat, und die Art von Leben, die wir hatten. Viele Menschen aus dem Westen sagen, Chinesen dächten, McDonald's sei das beste westliche Essen. 1980 stimmte das.

Media-Mania.de: In Osteuropa war das auch so.

Xinran: Ja. Und die chinesischen Regierungsmitglieder luden ausländische Diplomaten zu McDonald's ein. Das hat man mir häufig erzählt. Aber das war es nun einmal, was China zu dieser Zeit über das Ausland wusste. Und dann, in den 1990ern, dachten die Chinesen, Starbucks sei der beste westliche Kaffee, weshalb sie eine Starbucks-Filiale in der Verbotenen Stadt eröffneten, dem meiner Ansicht nach schönsten Museum der Welt!
Ich war so schockiert, aber als ich nachfragte, sagten sie, das sei der beste Kaffee aus Amerika, was bedeute, der beste Kaffee der Welt! Und ich weiß, dass es nicht mal der beste amerikanische Kaffee ist.
Wenn Sie jedoch heute nach China kommen, sagen die Leute: "Unser Tee ist doch vielleicht besser als Kaffee oder unser Essen besser als McDonald's." Also glaube ich, das China sich wieder entdeckt und daraus lernt.
Und von dieser letzten Generation haben wir unsere Zukunft bekommen. Sie hatte ein hartes Leben. Als Europäer, auch als Chinesen, sollten wir meiner Meinung nach wissen, dass China einer hart arbeitenden Generation entstammt, dass es nicht schwarz oder weiß, politisch oder ökonomisch ist, sondern aus Menschen besteht, Müttern und Großmüttern.

Media-Mania.de: Wie fanden und wählten Sie Ihre Interviewpartner? Einige davon, wie die Medizinfrau, entdeckten Sie zufällig, andere mithilfe von Bekannten, aber es muss schwierig gewesen sein, Kontakt zu zwanzig Menschen herzustellen, die das China der Mao-Ära repräsentieren – unter zig Millionen Chinesen.

Xinran: Um ehrlich zu sein, hatte ich keine Wahl, als ich die Interviews mit diesen Leuten 2005 begann, denn einige von ihnen waren bereits verstorben, und andere wiesen mich ganz einfach ab und sagten: "Das kann ich nicht machen, vor allem vor einer laufenden Kamera und öffentlich." Sie erzählten das alles ja nicht einmal ihren eigenen Kindern.
Ich habe zwanzig Jahre damit verbracht, ihr Vertrauen zu gewinnen, ernstlich, ich habe ihnen tatsächlich zwanzig Jahre lang zugehört, bin ihnen gefolgt, habe ihnen Respekt entgegengebracht. Als ich mich dann entschloss, das Buch zu schreiben, und eine Struktur dafür entwerfen musste, hatte ich zwischen dem Gelben Fluss und dem Yangtse wesentlich mehr als zwanzig Menschen interviewt. Als ich fertig war, umfasste das Manuskript mehr als 800.000 Wörter. Jetzt sind es nur ungefähr 250.000 Wörter. Also überlegte ich, welchen Teil ich wählen sollte, und entschied mich für Mao Zedongs Generation, die eine politische Generation ist, die Bürgerkriegsgeneration.
Ich habe schließlich unter anderem Maos ersten Leibwächter ausgewählt – aus den 1920ern -, dann eine sehr berühmte Frau, die Zwei-Waffen-Frau, aus den 30ern, und einen Polizisten aus den späten 40ern. Ich konnte auch den Neuigkeitensänger gewinnen [dessen Beruf darin bestand, dass er mangels Rundfunk oder Zeitung in den Teehäusern wichtige und interessante Nachrichten verkündete, Anm. d. Red.]. Diesen Teil von China kannte ich überhaupt nicht. Ich kannte zwar die Dörfer, aber es war mir nicht klar, dass es so viel Kultur dort gab, obwohl die Leute arm sind. Doch weil sie so arm sind, hat diese Art asiatischer Kultur überlebt. Ich habe also Glück gehabt.
Aber ich habe mit dem letzten Kapitel gekämpft und wirklich lange dafür gebraucht. Sollte ich mit den mächtigen Menschen aufhören oder mit den reichen, oder mit Frau Xie, der Flickschusterin und Mutter? Ich entschied mich für die Letztgenannte, die über 28 Jahre lang direkt neben einer öffentlichen Toilette gewohnt hatte. Aber diese Mutter hat ihre Kinder auf die besten Universitäten des Landes geschickt. Diese Mutter hat mir bewusst gemacht, wie China während der letzten Generationen überlebt hat, als die Menschen mit dem Krieg rangen und nichts zu essen hatten: dank der hart arbeitenden Mütter. Wenn man ihre Hände ansah – deren Haut war wie ein anderer Erdteil im Vergleich zum restlichen Körper, beispielsweise ihrem Hals, dessen Haut schön war. Ich war so sehr berührt und bewegt.
Schließlich hat mich diese Frau zu sich nach Hause eingeladen und mir das Essen angeboten, dass sie mehr oder weniger auf dieser Toilette gekocht hatte. Ehrlich, ich habe etwas mit mir gekämpft, ob ich das essen sollte oder nicht, doch ich habe es getan, weil mir klar wurde, dass sie hier über zwanzig Jahre mit dem Aufziehen der neuen Generation verbracht hatte. Das ist der wahre Wert von China, die Grundlage der Zukunft. Und deshalb habe ich sie für das Ende des Buchs ausgewählt.

