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"Das Schweigen meiner Mutter". Im Gespräch mit der israelischen Autorin Lizzie Doron
Interview mit Lizzie Doron
Vor dem eigentlichen Interview hatten wir uns darüber unterhalten, was für einen entscheidenden Unterschied es macht, eine eintätowierte Auschwitz-Nummer an einem realen, lebendigen menschlichen Arm gesehen zu haben, wenn man über den Holocaust nachdenkt. Lizzie Doron erzählte dann die Geschichte ihres ersten Buchs.

Lizzie Doron: Wissen Sie, in Israel haben wir das Roots Project, das heißt, Kinder müssen die Geschichte ihrer Familie in die Schule bringen. Und ich kannte meine Familiengeschichte nicht, deshalb habe ich immer nach Erinnerungen gesucht. Ich wurde zum Publizieren genötigt; ich hatte mich geweigert, die meiner Tochter weitergegebenen Erinnerungen zu veröffentlichen. Aber meine Assistentin an der Universität schickte Auszüge an viele Verleger. Ich traf die Eigentümerin eines der Verlage, und – um es kurz zu machen - sie sagte: "Ich weiß, dass Sie Ihre persönliche Geschichte nicht veröffentlichen möchten, aber für mich wäre es das größte Geschenk, das ich je erbitten könnte." Und als wir uns die Hand gaben, sah ich die Nummer. Da konnte ich nicht mehr nein sagen. Ich sagte ihr: "Sie haben das Buch. Aber ich bin keine Schriftstellerin. Melden Sie sich nicht wieder. Schicken Sie keine Journalisten."
Die Nummer, die ein vollständiger visueller Beleg für die Existenz von Auschwitz ist, hat auch mein Leben verändert, weil ich das Buch der Verlegerin mit der Nummer gegeben habe. Andernfalls wäre ich nie Schriftstellerin geworden. Ich wäre Professorin für Linguistik.

Media-Mania.de: In Ihrem autobiografischen Roman "Das Schweigen meiner Mutter" erzählen Sie die Geschichte Ihrer Kindheit, eingebettet in die aktuelle Geschichte, wie Sie einiges über Ihren Vater herausfanden – den Vater, über den zu sprechen Ihre Mutter sich absolut weigerte. Sie hatte auch die Lippen Ihrer Nachbarn und Freunde versiegelt, daher hatte die Frage nach Ihrem Vater Sie jahrzehntelang verfolgt. Dann entdeckten Sie die Geschichte Ihrer Eltern, eine Geschichte voller Tragik und Leid.
Gab es Momente, in denen Sie das Buch lieber nicht schreiben wollten wegen der Entwicklung der Geschichte? Es muss schwer gewesen sein.


Lizzie Doron: Nein! Da werde ich Sie überraschen. Dies ist mein fünftes Buch; ich habe die Geschichte meines Vaters also jahrelang nicht angerührt. Der Auslöser zum Schreiben kam nicht von mir selbst, weil ich befürchtete, in dunklen Löchern zu versinken. Was geschah? Nachdem ich meinen Erfolg mit anderen Büchern gesehen hatte, war ich gewissermaßen alt genug, diese Orte zu berühren, und ich fühlte mich stark genug, mich nicht emotional einbinden zu lassen. Genau dann konnte ich mit den Nachforschungen beginnen in der Hoffnung, Antworten auf meine Fragen zu finden. Weil es so kompliziert und aufgeladen ist, hätte es eine Falle sein können – wäre ich nicht stark genug gewesen, damit umzugehen, hätte ich wahrscheinlich kein Buch geschrieben, sondern wäre zu einem guten Psychiater gegangen. Aber ich glaube, es gibt die richtigen Zeiten und Situationen, zu wissen, dass man etwas tun kann.
Beispielsweise hatte ich Flugangst – ich bin nicht geflogen, bis ich 35 war. Und im Alter von 35 Jahren sagte ich mir: Es kann nicht sein, dass du dein Leben lang keine anderen Orte sehen wirst. In diesem Augenblick beschloss ich, zu fliegen.
Dasselbe war es mit diesem Buch. Nach so vielen Jahren und der Frage meiner Leser: "Wir haben alles über Ihre Mutter und Ihre Freunde gelesen, aber wo ist Ihr Vater?", schwieg ich, ich verhielt mich wie meine Mutter. Doch dann, plötzlich, als ich viele Dokumente von deutschen und polnischen Freunden und aus dem Archiv von Yad Vashem erhalten hatte, die das Interesse an meinem Vater weckten, fühlte ich, dass ich es konnte.
Und als ich das Buch schrieb, war ich sehr stabil. Es machte mich nicht depressiv. Ich war gespannt, wie in einem Labor; wie ein Wissenschaftler oder Detektiv war ich völlig eingenommen von den Hinweisen, den Informationen, und ich versuchte, etwas zusammenzusetzen. Ich erinnere mich an keine Tage mit Zweifeln oder unangenehmen Gefühlen, ich war die ganze Zeit auf einer sehr positiven Welle. Sogar am Ende fühlte ich mich sehr glücklich, weil ich in gewisser Weise darüber hinweg gekommen war.
Viele Journalisten und Leser fragen mich nach den Schwierigkeiten beim Schreiben des Buchs. Aber die anderen Bücher waren viel schwieriger.

Media-Mania.de: Ihre Mutter war gewissermaßen gezwungen, sich zu entscheiden, Sie zur Welt zu bringen oder ihr Leben mit Ihrem kranken Vater zu teilen. Sie, oder beide, entschieden sich zu Ihren Gunsten. Was empfinden Sie für Ihre Mutter, da Sie das nun wissen, und haben sich Ihre Gefühle für sie geändert; wenn ja, inwiefern?

