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20 Jahre Geisterdrache

Chaos regiert die Welt - Fraktaler Schaum, Milchwirbel im Kaffeebecher, Windungen im Marmorkuchen oder im Zigarettenrauch. Und dennoch ist es ein ordentliches Chaos, das dort regiert, denn wo die kosmischen Kräfte spielen, wird aus Chaos Ordnung geboren, und es folgen penible Strukturen und Hierarchien. Die Welt organisiert sich selbst, erhebt sich sozusagen aus dem Chaos - zwar unvorhersagbar und doch gesetzmäßig, jedoch klar offenbart im Ausdruck der Natur. Wenn da der Wind dem Meer ein Wellenmuster aufprägt oder Berge und Bäume ihre Strukturen ausbilden, so folgen sie den universalen Gesetzen.
Auf die gleiche Weise entstanden einstmals die Geschichten um das Geisterdrachen-Epos, und zu Zeiten der Gründung des Spectre-Dragon-Archivs war eben dies unsere Aufgabe: aus dem Chaos eine Ordnung hervorgehen zu lassen. Heute - 20 Jahre nach den Schöpfungsprozessen - weiß ich, es gelingt.
Mit dem bevorstehenden Sieg über die Unordnung gewinnt eine Fantasy-Welt mehr und mehr ein offenkundiges Antlitz und wird aus ihrem latenten Dasein an die augenfällige Oberfläche geführt.

Aber wie fing alles an?
Ich war 12 Jahre alt und las seit geraumer Zeit Horrorromane, die meinem Hang für die dunkle Seite des Lebens und dem Okkultismus sehr entgegenkamen. Von der Fantasy-Literatur kannte ich noch so gut wie nichts und war von dem Vorurteil geprägt, in ihr würden sich lediglich strahlende Helden auf schönen Pferden bewegen, um die Welt und die wunderschönen Prinzessinnen zu retten. Langweilig, wie ich fand! Schon damals stellte ich mir die Frage, was wäre, wenn das Böse zu siegen imstande wäre? Der Untergang der Welt oder nur eine vollkommene Veränderung von alledem, was uns bekannt und sicher schien? - Eine Frage, die zu einer zentralen Position werden würde, ja, schließlich zu der Frage schlechthin wurde.

Den ersten Teil der Antwort fand ich auf einem Flohmarkt für 1,50 DM in Form eines Fantasy-Romans von Karl-Edward Wagner - namentlich "Sohn der Nacht". Klar, weshalb ich mir diesen Titel zulegte. In dem dünnen Bändchen von Bastei Lübbe befanden sich 3 Geschichten des Anti-Helden Kane: "Ein Spiegelbild für den Winter meiner Seele", "Lynortis Vergeltung" und "Sing noch einmal von Valdese". Um es kurz zu machen, von diesem Zeitpunkt an, war ich fasziniert von der dunklen Seite der Fantasy, von Wagners düsterem Erzählstil und diesem unnahbaren Helden, an dessen Seite ich liebend gern getreten wäre.

Aber dieses Faible hatte einen Haken. Es gab nicht viel Vergleichbares. Auf die Idee, selbst Bücher zu schreiben, kam ich 1983 freilich noch nicht. Dennoch schrieb ich in diesem ersten Jahr einige Ideen nieder und fand mich schließlich in einer Erzählung irgendwo zwischen Wagners Welten und der Hölle wieder. Diese erste Kurzgeschichte - wenn sie überhaupt schon genug Handlung hatte, um so genannt werden zu können - trug, glaube ich, den Namen "Von der Schließung des Schleiers" und existiert nicht mehr. Aber ich entdeckte, wie spannend diese Ausflüge in meine Fantasie waren, und ich begann zu schreiben, nachdem mein Vater mir zusätzlich Mut gemacht hatte. Im Folgejahr schrieb ich die erste Geschichte, die ich guten Gewissens dem Geisterdrachen-Epos zuordnen kann, auch wenn die Hauptcharaktere zu diesem Zeitpunkt noch nicht gewählt waren. Die Geschichte spielte in einer von mir erdachten, Welt. Sie hieß "Zu ertrinken in der kalten, wehmütigen See" und war eher eine Parabel, wie ich später noch zwei weitere ("Die 4 Brüder & der Schwertarm", "Die Feuer von Metriditor") verfassen sollte.

Nun begann eine fantastische Zeit für mich, denn 1984 bekam ich auch Kontakt zu einer hermetischen Loge, die mich durch ihre Philosophien und Vorstellungen faszinierte. Über sie bekam ich auch Zugriff auf viele außergewöhnliche Werke, die sich mit allerlei okkulten, paranormalen und mystischen Themen beschäftigten. Ein dunkles Paradies für einen neugierigen, bibliophilen Jungen. Bei meiner Suche entdeckte ich auch einen kleinen, in Latein verfassten Versband - das "Liber Incendium Veritas". Das Buch beeindruckte mich schwer, denn es war auf schwarzes Papier, handschriftlich geschrieben worden und in einem aufwendigen Einband gebunden. Nur... ich verstand kein Wort.

