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Mooslandschaften oder: Eine Obsession

Bei der Arbeit an diesem Special bin ich vielen Fotografen näher gekommen: den großen Legenden und Aspiranten auf internationalen Ruhm, Fotografen, die ihr Wissen als Autoren und Dozenten weitergeben, einem Werbefotografen und -filmer, dessen Namen man nur branchenintern kennt, während die meisten Leser einige seiner Fotos und Filme bereits gesehen haben dürften, und ein paar begeisterten halbprofessionellen und Laienfotografen aus unserer Redaktion.

Jeder Fotograf hat offensichtlich, so meine Erkenntnis aus der Beschäftigung mit dem Sujet, das ein oder andere Steckenpferd, eine Obsession, die ihn über Jahre begleitet. Fasziniert haben mich unter anderem die Hochbunker von Boris Becker, die Taubenschläge (Colombiers) von Vicki Topaz, aber auch die Partyfotografie meiner Redaktionskollegin Anja Thiemé – ein Genre, mit dem ich kaum je in Kontakt gerate.

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Wirklichkeiten werden verfremdet, von Effekten überlagert, experimentell behandelt; die Fotografie dient nicht mehr wie in ihren Anfangszeiten einer unbestechlich objektiven Dokumentation, sie ist Interpretation, nicht anders als alle anderen Künste. Wer gut sein will, muss sich darauf einlassen.

Zugegeben, es hat mich bisweilen ein wenig desillusioniert, mich mit den Größen der Fotografie auseinanderzusetzen. Scheele Blicke auf die eigene Foto-Datenbank waren die Folge. Meine Insektenfotografien sind zumindest ganz hübsch, sie dokumentieren die Krabbler und Flieger in ihrem Lebensraum, stellen schon mal dank dem mittlerweile einigermaßen in Fleisch und Blut übergegangenen Spiel mit der Blende Einzelheiten heraus und lassen den Rest in weicher Unschärfe verschwimmen: Fliege à l'impressioniste, Wanzen-Aquarell. Aber mit einer Obsession wie den genannten Bunkern und Taubenschlägen kann ich nicht dienen.

Doch. Ich kann. Allerdings mit etwas scheinbar sehr Trivialem: Ich fotografiere Moos. Nein, keine Münzen, sondern die grünen Pflänzchen, die man allenthalben findet, wo es schattig und feucht ist.

Das 100er-Makroobjektiv hatte ich erst wenige Wochen, als mir die Moosflecken auf unserer Balkonmauer auffielen; manche satt grün, andere eher gelblich und mit bräunlichen Sporenkapseln versehen. Sie machten mich neugierig: Wie würde dieses Objektiv die Sporenkapseln auf ihren langen dünnen Stielen sehen – wie einen Wald? Und die sanft gewölbten grünen, krautigen Flecken als Voralpenlandschaft mit fremdartigem Bewuchs? Probieren ging hier definitiv über Studieren.
Während meines ersten "Shootings" an einem Sonntagmorgen kam der Nachbar aus seinem Wintergarten auf seine Terrasse und erkundigte sich irritiert, was an seiner dort frühstückenden Familie so ausgesprochen interessant sei. Mit etwas Mühe überzeugte ich ihn davon, dass ich mit dem relativ großen Objektiv nicht als Voyeur auf sein Fenster zielte, sondern lediglich auf die Mikrovegetation unmittelbar vor mir auf dem Balkon. Aber es lohnte sich, für die Fotos solche Missverständnisse in Kauf zu nehmen, denn das Moos erwies sich als erstaunlich fotogen und ließ spannende Experimente zu.
Gegenlicht, das Spiel mit Ausschnitt und Blende, gutes Wetter, wolkenverhangener Himmel, Blaue Stunde, Dämmerung, extravagante Strukturen. Das Moos lehrte mich, die Bedeutung des Lichts zu erkennen, dessen Veränderungen im Wechsel der Jahreszeiten zu beobachten und zu begreifen, dass Blende 1/2,8 alles andere als ein Notnagel ist, sondern die Möglichkeit zum gezielten Einsatz von Unschärfe bietet; ich zauberte zu meinem Erstaunen Aquarelle.

Ich probierte verschiedene Perspektiven aus und freundete mich beim Moos-Fotografieren mit meinem Stativ an. Unaufdringlich bot sich mir das Moos als Modell an. Manchmal kochte ich gerade, sah kurz aus dem Fenster – der Balkon liegt vor der Küche – und stellte mit einem leisen Aufschrei das Gas ab, rannte ins Wohnzimmer, um den Fotoapparat zu holen, wechselte in Rekordzeit das Objektiv (es ist ohnehin nie das richtige "drauf") und schoss eine Serie "Mooslandschaften". So hieß schon bald ein Ordner im Verzeichnis "Meine Bilder".
Ein Motiv, simpel und eigentlich nichts sagend – und doch handelt es sich wohl um den Ordner mit dem abwechslungsreichsten Bilderreigen in meiner Fotosammlung. Moos im Frühjahr, im Sommer (kaum, da Moos Hitze nicht mag), im Herbst und im Winter. Moos präzise abgebildet, Moos als Mondlandschaft, Moos inszeniert wie ein gewaltiges Buschfeuer, Moos wie eine im Nebel auftauchende Insel, Moos mit glitzernden Tropfen dekoriert, Moos, von Schneekristallen bedeckt; Moos, Moos, Moos.
Ich liebe Moos.

Das Anrühren des Moosbewuchses unserer Balkonmauer habe ich unter Todesstrafe gestellt. Erstaunlicherweise hat die Familie, mit meiner Besessenheit vertraut, dieses Diktum akzeptiert. Ein wenig haben sie wohl begriffen, dass das Moos mein Lehrmeister war und ist. Mein Thema. Meine Obsession.
Moos.

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Regina Károlyi, 28.02.2010