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 Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman

Autoren: Laurence Sterne
Übersetzer: Michael Walter
Verlag: Eichborn Verlag

Cover
Gesamt +++++
Anspruch
Aufmachung
Humor


"Ich wünschte, entweder mein Vater oder meine Mutter, oder fürwahr alle beide, denn von Recht wegen oblag die Pflicht ihnen beiden zu gleichen Teilen, hätten bedacht, was sie taten, als mich zeugten."

So klagt kein Geringerer als Tristram Shandy, Gentleman, Sohn eines Nasenforschers und einer wunderbaren, wenn auch etwas hektischen Mutter; und eben diese Eltern, die den redseligen Ich-Erzähler zeugten, sind auch die Hauptfiguren dieses erstaunlichen Buchs, dessen erster Teil im Jahr 1759 das Licht der Welt erblickte, so wie Tristram Shandy selbst. "The Life and Opinions of Tristram Shandy", das Meisterwerk des englischen Theologen und Offizierssohn Laurence Sterne, hat bereits zu seinem erstmaligen Erscheinen Aufsehen erregt, schon allein durch die damals unerhörte Dreistigkeit, einen Roman mit der Zeugung des Ich-Erzählers beginnen zu lassen. Tabubruch, Skandal, Obszönität! Denn was Sterne hier in neun ausführlichen Bänden ausbreitet - das Leben und die Ansichten jenes Gentlemans Tristram Shandy (englisch für "verrückt", "unerhört") -, ist in der Tat nicht frei von Obszönität, weder in Form noch in Inhalt. Die Form war revolutionär: eine wirre Verschränkung verschiedener Zeitachsen, bewusstes Abschweifen, Rückgriffe und Vorausdeutungen, paralleles Erzählen ... so etwas hatte die Literaturlandschaft des 18. Jahrhunderts noch nicht gesehen. Auch heute sitzt man staunend vor diesem großen Buch, das in seiner Komposition an die Werke von James Joyce, Virginia Woolf oder Arno Schmidt erinnert. Diese bewunderten Sterne übrigens sehr und sahen sich in seiner Nachfolge. Auch sprachlich ist "Tristram Shandy" formidabel, voll des Spottes, der Anspielungen und Freizügigkeiten, die nicht selten ins Sexuelle gehen, aber so raffiniert in der Sprache verwoben sind oder im Originalmanuskript bewusst unleserlich gehalten wurden, dass die Zensur wenig auszusetzen hatte. Und der Inhalt? Nun, die Wiedergabe einer Geschichte, die sich jeder Stringenz verweigert, ist nicht einfach. Nur soviel: über den Helden der Geschichte, also Tristram Shandy selbst, erfährt man auf den über 800 Seiten des Romans wenig bis gar nichts. Zwischen Tristrams Zeugung auf den ersten Seiten und seiner Geburt am Ende des zweiten Buchs liegen Dutzende Anekdoten, die sich um seinen Vater, um seinen verrückten Onkel Toby und um das Phänomen der Nasenforschung ranken. Auch nach der Geburt fabuliert der Ich-Erzähler munter drauflos und gibt wenig von sich, aber viel von seinen gewagten Ansichten preis, etwa über den Kleriker Yorik oder den Offizier Trim, die seine Wege kreuzen. Aber der Leser erfährt auch von einem böhmischen König und seinen sieben Schlössern, wird auf eine Reise nach Frankreich entführt und darf einige verstohlene Blicke durch ein Schlüsselloch werfen ... ja, genau, wir verstehen uns!

Was für ein Buch! Ein unumstrittener Klassiker, unzählige Male zitiert, unzählige Male gefeiert. Das Feiern darf jetzt weitergehen, denn der Eichborn Verlag hat eine liebevolle Neuausgabe erstellt, und zwar in der preisgekrönten (und dennoch jahrelang vergriffenen) Übersetzung von Michael Walter, der sich besondere Mühe mit Laurence Sternes eigenwilliger Apostrophierung und typografischen Gestaltung gemacht hat. Die gebundene Ausgabe orientiert sich am Original, verzichtet deshalb weder auf den Abdruck der von Sterne geschwärzten Seiten noch auf das legendäre marmorierte Einlageblatt im dritten Band. Nicht zu vergessen: der üppige Anhang mit Briefen von Sterne, einem Nachwort des Eichborn-Verlagschefs Wolfgang Hörner und einer kurzen Übersetzungshistorie. Da kann man nur mit Tristram Shandy rufen: eine der allerbesten Ausgaben, so ich je gesehen! Wer es denn noch etwas edler haben will, greift tiefer in die Tasche und sichert sich die limitierte Luxusausgabe im Schuber - mit handgeschöpftem marmorierten Einlageblatt, so wie einst bei der Originalveröffentlichung von Sterne. Aber das nur anbei für unsere bibliophilen Leser.

Wer auch nur einen Hauch von Liebe zur klassischen Sprache, zum Witz und zur gediegenen Unterhaltung besitzt, darf sich dieses Buch nicht entgehen lassen. Ein rabelaisisches Vergnügen, ein Quell der Freude, ein Meisterwerk. Vivat Laurentius! Cresceat Tristramus!

Hagen Hoffmann



Hardcover | Erschienen: 01. September 2006 | ISBN: 3821807334 | Originaltitel: The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman | Preis: 39,90 Euro | 852 Seiten | Sprache: deutsch

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