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"Manch einer kennt die Arten der Pflanzen oder der Fische / ich die des Getrenntseins. / manch einer weiß die Namen der Sterne auswendig / ich jene der Sehnsucht." In einem mit 11. September 1961 datierten Gedicht mit dem Titel "Otobiyografi" (Lebenslauf) resümiert der gealterte Dichter über sein Leben, er zählt die Höhepunkte ("Lenin hab ich verpasst statt dessen hielt ich 1924 Wache / an seinem Sarg"), aber auch die Niederlagen auf, wenn er einige Zeilen weiter, verbitterter nun, schreibt: "meine Werke werden in dreißig vierzig Sprachen gedruckt / in meiner Türkei in meinem Türkisch sind sie verboten". Und doch kommt er zu einem versöhnlichen Abschluss: "Wenn ich heute in Berlin vor Kummer krepieren sollte / kann ich doch sagen ich habe gelebt wie ein Mensch." Zwei Jahre später stirbt der türkische Dichter Nazim Hikmet tatsächlich, allerdings in Moskau, und sein Werk wird erst 1965 wieder in der Türkei legalisiert. Sechzehn Jahre hat er dort im Gefängnis verbracht, zwölf Jahre lebte er im Exil.
Die vorliegende zweisprachige und in Halbleinen gebundene Ausgabe ausgewählter Werke des Autors zeigt eine Auswahl von den Anfängen des Dichters (mit 13 Jahren fing er an) bis hin zu seinen verklärteren Tagen. Nazim Hikmet war ein politischer Mensch, aber auch ein sehr verliebter, denn viele seiner Gedichte sind Frauen gewidmet, die ihn in seinem Leben begleiteten. Er wurde in eine sehr privilegierte Familie hineingeboren, sein Vater war immerhin Gouverneur von Aleppo und seine Mutter wurde als schön, tatkräftig und hoch gebildet geschildert, Eigenschaften, die ihr nach der Scheidung sicherlich das Überleben erleichterten. So wie Kemal Atatürk wurde auch Hikmet in Saloniki geboren und die beiden sollen sich sogar begegnet sein. Leider konnte ihm auch der Staatspräsident die Jahre im Gefängnis nicht ersparen, denn er starb bereits 1938, genau zu der Zeit als Hikmet seine längste Periode im Gefängnis zu verbüßen hatte. Auch eine Petition, von Brecht, Aragon, Sartre, und Picasso unterzeichnet, erreichte nicht ihr Ziel, jedoch zieht ein Regierungswechsel in Ankara eine Amnestie nach sich. Endlich frei, erreicht Hikmet allerdings ein Stellungsbefehl zum Militär: Hikmet ist 49 Jahre alt und flieht ins Ausland. Die Sowjetunion rollt dem verfemten Dichter und Kommunisten den roten Teppich aus.
Grundlage der vorliegenden Auswahl ist die 2007 in Istanbul erschienene Edition Nazim Hikmet "Bütün Siirlerei" (Sämtliche Dichtungen), ein gewichtiger Band von 2080 Seiten Umfang. Gisela Kraft hat die Auswahl daraus so getroffen, dass die Gedichte auch eine "Metabiographie im Medium seiner Lyrik" ergeben. Die Texte sind aus diesem Grund auch chronologisch angeordnet. "Ein türkischer Text, ins Deutsche übersetzt oder nachgedichtet, wird länger, er braucht mehr Wörter und darum oft mehr Zeilen", erklärt die Herausgeberin in ihrem Nachwort. Lyrik "original" zu übermitteln, hieße, sie des Merkmals Poesie zu berauben. Die einzige Rettung bestünde darin, das Gedicht neu zu schreiben. Das aber gelinge einzig dann, wenn man zuvor seine Aussage, seine Tonlage, seinen Gestus erfasse, einschließlich der seiner Entstehung vorausgehenden Gemütsbewegung des Autors. Es ist der Autorin in aller Bescheidenheit bewusst, dass dies auch misslingen könne.
"Dieses Feuer, / das in meinem Herzen entbrannt ist", lässt Nazim Hikmet den Scheich Bedreddin in seinem gleichnamigen Epos sagen, "das heftiger flammt jeden Tag ... / darin mein Herz hingehn und schmelzen wird, / und wäre es von geschmiedetem Eisen ... / Ich werde hinausgehn, ich werde den Aufstand wagen!" Mit diesen Worten gibt der Autor die Fackel des Aufstands weiter an die Nachgeborenen. Auch wenn Bedreddin am Ende besiegt und aufgeknöpft wird, ändert dies nichts an seiner und Hikmets Hoffnung, dass beim nächsten Mal die gerechte Sache siegen wird. Mit dieser Hoffnung ist wohl auch der Autor selbst gestorben und Gisela Kraft hat in der vorliegenden Buchausgabe einen Weg gefunden, das Vermächtnis Hikmets, die Hoffnung, weiter in unseren Herzen entbrennen und auch weiterhin lodern zu lassen.