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 Einmal noch Marseille

Autoren: Björn Kern
Verlag: C. H. Beck

Cover
Gesamt +++++
Anspruch
Aufmachung
Brutalität
Gefühl
Humor
Preis - Leistungs - Verhältnis
Spannung


"Ich werde mich nicht mehr bewegen können", sagt die Mutter in Björn Kerns zweitem Roman "Einmal nach Marseille". Die Todkranke spricht weiter: "Ich werde nicht mehr schlafen können, und am Ende ersticke ich." Das Leben in der kleinen Familie aus Vater, Mutter und Sohn wird kompliziert, grotesk, eine Belastung für die Nerven, eine Herausforderung, dennoch zu lieben und füreinander da zu sein.

Längst führt der Sohn, der Erzähler, ein eigenes Leben. Aber die Krankheit der Mutter zwingt ihm eine Nähe auf, die alles auf den Prüfstand stellt. Der Sohn läuft nicht weg, hilft der Mutter, hilft dem Vater, hilft sich selbst. Die Mutter ist vital, kämpft um jeden Fußbreit Leben, provozierend, liebenswert, heroisch, unerträglich.

Ohne sie direkt auszusprechen, stellt der Autor durch die Beschreibungen und Gefühle des Ich-Erzählers heikle Fragen, die jeder nur für sich selbst beantworten kann: Ist das Leben mit einer schweren Krankheit wirklich noch lebenswert? Ist eine solch intensive Pflege, über der man sein eigenes Leben vergisst, für die Angehörigen zumutbar? Aber hat ein geliebter Mensch nicht das Recht auf eine aufopferungsvolle Behandlung? Wie ist mit diesen inneren Konflikten umzugehen? Sollten sie offen angesprochen oder lieber verschwiegen werden?

Der junge Schriftsteller Björn Kern, Jahrgang 1978, erzählt schnell, genau, mit Witz und Herzenswärme davon, was es bedeutet, mitten im Leben Abschied nehmen zu müssen. Liebe, Mitleid, Anklage, Ohnmacht, Scham und Wut - der Autor beschreibt die Gefühle der Familienmitglieder indirekt und auf eine gänzlich unsentimentale Art und Weise, aber trotzdem mit einer starken Wirkung.

So zitiert der Ich-Erzähler beispielsweise einen Brief, den er an seine Freundin schreiben wollte und schließlich doch verwarf, mit den Worten: "Liebe, ihre Krankheit ist unersättlich. Sie frißt meinen Vater, und bald frißt sie auch mich. Sie verschlingt meine Zeit und meine Liebe, ich handle nur noch und bin in Gedanken woanders, nicht selten bei Dir." Kerns präzise, poetische Sprache trägt den Leser durch diesen aufwühlenden und bewegenden Roman voller Szenen und Dialoge, die man nicht mehr vergisst.

Darüber hinaus kritisiert der Autor auch das deutsche Gesundheitssystem. Durch die Krankheit der Mutter und die fehlende finanzielle Unterstützung muss sich die kleine Familie hoch verschulden. Schließlich wird sie groteskerweise sogar von einem Polizisten aufgesucht, der wegen Schwarzarbeit vermittelt, weil der Staat bezweifelt, dass die Familie die Pflege der Mutter alleine bewerkstelligt und zudem die Krankenkasse nicht glaubt, dass die Lage wirklich so schlimm ist und erfundene Abrechnungen vermutet. Diese Unterstellung ist blanker Hohn für die Mutter, die bewegungslos komplett auf die Hilfe ihrer Angehörigen angewiesen ist, und für Vater und Sohn, bei denen sich seit Monaten alles nur noch um die Pflege der Kranken dreht.

"Einmal nach Marseille" ist ein kurzer Roman von nur 124 Seiten, aber er ist stark in seiner Wirkung und voll gepackt mit indirekten kritischen und moralischen Fragen, die manchen Leser auch nach der Lektüre noch lange beschäftigen werden.

Nikola Poitzmann



Hardcover | Erschienen: 01. September 2005 | ISBN: 3406535518 | Preis: 12,90 Euro | 124 Seiten | Sprache: Deutsch

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