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 Das grüne Gewissen

Wenn die Natur zur Ersatzreligion wird


Cover
Gesamt ++++-
Anspruch
Aufmachung
Preis - Leistungs - Verhältnis
Er ist gern "draußen" beim Angeln in Brandenburg und beobachtet sogar im Vorübergehen und -fahren aufmerksam allerlei Pflanzen und Getier, wiewohl er schon lange in Berlin lebt: Andreas Möller, Autor des Buchs "Das grüne Gewissen". Vor allem aber denkt er über größere Zusammenhänge nach. Promoviert hat er über die Wissenschafts- und Technikkritik in der Weimarer Republik, und so liegt es keineswegs fern, dass er sich mit der grünen Bewegung inklusive "Bio" und dezentraler Energieversorgung unserer Tage auseinandersetzt.
Der Schrei nach der Natur, wie auch immer man diese definieren möchte, ist tief in der deutschen Seele verankert; schon vor dem Biedermeier kam er auf und zeugte stets von Zukunftsängsten und Sorge vor einem Identitätsverlust, wie der Autor aufzeigt. Nacheinander nimmt er sich verschiedene Themen des ergrünten Bürgertums vor, allgemeine und spezielle: die Historie der scheinbaren Naturliebe und Technikfeindlichkeit und die Ausprägungen und Positionen der heutigen "Generation Landlust", das umfangreiche Thema "Energie", Lifestyle-Auswüchse wie Impfverweigerung und Glauben an Bio, Selbstgemachtes und regionale Herkunft von Lebensmitteln und nicht zuletzt das Wesen der Natur an sich – das, was sie aus wissenschaftlicher Sicht ist, und das, was in sie hinein interpretiert wird.

Wer sich "Bio" verweigert, vorsichtig in Diskussionen einwirft, dass sich das Klima seit Urzeiten und oft auch sprunghaft verändert habe und dass seinerzeit der Kunstdünger so heftigen Protest auslöste wie heute die grüne Gentechnik, läuft Gefahr, nicht nur in die "Ewiggestrigen"-Schublade verfrachtet, sondern kräftig gemobbt zu werden; eine Erfahrung, die erstaunt und bestürzt. Denn die massive Verweigerung objektiver wissenschaftlicher Erkenntnisse zugunsten einer verklärenden "Natur"-Romantik hat in der Tat etwas Quasi-Religiöses, und Glaube ist nicht rational. Was gerade dann destruktiv wirkt, wenn weitreichende politische Entscheidungen anstehen.

Der Autor untersucht anhand verschiedener Themen, wie in einer zunehmend säkularen Gesellschaft, speziell der deutschen, die moralische Instanz, die vermutlich jeder Gesellschaft innewohnt, weg von der (christlichen) Religion hin zur Natur beziehungsweise einem skurrilen Naturbild verschoben wird. Möller untersucht hier kritisch den Naturbegriff und zeigt auf, dass unsere blühenden oder auch nicht blühenden Landschaften nur einen subjektiven Natureindruck widerspiegeln, weil Natur sich stetig wandelt und wenig mit dem Korsett zu tun hat, in das wir sie anhand unserer Begrifflichkeiten und unserer Bedürfnisse pressen: Die typische Natur Mitteleuropas wäre ein bemerkenswert artenarmer Urwald, sicher nicht der moderne, gepflegte Wald, den der Deutsche seit zwei Jahrhunderten romantifiziert.
Zudem weist der Autor nach – und er ist diesbezüglich kein Pionier -, dass "Bio" qualitativ nicht besser ist als konventionell erzeugte Nahrungsmittel, dass die so genannten regionalen Lebensmittel keineswegs zwingend eine positive Energie- und Kohlendioxidbilanz gegenüber überseeischen Importen aufweisen und dezentrale Energieversorgung, wie sie propagiert wird, gleichfalls nichts anderes als Augenwischerei ist. Der Ökologismus, dem sich eine saturierte, sendungsbewusste Schicht anschließt, treibt so absurde Blüten wie die Impfverweigerung. Diese beinhaltet auch den statistisch eindeutig belegten Aspekt, dass die Behinderungen oder Todesfälle durch eigentlich "beimpfte" Krankheiten wie Masern Impfschäden – sofern diese belegbar sind – bei weitem überwiegen.

Zur Zeit des Biedermeier wie auch heute scheint es die Angst vor der Zukunft zu sein, die den Ruf "Zurück zur Natur!" (was auch immer diese sein mag) auslöst, ein Wunsch nach Sicherheit und Vorhersagbarkeit. Möller erörtert anhand von Logik und zugänglichen Quellen, wie wenig dieser Wunsch mit der Wirklichkeit und mit sozialer Verantwortung zu tun hat, und dass sich hier eine selbst ernannte Elite auftut, ähnlich den Kirchenoberen früherer Jahrhunderte, die dem Volk und nach Möglichkeit dessen Regenten erklärt, wie es zu leben habe, um selig zu werden. Der Autor entwickelt kein Feindbild und verurteilt auch nicht pauschal, sondern er zeigt auf, wie es in einer vom Überfluss geprägten Gesellschaft zu einem irritierenden Zerrbild der "guten" Natur kommen konnte, und wie diese als Schutzgöttin etabliert wurde. Der Leser wiederum wird nach der Lektüre den Naturbewegten, den Bio-Konsumenten nicht allzu böse sein, ihre Motivation aber hinterfragen und begreifen, dass er sich von einem modernen Ablasshandel und nicht zuletzt apokalyptischen Szenario der etwas anderen Art distanzieren sollte.

Ein sorgfältig recherchiertes Buch, das weder zu brutal anklagt noch butterweich-versöhnlich daherkommt.

Eine Leseprobe, das Vorwort sowie das Inhaltsverzeichnis gibt es hier auf der Verlags-Website.

Regina Károlyi



Hardcover | Erschienen: 25. Januar 2013 | ISBN: 9783446432246 | Preis: 17,90 Euro | 261 Seiten | Sprache: Deutsch

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