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 Zwischen den Attentaten


Cover
Gesamt +++++
Anspruch
Aufmachung
Brutalität
Gefühl
Humor
Preis - Leistungs - Verhältnis
Spannung
Ton
Kittur, eine fiktive Stadt in Indien, Heimat von Reichen und Armen, von Geschäftsleuten und Bettlern, Moslems, Christen und Hindus, Verbrechern und rechtschaffenen Bürgern, Korrupten und Standhaften: In diese Stadt entführt uns der Autor Aravind Adiga in seinem neuen Werk "Zwischen den Attentaten".
Ein Schüler zündet im Unterricht eine Bombe, nachdem ihn der Lehrer vermeintlich aufgrund seiner Kastenzugehörigkeit – er ist nur zur Hälfte ein Brahmane, die höchste Kaste in Indien - gedemütigt hat …
Ein Fabrikbesitzer kämpft gegen die überall vorherrschende Korruption und muss einsehen, dass es ein Kampf gegen Windmühlen ist und dass auch er einen erheblichen Teil beiträgt zu Ausbeutung und Zerfall …
Ein Mann verkauft preiswert illegale Kopien von Büchern an Studenten. Obwohl die Polizei ihm die Beine bricht, nachdem er eine Kopie der "Satanischen Verse" von Salman Rushdie angeboten hat, beharrt er weiter darauf, das verbotene Buch zu verkaufen …
Ein junger Moslem lässt sich von einem reichen Fremden für dessen Ziele einspannen, weil er stolz auf seine Herkunft ist und deutlich die Verachtung der Hindus spürt – doch erst spät wird ihm klar, was der Fremde von ihm verlangt …
Ein Journalist durchstreift nachts die Straßen von Kittur auf der Suche nach der Wahrheit. Er erkennt, dass die Zeitung, für die er seit zwanzig Jahren arbeitet, Lügen und Korruption unterstützt und die wahren Hintergründe verschleiert …

In "Zwischen den Attentaten" skizziert Aravind Adiga in diesen und weiteren Episoden die gesellschaftspolitische Situation Indiens in den 1980er und frühen 1990er Jahren, und zwar genau im Zeitraum zwischen zwei Ereignissen, die Indien damals aufrüttelten und traumatisierten: die Ermordung der Premierministerin Indira Gandhi im Jahr 1984 und die spätere Ermordung ihres Sohnes und Amtsnachfolgers Rajiv Gandhi im Jahr 1991.
Adigas Werk ist diesmal kein zusammenhängender Roman wie der international erfolgreiche Vorgänger "Der weiße Tiger", sondern eine Sammlung von einzelnen Episoden, die viel schärfer, als es eine einzelne Erzählung je könnte, ein genaues Abbild der indischen Gesellschaft zur damaligen Zeit zeichnen.

Aravind Adiga gilt in Indien als Nestbeschmutzer, weil er ungeschönt und kritisch die sozialen und gesellschaftlichen Zustände schildert und dabei den Finger in zahlreiche Wunden legt. Damit öffnet Adiga auch den ausländischen Lesern, die Indien häufig reichlich verklärt betrachten, die Augen und zeigt ein Indien, das man in den kitschigen Bollywood-Produktionen garantiert nicht findet.
Dabei beschränkt der Autor sich aber nicht einseitig auf Schilderungen von Armut oder Slums – der gefeierte Film "Slumdog Millionär" hat das Augenmerk eher auf die Situation der Ärmsten der Armen gelenkt -, sondern er geht subtiler vor und zeichnet einen interessanten und äußerst lebendigen Querschnitt durch mehrere Gesellschaftsschichten hindurch. Adiga ist ein meisterhafter Erzähler, was vor allem darin deutlich wird, dass die zahlreichen Anekdoten alle so unterschiedlich und nichtsdestotrotz ausnahmslos so interessant und spannend erzählt sind. Die Menschen, die sich hier Ungerechtigkeiten ausgesetzt sehen – Ungerechtigkeit, Korruption und Klassenschranken sind große Themen in Adigas Schilderungen –, sind sehr unterschiedlich und nicht zwangsläufig mittellos. Einer ist ein armer Moslem, der als Kuli am Bahnhof arbeitet, ein anderer ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann, der regelmäßig teure Clubs besucht, der nächste ein angesehener Journalist.
Religionskonflikte werden ebenso thematisiert wie der Umstand, dass das Kastensystem zwar offiziell abgeschafft ist, dass Indien aber immer noch durch und durch durchdrungen ist vom Klassendenken – die Kasten heißen jetzt einfach "communities", Diskriminierung und Ächtung von niedriger Gestellten finden weiterhin ganz selbstverständlich statt.

Gelesen wird die Hörbuchfassung von Adigas Roman von Heikko Deutschmann – er liest den Hauptteil, nämlich die einzelnen Anekdoten – und Alexander Döring, der den erzählerischen Rahmen vorliest, den Aravind Adiga nach Art eines kleinen Reiseführers durch Kittur um die Geschichten herumgelegt hat. Deutschmann mit seiner ruhigen Art und der angenehmen Stimme führt bedächtig durch die Lesung und trifft genau den richtigen Ton, um den nüchternen, unaufgeregten Stil Adigas einzufangen.

Indien ist ein sehr politisches Land mit vielen schwelenden Konflikten, das für Ausländer schwer zu verstehen ist und viel mehr zu bieten hat als Touristenattraktionen und typische Assoziationen wie Yoga oder Bollywood-Glitzer. Adigas Werke helfen, ein Stück weit hinter die Kulissen zu blicken und Indiens Gesellschaft zu verstehen. Kritisch, aufrüttelnd, häufig schmerzhaft und provokativ, aber auch bezaubernd und schön – eine absolut lesenswerte Sammlung von Anekdoten aus einer fiktiven Stadt, die unter die Haut gehen. Von Aravind Adiga wird man hoffentlich noch viel hören!

Christina Liebeck



CD | CD-Anzahl: 6 | Erschienen: 22. August 2009 | Laufzeit: 426 Minuten | Originaltitel: Between the Assassinations | Preis: 24,99 Euro | Sprache: Deutsch

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