Media-Mania.de: Ich gebe zu, dass ich geweint habe, als ich über sie las, aber ich wette, ich bin nicht die einzige Leserin, die das zum Weinen gebracht hat.

Xinran: Stimmt. Aber letztes Jahr habe ich eine winzige Wohnung für sie bekommen.

Media-Mania.de: Oh, wirklich?

Xinran: Ja, das macht mich so glücklich. Nicht groß. Aber immer, wenn ich an sie gedacht hatte, wollte ich diese kleine Dame unbedingt von dieser Toilette hin zu einer richtigen Unterkunft bringen. Das war mein größter Erfolg.

Media-Mania.de: Sie hatten schon einige Jahre in England gelebt, bevor Sie ältere Chinesen interviewt haben, die ihr gesamtes Leben in China verbracht hatten. Haben diese Menschen Sie als Chinesin akzeptiert, auch wenn Sie sie mit Ihrem englischen Ehemann besuchten?

Xinran: Ja. Die meisten von ihnen haben mich sogar ermutigt und waren mit mir glücklich. Sie sagten, ich könne Teil einer Brücke zwischen den unterschiedlichen Kulturen sein. Was meinen Mann angeht, so ist er ganz begeistert von der chinesischen Kultur. Als ich ihn 1999 zum ersten Mal zu den Besuchen bei meinen Interviewpartnern in die Dörfer mitnahm, war er schockiert, weil er so etwas noch nie gesehen hatte – es erschien ihm wie vor fünfhundert Jahren. Ich sagte: "Du siehst die Schönheit der Region, wie sie schon vor Jahrhunderten war, du siehst Menschen, die ihren Tee trinken, wie sie es seit tausend Jahren machen, und sie zu sehen ist, wie in der Geschichte zu leben." Und die Einheimischen behandelten ihn wie einen Schwiegersohn. Manche Leute sind natürlich schwierig. Es kommt sehr viel auf die Bildung an. Gebildete Menschen wissen, was sie tun. Ungebildete Menschen sind schwieriger.

Media-Mania.de: Welches der in "Gerettete Worte" präsentierten Interviews hat Sie am meisten berührt und warum? Ich vermute, die Flickschusterin?

