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Jo Lendle über sein Buch "Mein letzter Versuch die Welt zu retten"
Interview mit Jo Lendle
Media-Mania.de: Herr Lendle, im Jahr 1984 macht sich Ihr Protagonist Florian auf den Weg ins Wendland, um gegen den Castor-Transport zu demonstrieren. Warum haben Sie sich gerade für das Jahr 1984 entschieden und lassen Ihre Geschichte nicht während eines jüngeren Castor-Transportes spielen?

Jo Lendle: Weil damals alles anfing. Tatsächlich war das historisch der Moment, in dem die Bewegung gegen die Atommülltransporte begann. Heute heißt das Ganze ja immer noch „Tag X“. Wenn man ins Wendland fährt, stößt man überall auf dieses „X“, als Zeichen des Widerstands gegen die Atommülltransporte. Und genau zu diesem Wochenende im April 1984 wurde zum ersten Mal mit dem Plakat „Tag X“ aufgerufen, im Vorgriff auf den ersten Castor-Transport. Das Wochenende war eine Art Vorbereitungstreffen, bei dem man alles noch mal durchspielen wollte. Gleichzeitig war 1984 aber auch einfach die Zeit, in der die gesamte Gesellschaft so aufgeladen war von dem allgemeinen Gefühl: Wir müssen etwas tun, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Eine Situation, die man sich in den Neunzigern nicht mehr vorstellen konnte, dass alle dabei sind und auch alle exakt einer Meinung sind in allen Fragen. Gleichzeitig war 1984 das Jahr, in dem das Klopapier anfing, „Danke“ zu sagen, als es nicht mehr nur eine Gegenbewegung war, sondern sich in einer Weise zum Konsens machte, dass sogar die Marketingstrategen der großen Firmen damit spielen konnten.

Media-Mania.de: Sie waren ja auch 1984 im Wendland. Welche Erfahrungen, Motivationen und Fragen teilen Sie mit ihrem Protagonisten oder haben Sie damals mit ihm geteilt?

Jo Lendle: Biographisch teile ich mit ihm das damalige Gefühl: Ich muss irgendetwas machen. Und ich teile mit ihm den Blick aus der Rückschau: Was genau wollten wir eigentlich? Einerseits gab es diese ungeheuer aufgeladene Bereitschaft, etwas zu tun, andererseits gibt es heute die Frage: Ist das Etwas-Tun eigentlich schon das Richtige? Keine leichte Frage in Zeiten des Aufruhrs. Ich will nicht sagen, dass alles so naiv war, wie es im Buch manchmal rüberkommt. Die Helden des Romans sind ziemlich jung, ihre Jugend verleiht ihnen noch mal eine Extraportion Naivität. Ich glaube auch, dass zu Bewegungen immer ein Moment des Nicht-ganz-Durchdachten dazugehört. Wenn jeder Einzelne erst mal darüber promoviert, gehen solche Sachen nie los. Es muss auch ein Schwung von Unbedarftheit und Den-Moment-am-Schopfe-Packen dabei sein. Aber das kann halt auch in die falsche Richtung gehen.

Media-Mania.de: Gibt es ganz konkrete Ereignisse in dem Buch, die 1:1 oder beinah 1:1 übertragen sind?

Jo Lendle: Der Anfang. Wir waren auch eine Gruppe. Die Gruppe gab es und es gab das Wochenende …

Media-Mania.de: … den Konfirmandenanzug?

Jo Lendle: Den Konfirmandenanzug gab es tatsächlich auch. Nicht exakt mit diesen Einstecktüchern, aber wir haben tatsächlich versucht, uns zu tarnen. Und es gab das Gefühl von: Was machen wir hier eigentlich? Aber niemand von uns ist gestorben am Ende.

Media-Mania.de: Wie, wann und auch warum kam es zu dem Entschluss, den toten Florian rückblickend die Geschichte erzählen zu lassen? Und warum musste Florian überhaupt sterben? Mögen Sie keine offenen oder happy ends?

Jo Lendle: Er war tatsächlich von Anfang an tot. Ich glaube, diesen ersten Satz gab es immer schon, in dem er einfach berichtet, von wo aus er erzählt, aus dem Jenseits. Das Buch macht den Versuch, zu schauen, was an der damaligen Protestkultur so problematisch war, dass die ganzen Neunziger sich dafür schämen mussten. Ich glaube, dass viele Verfahren der Protestkultur leerliefen und nicht mehr glaubwürdig waren. Und da jetzt jemanden mit der Hochnäsigkeit des Überlebenden hinzustellen – da ist mir die feine Ironie desjenigen lieber, der diese Probleme nicht mehr hat, weil er tot ist, und das Ganze aus der sehr existenziellen Distanz des Jenseits betrachtet.

Media-Mania.de: Florian fühlt sich nicht wirklich heimisch im Protest und auch nicht im Wendland. Er beneidet die Bauern um die Selbstverständlichkeit, die sie in ihrem Protest zeigen.

