Jeder Mensch verfügt über verschiedene Ich-Zustände oder Ego-States: den inneren Kritiker, den Realisten und den Träumer kennt wohl jeder in sich. Die menschliche Persönlichkeit ist keine Einheit, auch wenn sie für gewöhnlich als solche erfahren wird. Vielmehr besteht sie aus verschiedenen Teilen, die unterschiedlichen Zwecken dienen. Diese Teile sind organisierte Verhaltens- und Erfahrenssysteme, deren Elemente durch ein gemeinsames Prinzip zusammen gehalten werden, und die voneinander durch mehr oder weniger durchlässige Grenzen getrennt sind, so J. G. Watkins.

Oft ist es nun so, dass die einzelnen Ich-Zustände verschiedene Interessen haben und miteinander in Konflikt geraten. Was bei gesunden Menschen zu einem leichten inneren Unwohlsein führt, bewirkt bei anderen schwere Ängste, Depressionen, eine Vielzahl von Symptomen oder sogar unangepasste Verhaltensweisen. Hier hilft die Ego-State-Therapie, die verschiedenen Ich-Zustände und ihre Funktion zu erkennen, die Konflikte aufzudecken und eventuell aufzulösen. Damit verschwinden dann in der Regel auch oft die Symptome.

In dem fast dreihundert Seiten starken Handbuch der Ego-State-Therapie, das 2008 in zweiter Auflage im Carl Auer Verlag erschienen ist, geben die Autoren zunächst eine kurze Einführung in das Thema. Das Vorwort zur deutschen Ausgabe schrieb die bekannte Traumatherapeutin Luise Reddemann.
Der erste Teil beschäftigt sich dann mit den Hintergründen und es werden die wichtigsten verwendeten Begriffe definiert und erklärt. Was ist eine Persönlichkeit und wie funktioniert sie? Was versteht man unter den so genannten Ich-Zuständen und welche psychodynamischen Prozesse laufen ab? Zu welchen Fehlentwicklungen kann es kommen?
Anschließend erläutern die Autoren ihre Prinzipien der Ego-State-Therapie und schildern ausführlich die angewandten Techniken und Strategien. Ein ganzes Kapitel gehört spezialisierten Vorgehensweisen, etwa bei Angst, Problemen mit kindlichen Ich-Zuständen oder kritischen, tadelnden Ich-Zuständen.
Das Beispiel einer Marathon-Wochenendsitzung dient als repräsentatives Beispiel einer hypnoanalytischen Kurzzeittherapie und im letzten Teil des Buches stellen die Autoren ihre Studie vor zur Messung von Effizienz und Wirksamkeit der Ego-State-Therapie.
Das Buch schließt mit einem umfangreichen Literaturverzeichnis und Informationen über Helen H. und John. G. Watkins.

Die beiden Autoren gelten als Pioniere der Ego-State-Therapie. Neu ist sie nicht - frühe Überlegungen stammen bereits aus den 70er Jahren. Sowohl Neurosen als auch schwere Störungen konnten die Autoren mit dieser Methode erfolgreich behandeln, die Techniken hierzu stellen sie in dem vorliegenden Buch vor. Angeblich können bereits acht bis zwölf Therapiestunden dauerhafte strukturelle Persönlichkeitsversänderungen bewirken und lebenslang andauernde Störungen lösen. Dies ist natürlich sehr im Interesse sowohl der Patienten als auch der Kostenträger und der Gesellschaft.
Es ist ein Ansatz, der Psychoanalyse, Hypnose und uraltes schamanisches Wissen vereint und dies eröffnet immense neue kreative Möglichkeiten der Behandlung. Dabei wird das, was der Patient mitbringt, nicht bekämpft, in Frage gestellt oder sogar korrigiert, sondern anerkennt und genutzt. Therapeut und Patient arbeiten partnerschaftlich miteinander.
Geradezu spannend sind die aufgeführten Fallbeispiele: Man sieht förmlich die Patientin Carly ihren imaginierten inneren Tisch ausziehen, um mehr Platz für weitere Teilpersönlichkeiten zu schaffen. Kleine Zeichnungen erläutern das Gesagte zusätzlich. Die Exzerpte aus den Therapiesitzungen zeigen sehr deutlich die Stimmung in den Sitzungen, die Art der Ansprache und die Interaktion zwischen Patient und Therapeut. Der Autor bemerkt selbst, dass die theoretische Darstellung einer Therapie oft nicht ausreicht, um sie ausreichend zu erläutern, nachvollziehbar und in der eigenen therapeutischen Praxis anwendbar zu machen. Sondern es bedarf konkreter Fallbeispiele, Auszüge aus der Patienteninteraktion und dem Therapeuten-Patienten-Gespräch.

Das Buch ist sicher für professionelle Anwender gedacht und geschrieben. Nach Luise Reddemann finden jeder Psychotherapeut und jede Psychotherapeutin, vor allem jene, die mit traumatisierten Menschen arbeiten, zahlreiche Anregungen in dem Buch, welche die Arbeit mit ihrer Klientel sowohl erleichtern als auch bereichern können. Die gut verständliche Sprache und leicht nachvollziehbare Darstellung des Themas macht es aber auch für Menschen interessant, die einfach mehr über die Hintergründe der Ego-State-Therapie erfahren möchten. Sei es, dass sie eine Ego-State-Therapie in Erwägung ziehen oder sich bereits darin befinden, oder aus allgemeinem Interesse für die psychologische Theorie und Praxis. Faszinierend ist die vorgestellt Technik allemal! Sehr lohnende Lektüre und empfehlenswert!