Glücklicherweise gab es aber Menschen um mich herum, die mir einen Einblick in die Texte gaben, die sich als wenig interessant entpuppten. Sie waren in einer Form geschrieben, die nur allzu deutlich den biblischen Psalmen entlehnt schien (teilweise bis zu üblem Plagiat), jedoch gab es zwei wesentliche Punkte, die mich fortan faszinieren sollten.
Es waren die beiden interessanten Hauptfiguren: ein geisterhafter Drache, der als Schutzpatron für die Erde auftrat (wie ich später feststellen würde, etwas, das der keltischen Druidenmagie und den damit verbundenen Mythen entlehnt worden war) und eine dunkle Göttin, die sich als die triebhafte Urmutter ansieht, aus deren Schoß sich alles gebiert, und die auf die Erde kommt, um alles zu vernichten, damit es neu erschaffen werden kann.
Damit standen für mich - zunächst noch unbewusst - die Protagonisten des Geisterdrachen-Epos fest.

Im selben Jahr schrieb ich nichts mehr, denn es gab zu viel zu entdecken und zu studieren. Das blieb auch zunächst so. 1985 trat ich der Loge bei und weitete die Studien aus.
Chronologisch ungeordnet und unabhängig vom Geisterdrachen-Epos schrieb ich während der Schul- und angeschlossenen Lehrzeit viele Kurzgeschichten und einige Romane. Hinzu kamen mehrere Kurzgeschichten für den Bastei-Verlag, von denen zwei auch veröffentlicht wurden ("Eine Spur Mitleid", 1988, und "Schwungrad des Bösen", 1989). Beide waren auf die Gegenwart umgeschriebene Geschichten, die in ihrer Erstfassung zum Geisterdrachen-Epos gehörten, aber leider in dieser Fassung nicht mehr existieren.

Insgesamt schrieb ich von 1985 bis 2001 ungefähr 62 Kurzgeschichten, die in der Welt des Geisterdrachen-Epos spielten.
Ein weiterer wichtiger Punkt in der Zeit des Epos war ungefähr 1989 oder 1990. Da wurde ich Sänger in einer Dark-Metal-Band, und gleichzeitig begannen einige meiner Freunde und ich mit Fantasy-Rollenspielen - speziell AD&D. Irgendwann kamen wir zudem auf die Idee, der Band ein neues Image und einen neuen Namen zu geben - Fantasy war naheliegend, und der Bandleader und ich kamen auf den Namen Spectre-Dragon (der ruhelose Geist eines Drachen). Von diesem Tag an hatte nicht nur die Band einen Namen, sondern von Jahr zu Jahr wuchsen meine Kurzgeschichten, Liedertexte und Gedichte mehr und mehr zu einem Ganzen und unter dem Label Spectre-Dragon zusammen, und einige Texte erfuhren erste Veröffentlichungen in den Demo-Tapes jener Zeit.

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In den Fantasy-Rollenspielen begann ich außerdem, die Charaktere der Geschichten auszuprobieren - sprich: Wie kamen sie an, warum kamen sie derart an, was fehlte ihnen? Als Spieler war man da eingeschränkt, also wurde ich selbst Spielleiter, verlagerte alles in die Warhammer-Roleplay-Welt und begann nun explizit, Protagonisten und Antagonisten an den Mitspielern auszutesten. Über viele Jahre hinweg sammelte ich Daten über Weltzusammenhänge, Politik, Kultur, Geschichte, Lebewesen und Atmosphäre, die den Spielern besonderen Spaß bereiteten oder sie enttäuschten, und sammelte alles auf Notizzetteln, Rollenspielprotokollen und in Kurzgeschichten. Unmerklich hatte dabei auch die konzentrierte Entwicklung zu Praegaia - der Welt des Geisterdrachen-Epos - begonnen.
1998 kündigte mir die Band Mitgliedschaft und Freundschaft, weil aber aufgrund dieser herben Enttäuschung nicht all die geleistete Arbeit vergebens sein sollte, setzte ich mich mit einer Gefährtin zusammen, und die Internetseite www.spectre-dragon-archiv.de wurde ins Leben gerufen. Und hier sollte sich fortan alles zu ordnen beginnen. Alle Geschichten, Liedtexte und Gedichte, die sich noch irgendwo in meinen Unterlagen befanden, sollten hier veröffentlicht werden. Aber was für ein Chaos war in all den Jahren angewachsen? Zettelwirtschaft, versprengte Notizen und, und, und...

