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 Der Schneeflockenbaum

Autoren: Maarten 't Hart
Übersetzer: Gregor Seferens
Verlag: Piper

Cover
Gesamt ++++-
Anspruch
Aufmachung
Gefühl
Humor
Preis - Leistungs - Verhältnis
Spannung
Zwei kleine Jungen lernen einander im Kindergarten kennen und bleiben lebenslang Freunde, obwohl bereits ihre erste Begegnung den Konflikt beinhaltet, der sich wie ein roter Faden durch ihre Bekanntschaft ziehen wird: Jouri spannt dem nie mit Namen genannten Ich-Erzähler im Handumdrehen die kleine Freundin aus.
Die beiden unzertrennlichen Jungen sind Außenseiter; der Protagonist wird zumindest bis weit in seine Jugendjahre hinein von für seine Umgebung unangenehm wahrnehmbaren Verdauungsproblemen geplagt und liebt klassische Musik, während Jouri der schmächtig geratene Sohn eines Kollaborateurs ist. Hier sei angemerkt, dass die Jungen gegen Kriegsende in Holland geboren wurden. Beide halten wie Pech und Schwefel zusammen, und aus unerfindlichen Gründen gibt der Ich-Erzähler diese Freundschaft auch dann nicht auf, als ihm Jouri sozusagen im Vorübergehen auch die vierte oder fünfte Freundin ausgespannt hat.

Mittlerweile sind die 60er-Jahre angebrochen, die jungen Männer studieren in Leiden, und es dauert lange, bis der Ich-Erzähler in einer unauffälligen Flötenlehrerin die Frau findet, die er heiraten möchte. Obwohl Jouri inzwischen ebenfalls geheiratet hat – ein extravagantes Mädchen aus reichem Elternhaus, das den Ich-Erzähler bewusst als eine Art Vehikel benutzt hat, um Jouris Liebe zu erlangen -, versucht der Protagonist, seine Frau vor Jouri zu verstecken. Als sich ein Zusammentreffen nicht verhindern lässt, ist Jouri an dem Mauerblümchen gar nicht interessiert, doch anschließend ergeben sich weiterhin verblüffende Liebesverwicklungen.

Als Rahmenerzählung dieses Romans dienen Begegnungen des Ich-Erzählers mit seiner streng protestantischen Mutter: anfangs bei der Beerdigung ihres zweiten Mannes, und am Ende steht einer der häufigen Pflichtbesuche des Sohnes, der zu einer erstaunlichen Aussprache führt. Diese fördert Details zutage, die so gar nicht zu der zur Schau getragenen protestantischen Tugendhaftigkeit passen und letztlich in einer grotesken Enthüllung kulminieren.
Der Roman befasst sich, wohl auch autobiografisch geprägt, mit der Abnabelung eines Jungen vom erdrückenden christlich-protestantischen Weltbild der Familie und seiner Prägung durch Freunde und Studium. Vor allem geht es um die Liebe und die Sexualität, die in der anbrechenden Zeit der sexuellen Befreiung zugleich einfacher und wesentlich komplizierter geworden sind als wenige Jahre zuvor. Und natürlich gehört auch Freundschaft in eigenartigen Ausprägungen zu den zentralen Themen.
Als Bindeglied zwischen ganz gegensätzlichen Figuren des Buchs dient die Musik, die so genannte Klassik. Sie schafft eine Verbindung zwischen dem jungen Ich-Erzähler und dem unverbesserlichen Nazi-Vater des Freundes, nähert ihn über einen Umweg Frederica an, dem Mädchen, das Jouri heiraten wird, und bringt ihn schließlich mit seiner eigenen späteren Frau zusammen. Zugleich entwickelt er sich durch die Auseinandersetzung mit der Musik weiter.
Einen bezaubernden Hintergrund bilden die Städte Maassluis und Leiden in den 50er- und 60er-Jahren; perfekt bindet der Autor Lokalkolorit und Natur ein, ist doch der Protagonist mit Leib und Seele Biologe.

Gelegentlich scheint die Geschichte ein wenig ins Triviale abzugleiten, vielleicht gerade deshalb, weil das Liebesleben des Ich-Erzählers lange Zeit ein wenig stereotyp verläuft, was freilich beabsichtigt ist. Insgesamt aber handelt es sich um eine spannungsgeladene, trotz oder gerade wegen ihrer misanthropischen Elemente sehr humorvolle Erzählung mit recht viel Tiefgang, die zu lesen sich definitiv lohnt, nicht zuletzt für Menschen, die die von Brüchen und Generationen- und Identitätskonflikten geprägten Sechziger nicht oder nicht bewusst erlebt haben.

Regina Károlyi



Hardcover | Erschienen: 1. Februar 2010 | ISBN: 9783492046343 | Originaltitel: Verlovingstijd | Preis: 19,95 Euro | 415 Seiten | Sprache: Deutsch

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