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 Der Junge und der Rabbi

Autoren: Pete Hamill
Verlag: Europa Verlag

Cover
Gesamt +++++
Aufmachung
Brutalität
Gefühl
Humor
Preis - Leistungs - Verhältnis
Spannung


Michael wächst im Brooklyn der 40er Jahre auf. Er ist zu Beginn des Romans elf Jahre alt, irischer Abstammung und hat einen italienischen und einen polnischen Freund, er liebt Baseball und versieht regelmäßig seinen Dienst als Ministrant, sein Vater starb im Zweiten Weltkrieg, und seine Mutter und er kommen finanziell nur mit Mühe über die Runden; eine ganz normale Kindheit in Brooklyn.
An einem kalten Wintertag, als Michael unterwegs zur Kirche ist, bittet ihn der Rabbi der auf seinem Weg gelegenen Synagoge um Hilfe, denn es ist Schabbes - Sabbat -, und der Rabbi darf im Sinne seiner religiösen Gesetze nicht einmal den Lichtschalter betätigen. Michael tut ihm voller Furcht den Gefallen und spürt dabei, dass der Rabbi entgegen allen Vorurteilen keineswegs bedrohlich ist. Neugierig bietet er am folgenden Samstag wiederum seine Dienste an, und zwischen den beiden, dem fast vierzigjährigen, wenige Monate zuvor auf Umwegen aus dem von Nationalsozialisten terrorisierten Prag eingetroffenen Rabbi und dem irischstämmigen Jungen, entsteht eine eigenartige Freundschaft. Michael lehrt den Rabbi Englisch und amerikanische Lebensart, denn dieser möchte ein echter Amerikaner werden, und dient ihm samstags als Schabbes-Goi, der die dem Juden verbotenen Tätigkeiten ausführt. Und der Rabbi führt ihn zunächst in die jiddische Sprache ein, dann in das jüdische Prag und schließlich in die Geheimnisse der Kabbala. Allmählich begreift Michael nicht nur die wichtige Rolle des Judentums als Mutter aller monotheistischer Religionen, sondern auch, dass er eine Chance hat, der Armut zu entfliehen: Bildung.
Aber das Viertel wird von einer antisemitischen Gang irischer Jugendlicher terrorisiert. Michael, Zeuge eines ihrer brutalen Verbrechen und als Judenfreund verschrien, ist unversehens zu ihrer Zielscheibe geworden. Die folgenden Monate sind von panischer Angst und einem sich ständig steigernden Loyalitätskonflikt geprägt. Doch unter der unmenschlichen Anspannung wächst Michael über sich selbst hinaus und stellt sich seiner Verantwortung.

Liest man die Kurzbiografie des Autors, so erkennt man die Parallelen zwischen ihm und Michael. Entsprechend authentisch schildert er das Immigrantenmilieu in Brooklyn in seiner ganzen Zwiespältigkeit: Armut, Alkoholmissbrauch und Bildungsferne in vielen Familien, aber auch Zusammenhalt und - zuweilen - Zivilcourage. Das verzweifelte Streben des entwurzelten Rabbi nach Integration scheitert, muss scheitern an der dumpfen Ignoranz perspektivloser Jugendlicher aus der dominierenden Subkultur, deren Väter doch, welche Absurdität, im Krieg gegen die Juden mordenden Nazis gekämpft haben. Michael und der Rabbi klammern ihre Hoffnungen an den ersten schwarzen Baseballspieler ihres Lieblingsteams, der nicht minder um Akzeptanz kämpfen muss als Rabbi Hirsch.
Im Vordergrund aber steht Michael, allein gelassen in seinem Kampf gegen die unerbittliche Gang, eine armselige Galionsfigur, als einer seiner Unterstützer nach dem anderen resigniert und sich den Zwängen beugt, zuletzt auch seine Mutter, die ihn wie eine Löwin verteidigt hat und am Ende die Konsequenzen aus der Lebensgefahr und Entwürdigung für den Sohn und sich selbst zieht, indem sie eine Wohnung in einem anderen Viertel sucht. Dass Michael schließlich die faszinierende Mystik der Kabbala einsetzt, um Gerechtigkeit zu üben, ohne einen Verrat zu begehen, erscheint nur folgerichtig.
Die intensiven und unmittelbaren Erfahrungen aus der Sicht des Kindes, dessen Aufgeschlossenheit und Neugier, aber auch die abgrundtiefe, bohrende Furcht und der Schmerz übertragen sich in ihrer schlichten Eindringlichkeit auf den Leser. Das Buch ist wirklich herzerwärmend in seiner latenten, gelegentlich von jüdischem Humor durchsetzten Melancholie, sentimental ohne Kitsch, belehrend ohne Schulmeisterei und nicht zuletzt aufgrund der sich dramatisch zuspitzenden Handlung spannend zu lesen. Bedauerlicherweise erscheint die grundlegende Thematik zeitlos, ethnien-, religions- und länderübergreifend aktuell.
Die schlicht-schöne, qualitativ hochwertige Ausstattung und das offensichtlich perfekt vorgenommene Korrektorat sowie die ausgesprochen gut gelungene Übersetzung (sofern sich dies ohne Lektüre des Originals aus Sprache und Stil ableiten lässt) tragen ebenfalls dazu bei, dass dieses Buch sehr empfohlen werden kann.

Regina Károlyi



Hardcover | Erschienen: 01. Oktober 2005 | ISBN: 3203780178 | Preis: 19,90 Euro | 400 Seiten | Sprache: Deutsch

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