Jo Lendle: Für die Bauern gab es die Bedrohung und sie haben darauf reagiert. Das Schwierige an der Bedrohung der Atomkraft ist, dass sie so wenig spürbar ist. Das hat ja auch am Anfang dem Protest gegen die Atomkraft geschadet. Es war leichter, gegen verschmutztes Wasser zu sein, bei dem man wirklich sah: Hier stimmt was nicht. Gleichzeitig gibt das dem Ganzen natürlich auch eine etwas magische Note. Nach Tschernobyl war tatsächlich alles verstrahlt, aber es gab auch diesen Überschlag ins Irrationale, weil man die Strahlen nicht sehen konnte. Es gab auch Leute, die sagten: Ich esse jetzt gar nichts mehr. Historisch kamen diese Leute aus der Friedensbewegung, da hatte man die Kämpfe verloren und suchte sich jetzt ein neues Feld, und da war die Atomkraft ein dankbarer Gegenstand. Florian selber ist ein bisschen zufällig in diese ganze Sache reingekommen. Er hatte diese Gruppe, die waren fast alle älter als er, und dann gab es eben dieses Mädchen, in dessen Nähe er gerne sein wollte. Durch solche Zufälligkeiten beginnen solche Dinge. Mich interessierte, wie durchaus private Sachen plötzlich politisch angemalt werden. Mich störte der Hochmut, der früher auch dabei war. Im Umgang mit den Anderen hat man die eigenen Behauptungen von demokratischem Zusammensein nicht selbst verwirklicht.

Media-Mania.de: Aber das verschafft ihm auch eine gewisse Distanz. Einerseits wirkt er distanziert und bewundert die Bauern oder beneidet sie, andererseits wirkt er ein bisschen orientierungslos und hilflos.

Jo Lendle: Er gibt sicherlich eine ziemlich jämmerliche Figur ab.

Media-Mania.de: Was würden Sie sagen, ist diese Distanz eine Stärke oder Schwäche von ihm?

Jo Lendle: Er ist ein Ausgelieferter, den ganzen Roman über versucht er, aus dem Reagieren in ein Agieren zu kommen, ohne dass ihm das wirklich gelingt. Die Freunde sprengen langsam weg, einer nach dem anderen, und am Ende macht er mal einen Vorstoß, indem er diese blöde Pistole behält, was man ja auch nicht in letzter Konsequenz verstehen kann. So wie er vorher war, hätte man gedacht: Mensch, er ist doch der Erste, der sagt: Ich bin überfordert von diesem Gegenstand. Aber jetzt hat er gelernt, dass man Skandale erregen muss, und denkt aus irgendeinem Kurzschluss heraus, es hänge jetzt wirklich an ihm, die Sache zu Ende zu kämpfen. Und das bekommt ihm nicht.

Media-Mania.de: Sie haben es gerade schon angesprochen: das Auseinanderfallen der Gruppe. Das ist für mich - neben dem zu kleinen Konfirmandenanzug, den er die ganze Zeit über tragen muss, was ursprünglich gar nicht seine Intention war, und diese ständige Suche nach Wasser, um seinen Durst zu löschen – eines der drei Bilder, die sich durch das gesamte Buch ziehen. Haben Sie diese Bilder bewusst gewählt oder sind sie zufällig entstanden? Und wie deuten Sie diese Bilder?

Jo Lendle: Das Ganze begann als Gemeinschaftsprojekt. Die haben extra ein Bezugsgruppentraining gemacht, die wollten zusammenhalten, die wollten mehr sein als die Summe der Einzelspieler. Aber dieses Team gab es nie, langsam wird deutlich, dass sie nicht wirklich etwas miteinander verbindet, dass es dieses blinde Vertrauen gar nicht gibt. Und so bröseln sie langsam auseinander. Gleichzeitig gibt mir das dramaturgisch die Möglichkeit, stärker auf Flo zu fokussieren und ihn auszuliefern, so dass die Gefahr, die er am Anfang immer noch abstrakt auf die ganze Gruppe verteilen kann, jetzt voll auf ihn trifft. Das ist einfach eine Bewegung der Zuspitzung.
Der Durst ist natürlich auch ein Bild, Florian ist mit allem Möglichen unterversorgt. Der Durst war das Augenfälligste, auch das unmittelbarste Fehlen von etwas, nach der Luft vielleicht. Er unterschätzt seine Bedürftigkeit. Das erklärt vielleicht auch, warum er am Ende nicht mehr ganz rational handelt. Er ist wirklich überfordert.
Der Konfirmandenanzug – Florian ist ja keine lächerliche Figur, aber er ist schon nicht ganz in Übereinstimmung mit sich selber. Er versucht etwas zu behaupten, was er nicht ist, da schien es mir passend, dass er dieses nicht ganz gemäße Kleidungsstück trägt. Gleichzeitig erlaubt es mir auch, die Gruppe nicht so zu zeigen, wie sie tatsächlich ausgesehen hätte. Das wäre furchtbar langweilig gewesen. Die hätten einfach das Klischee erfüllt, das war nicht immer schön anzusehen. Da fand ich es lustiger, wenn man sie ein bisschen verkleidet.