Xinran: Wissen Sie, als ich an diesem Buch arbeitete, verbrachte ich viel Zeit damit, zu überlegen, was ich von dieser Generation gelernt hatte, weil es so viele Farben und Puzzleteilchen gibt. Ich glaube, es war Stolz. Er hat mich bei dieser Flickschusterin beeindruckt, die niemand gegrüßt hat. Klar, die Leute haben erwähnt, dass sie eine Menge kann, doch keiner sagte: "Hallo, wie geht's?" Aber sie ist so stolz auf alles, was sie getan hat, weil sie nach ihren eigenen Vorstellungen lebt. Und die sind alle so. Junge Leute, sogar ihre eigenen Kinder, sagen: "Wie dumm ihr wart, blind der törichten Regierung zu folgen."
Aber ich weiß, dass sie Leidenschaft besaßen, eigene Vorstellungen und Nationalstolz. Sie lebten für ihr Land, das sie sogar über die Familie setzten. Sie haben wirklich kämpfen müssen. Einerseits sind sie froh, dass ihre Kinder ein besseres Leben, bessere Bedingungen haben. Aber andererseits sind sie verloren, weil niemand respektiert und glaubt, was sie getan haben, und es keinen interessiert, was wirklich war.
Die Universitätsstudenten glauben nicht, dass die Kulturrevolution existiert und der Bürgerkrieg stattgefunden hat, und sie fragen sogar: "Warum seid ihr nicht aufgestanden und habt widersprochen?" Aber diese Generation hat an dieses, ihr schönes Land geglaubt. Auch in Deutschland sind so viele junge Menschen zur Armee gegangen, um den Nazis zu folgen, ich weiß das. Sie taten es für ihre Kinder, ihre Familien, weil sie glaubten, es sei gut.
Es mangelt an historischer Erziehung. Wir erziehen die Kinder in Schwarzweiß. Die Bildung widmet sich stets zu wenig den Opfern. Ich war zweimal in Köln und erfuhr, dass im Zweiten Weltkrieg 85 % der Stadt durch Bomben zerstört worden waren. Und ich dachte daran, wie die Frauen, ohne Ehemann oder Sohn, die Steine mit Tränen im Herzen aufsammelten und eine neue Stadt für eine neue Generation aufbauten. Und wie viele Bücher erzählen davon? Aber man muss sich an diese Frauen erinnern und sie respektieren.

Media-Mania.de: Die jungen Leute interessieren sich nicht dafür. Das ist hier nicht anders.

Xinran: Ja, das ist genau mein Punkt. Ich war viele Male in Deutschland. Ich war auch in Österreich, Neuseeland, Kanada und anderen Ländern, und die Hörer aus Deutschland kommen zu mir und bedanken sich. Wir müssen zur Geschichte ehrlich sein, was sehr schwierig ist, und wir müssen etwas tun, bevor diese Generation verstorben ist, denn ihre Angehörigen sind Zeugen der wahren Geschichte. Und wir sollten sie vor ihrem Tod respektieren und ihnen ihr Recht zurückgeben.

Media-Mania.de: Die chinesischen Mütter sind eines der Themen, die Ihnen besonders am Herzen zu liegen scheinen. Was macht die chinesischen Mütter zu etwas so Besonderem?

Xinran: Für mein erstes Buch in englischer Sprache hatte ich über zwanzig Titel. Ich entschloss mich für "The Good Women of China " [deutscher Titel: "Verborgene Stimmen. Chinesische Frauen erzählen ihr Leben", Anm. d. Red.], weil ich nach zwanzig Jahren Recherche in China so bewegt und auch stolz auf die chinesischen Frauen war. Weil die Frauen die Nation während der letzten zwei oder drei Generationen getragen haben. Ohne Liebe, ohne Fürsorglichkeit zu erfahren, ohne auch nur Umarmungen oder einen Kuss und sogar, ohne über ihre eigene Ehe zu entscheiden. Auf dieser Basis lässt sich schwer Glück weitergeben. Doch chinesische Mütter und Großmütter haben genau dies getan, ohne den neuen Generationen Leid, Bitterkeit und Verlust mitzugeben.
Sie sehen die Chinesen hier in Frankfurt und überall sonst. Sie sind so stolz und glücklich. Sie sind gebildet. Doch woher kommt das? Von ihren Müttern und Großmüttern, die eine neue Generation mit ihrem Blut, ihrem Schweiß und ihrer Liebe aufgezogen haben. Das ist es, was mich so stolz auf die chinesischen Frauen macht. In vielen anderen Ländern geben die Menschen ihre Verbitterung weiter, doch die Chinesen sind still. Aber ihre Kinder sollten lernen, wie die Geschichte wirklich verlief, denn sie könnten dieselben Fehler machen.