Es war und es ist noch ein langer Prozess. Die Hälfte der Geschichten, alle Liedtexte und einige Gedichte sind mittlerweile im Internet veröffentlicht. Wir haben eine zweite Website ins Leben gerufen - www.praegaia.de - , die sich den Weltinhalten angenommen hat und endlich mehr von diesem so lange und ausgiebig entwickelten Kosmos darstellt. Aber als Autor weiß ich, ebenso gut wie Sie als Leser, auch um die Vorzüge eines gedruckten Werkes, und deshalb wurde 2001 endlich der 1.Teil eines Geisterdrachen-Zyklus in Buchform veröffentlicht. In Zukunft wird die Arbeit auch und insbesondere auf die Bücher, die das Internet-Archiv und das Epos begleiten werden, konzentriert. Es geht hierbei um eine echte Koexistenz zwischen Internet und Büchern. Denn gerade der Erfolg des "De Joco Suae Moechae"-Zyklus (dem Debüt-Roman "Kriecher", der in wenigen Wochen in die zweite Auflage gehen wird) war der zweite Teil der Antwort auf die alles entscheidende Frage für die Handlungen des Geisterdrachen-Epos.
Was wäre, wenn das Böse zu siegen imstande wäre? Der Untergang der Welt oder nur eine vollkommene Veränderung von alledem, was uns bekannt und sicher schien?

Ihre Resonanzen bewiesen mir stets, dass die 20 Jahre Entwicklungszeit an Welt und Charakteren nicht umsonst gewesen sind. Denn es steht gerade in der Qualitätsfrage innerhalb der deutschen Fantastik oftmals nicht zum Besten, so dass ich mich ihr in meiner eigenen Arbeit ganz besonders verpflichtet fühle. Aber Qualität besteht für mich nicht allein in der lesbaren Gefälligkeit der Texte, sondern vor allen Dingen in ihrer Originalität.
Und da sind wir wieder beim Chaos angelangt, denn der Originalität wohnt die gleiche Nichtlinearität wie der Natur inne. Sie regiert das Wechselspiel zwischen Ordnung und Chaos, sorgt für Selbstähnlichkeit sogenannter fraktaler Gebilde, deren Struktur sich im Großen wie im Kleinen immer wieder gleicht. Der ewigen Frage nach neuen Kreaturen und andersartigen Szenerien und Kulissen entgegne ich nach wie vor gleich: Sie sind nur ein Viertel dessen, worauf es ankommt. Überzeugende Handlungen, originelle Ideen und starke Charaktere sind weitaus wichtiger als ein neues Mischwesen aus vielleicht Ork, Elf und einem Mantikore.

20 Jahre liegen hinter mir und Jahrzehnte hoffentlich noch vor mir. Allen, die mir unbewusst bei der Entwicklung geholfen haben, die meinen Geschichten seit Jahren die Treue halten, die mit der Welt und mir gewachsen sind, die mich unterstützt und bestätigt haben, sei hier ein ganz besonderer Dank ausgesprochen. Aber das soll nicht alles sein, denn ihnen allen widme ich die Anthologie, die zum Ende diesen Jahres im BLITZ-Verlag vorgesehen ist. Sie enthält einige Geschichten aus dem Archiv zum ersten Mal in gedruckter Form und trägt den Titel:

"GEISTERDRACHE
Die Chroniken
- Widerparte und Gefolge -
1984-2004"

Ich lade Sie abschließend ein, in der wachsenden Welt von Praegaia Stunde um Stunde zu verbringen, um den Kosmos hinter meinen Geschichten besser kennen zu lernen. Städte, Flüsse, Flora und Fauna, Karten, Götter, Rassen und ihre Legenden finden sie auf www.praegaia.de und die Abenteuer darum in den laufenden und geplanten Zyklen des BLITZ-Verlages sowie im Leserbereich des Spectre-Dragon-Archivs im Internet (www.geisterdrache.de). Sie werden in Praegaia sicherlich viel Altbekanntes finden, aber auch unglaublich viel Neues, das Sie mitnehmen wird auf eine Reise in die dunklen Seiten der Fantasie, dorthin, wo Caracalla, der Prinz der Pestilenz, sein Dasein fristet, wo Lord Adulator durch die Straßen streicht, wo der urtümliche Geisterdrache M'Zaarox wider seine Erzrivalin und Urmutter Medoreigtulb steht, und wo Abenteurer erkennen, dass man die Frage von Gut und Böse nicht mit Gold allein beantworten kann. In diesem Sinne wünsche ich allen meinen Lesern auch in Zukunft gute, anspruchsvolle und vor allen Dingen dunkle Unterhaltung.


Mit freundlicher Genehmigung des BLITZ-Verlages.

Marc-Alastor E.-E.