Media-Mania.de: Was haben Sie für eine Beziehung zu Ihrem Protagonisten?

Jo Lendle: Ich mag ihn sehr, aber er tut mir auch leid. Als Leser hätte ich mir gewünscht, er hätte die Kurve noch gekriegt. Als Autor wusste ich, er wird sie niemals kriegen.

Media-Mania.de: Für mich hinterfragt Ihr Buch auch die links-alternative Mentalität oder Protestbewegung. Wie würden Sie die zentrale Aussage ihres Buches kurz zusammenfassen?

Jo Lendle: Es ist ein Buch über die Phase des Heranwachsens, in der man sich diese Absolutheit der Überzeugung nehmen muss, auch wenn man das später im Himmel vielleicht nicht mehr ganz so absolut sieht wie im Moment des Drinsteckens. Und es ist ein Roman über eine politisch ungeheuer aufgeladene Zeit, die viel verändert hat in unserem gesellschaftlichen Bewusstsein. Dass die grüne Bewegung sich so durchgesetzt hat, hat unser Land schon sehr verändert. Die anderen Parteien sind ja jetzt ungeheuer grün - das war vorher nicht vorstellbar. All das begann in diesen Jahren, Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger. Es gab eine große Selbstverständlichkeit, in dem Linkssein auch etwas Besseres zu sehen. Es war mit einem gewissen Hochmut verbunden, den man jetzt, ein Vierteljahrhundert danach, ein bisschen ironisieren oder infrage stellen darf.

Media-Mania.de: Wenn Sie 1984 also im Wendland protestiert haben, haben Sie sich ja sicher derzeit auch der links-alternativen Szene zugehörig gefühlt und eben dieser Kultur. Was haben Sie heute noch mit dem jungen Mann oder dem Jugendlichen, der Sie damals waren, gemeinsam? Gehen Sie noch immer demonstrieren? Wollen Sie die Welt immer noch verbessern oder retten? Oder haben Sie den Versuch aufgeben? Haben Sie andere Wege gefunden?

Jo Lendle: Ich würde die Welt ungeheuer gerne retten. Ich glaube, dass die Verfahren von damals nicht mehr ziehen und dass das eigentlich der Grund war, warum zwischendurch alle so über dieses Unpolitische gesprochen haben. Ich glaube gar nicht, dass wir unbedingt unpolitischer waren, aber es gab nicht mehr so eine Übereinkunft über die Standards. Wenn man ganz ehrlich ist, waren diese Unterschriftenlisten früher auch nicht ungeheuer politisch. Sie waren einfach ungeheuer naheliegend und wirkungslos und auch um-sich-selbst-kreisend. Als dann das gesamte Ideologische, was in dem Jahrzehnt der Achtziger noch mal richtig zur Blüte kam, nach dem Fall der Mauer wegbrach, war jeder Einzelne gezwungen, sich auf schwierige Fragen eigene Antworten zu geben. Wie stehen wir zur sozialistischen Utopie? Wie stehen wir zum Balkankrieg oder zu den Golfkriegen? Plötzlich gab es Konflikte, zu denen es keine vorgegebenen Standards mehr gab. Plötzlich musste man nachdenken und merkte, die Antworten sind nicht eindeutig. Das war ungeheuer schwer zu ertragen. Das finde ich auch immer noch schwer zu ertragen. Auch bei der Frage: Raus aus Afghanistan oder nicht? Wenn ich mich frage, was würde ich machen, wenn ich darüber befinden müsste, würde es mich zerreißen. Früher hat es mich nicht zerrissen, es war ungeheuer bequem, immer zu wissen: Ja klar, abschalten, sofort! Und alles besser, schöner, friedlicher machen, und alle nehmen sich an die Hand. Ich glaube, es ist nicht unpolitischer zu wissen, dass das Sich-an-die-Hand-Nehmen nicht genügt. Aber ich freue mich, dass es jetzt Vorstöße gibt, neue Protestformen zu etablieren, die ein bisschen beweglicher sind.

Media-Mania.de: Beispielsweise?

Jo Lendle: Attac sucht nach Möglichkeiten, ich beobachte mit großem Interesse, was im Iran stattfand, wo aufgrund von veränderten technischen Möglichkeiten einem David viel Macht in die Hand gegeben wird. Auch wenn hier noch mal Goliath zu siegen scheint.

Media-Mania.de: Eine letzte Frage: Glauben Sie, dass der Versuch, die Welt zu retten, tatsächlich die Motivation der Gruppe ist, ins Wendland zu fahren, so wie es der Titel suggeriert?

Jo Lendle: Die Teilnehmer der Gruppe wünschen sich, es wäre ihre Motivation. Und jeder versucht, nicht darüber nachzudenken, was andere Motivationen sein könnten. Aber warum soll man nicht davon träumen, die Welt besser zu machen. Die Teilnehmer tun es jedenfalls, sehr, sehr vehement.

Media-Mania.de: Vielen Dank.

Jo Lendle: Gerne.
Geführt von Katja Maria Weinl am 15.10.2009