Media-Mania.de: Europäern, die China kennen lernen möchten, empfehlen Sie einen Besuch des Landes. Welche Städte oder Gegenden sollte man besuchen, um mit dem "wahren" China bekannt zu werden?

Xinran: Wenn man aus dem Westen ist und China kennen lernen möchte, muss man zuallererst China besuchen. Zweitens lernt man China nicht im Fünfsternehotel oder im Flugzeug kennen, sondern man muss den Zug oder Bus nehmen, um zu reisen. Aufgrund meiner persönlichen Erfahrung empfehle ich wirklich, den Zug zu nehmen, um zwischen dem Osten und dem Westen Chinas zu reisen. Die meisten Menschen reisen nur im Ostteil, der viel weiter entwickelt ist. Aber man sollte im Westteil mit dem Zug reisen. Man muss gar nicht aussteigen, denn man sieht Dörfer, man lernt Bauern durch ihr Essen, ihre Körpersprache und ihre Art der Konversation kennen. Sie sind wie vor fünfhundert Jahren – sehr interessant.
Und mein dritter Ratschlag: Wenn Sie dort wirklich hingehen wollen, kontaktieren Sie mich und gehen Sie über meine Wohltätigkeitsorganisation [siehe www.mothersbridge.org , Anm. d. Red.] mit vielen freiwilligen Helfern, die mit Leuten aus dem Westen Kinderheime besuchen, in Dörfer auf dem Lande fahren, um Menschen zu treffen, mit ihnen zu sprechen, vor allem junge Menschen.

Media-Mania.de: Die meisten unserer Leser sind junge Menschen, unter dreißig. Glauben Sie, dass Internetkontakte wie E-Mail-Freundschaften ihnen helfen könnten, China kennen zu lernen, wenn sie sich eine Reise nicht leisten können?

Xinran: Das Internet ist eine kulturelle Revolution für China, denn es erlaubt den Chinesen, mit Menschen in allen Winkeln der Welt in Kontakt zu treten. Aber ich wäre vorsichtig, weil das mangelnde Wissen über den jeweils anderen der Spalt zwischen China und dem Rest der Welt ist. Wenn die Brieffreunde erzählen, etwas sei perfekt, könnten Sie über genau das schockiert sein. So wenden Sie sich besser an meine Wohltätigkeitsorganisation, die für Sie Brieffreunde finden kann. Dann kann es weitergehen mit Videobotschaften und ähnlichen Kommunikationsmitteln. Das ist gut, weil es Sicherheit gibt. Und Sie kommen in Kontakt mit gebildeten Menschen, die Sie aufs Land begleiten. Meine Organisation kann das. Sie hat gerade einen Wohltätigkeitsorden gewonnen.

Media-Mania.de: Media-Mania.de bedankt sich für das Interview und wünscht Ihnen für die Zukunft alles Gute!

Das Interview fand am 15.10.2009 auf der Buchmesse Frankfurt am Stand des Verlags Droemer Knaur statt und wurde von Regina Károlyi geführt.
Übersetzung aus dem Englischen und Foto: Regina Károlyi

Link zur Rezension bei Media-Mania.de
Geführt von Regina Károlyi am 14.10.2009