Lizzie Doron: Ich glaube, das ist in Wirklichkeit das tragische Schicksal meiner Mutter, nicht der Holocaust. Der Holocaust war für meine Mutter kein Geheimnis. Ich frage mich, was wäre, wenn ich meiner Tochter sagen müsste, dass ich mich zwischen ihr und ihrem Vater zu entscheiden hatte. Wissen Sie, das ist wirklich eine unlösbare tragische Situation, ein sehr grausames Schicksal, besonders für eine Frau, die die Shoah überlebt hat und nach Normalität und Kontinuität in ihrem Leben strebte – und dann … Es ist eine Art Strafe, diese Entscheidung treffen zu müssen.
Selbst wenn Sie einen Streit mit Ihrem normalen Ehemann haben wegen des Geldes oder Gesundheit des Kindes, ist es schwer, das Ganze zu überblicken. Und wenn ich überlege, was meiner Mutter passiert ist, habe ich einen riesengroßen Kummer; es tut mir Leid, dass wir darüber nie gesprochen haben, aber ich weiß, es ist unaussprechlich. Eine Mutter kann nicht zu ihrer Tochter sagen: Hallo, vielleicht bist du mein Fehler, vielleicht bist du meine persönliche Selektion. Für meine Mutter bedeutete Selektion die Entscheidung, wer leben und wer sterben würde. Und sie führte diese Selektion durch.
So habe ich diese Geschichte aufgefasst. Es gibt Beziehungen, Freundschaft, Erinnerungen, aber das Herz der Frage ist die Wahl des Menschen. Ständig werden Menschen mit unerträglichen Auswahlentscheidungen konfrontiert. Und ich denke, dieses Buch handelt von der Auswahl: der Auswahl dessen, was gesagt und was nicht gesagt wird. Ich glaube, es ist besser, nichts zu sagen. Meine Mutter hat auch nicht über den Holocaust gesprochen. Sie war wohl sehr zerbrechlich und beschloss, nichts zu sagen, weil sie nicht sicher sein konnte, dass sie beim Sprechen über den Holocaust nicht auch über die von ihr zu treffende Auswahl reden würde.
Das ist schrecklicher als mit mir die Geschichte zu teilen, dass sie wahrscheinlich zwei Söhne verloren hat. Denn dies ist die Geschichte, die mein und ihr Leben berührt; so handelt das Buch weniger von meiner Mutter und meinem Vater als vom Treffen tragischer Auswahlen.

Media-Mania.de: Lieben Sie Ihre Mutter dafür mehr – oder anders?

Lizzie Doron: Ich liebe und schätze sie, und alles ist in Ordnung. Aber ich denke, das ist nicht alles. Da ist immer noch das Kind, das umarmt werden will, das wissen will, und es war schrecklich! Ich glaube wirklich, sie hat mich gut auf das Leben vorbereitet, denn ich lebe für die Zukunft, ich bin optimistisch und habe eine normale Familie, aber dies, der fehlende Teil – kein Buch wird dieses dunkle Loch ausgleichen. Nur für ein Jahr eine normale Umgebung mit einem Vater und einer "normalen" Mutter … Das ist eine physische Abwesenheit, wissen Sie, wie blind zu sein, wie einen der Sinne zu verlieren. Ich weiß, dass mir etwas sehr, sehr Grundlegendes fehlt.
Als ich die Universität besuchte und es ein sehr wichtiges Examen gegeben hatte, gingen wir uns unsere Noten anschauen – ich und ein paar Freunde. Ich sah, dass ich 85 bekommen hatte, und war sehr zufrieden. Aber meine Freunde schauten und schauten; ich fragte: "Was macht ihr da?" "Wir lesen die Noten der anderen", sagten sie. "Warum?", fragte ich. Sie sagten: "Um zu vergleichen." Ich fand, wenn ich 85 hatte, war das gut, und sie sagten, es ist gut, wenn es die beste Note ist. Und da verstand ich, dass sie Schwestern und Brüder hatten und es gewohnt waren, ständig zu vergleichen. Ich hingegen musste nur wissen, ob ich bestanden hatte oder nicht. Diese fünf oder sechs Freunde aus normalen Familien und ich sahen also denselben Text an, entnahmen ihm aber etwas völlig Unterschiedliches.
Ich habe Wut in mir, nicht spezifisch gegen meine Mutter, ich kämpfe nicht mehr mit ihr, aber mir fehlt etwas, und tief in mir gebe ich meiner Mutter die Schuld daran.

Media-Mania.de: Ihre Mutter gehört der Shoah-Generation an. Europäische Juden ihres Alters haben fast alle ihre Verwandten und Freunde verloren, und die Überlebenden waren für das restliche Leben traumatisiert aufgrund dessen, was sie durchgemacht hatten. Sie haben Ihre Kindheit in einem "Schtetl" in Tel Aviv zwischen diesen Menschen verbracht, und Ihr Leben und das Ihrer Freunde wurde stark beeinflusst vom unaussprechlichen Horror dieser individuellen Shoah-Geschichten. Ihre Bücher handeln vom Shoah-Erbe, das Ihrer Generation aufgebürdet wurde. Was hat Sie veranlasst, darüber zu schreiben? Gab es einen Anlass, oder hat sich die Entscheidung, Ihrer Generation eine "Stimme" zu geben, über die Jahre entwickelt?

Lizzie Doron: Das ist interessant. Ich habe mit dem Schreiben nicht aus eigenem Antrieb angefangen. Ich habe allerdings den Antrieb, eine sehr erfolgreiche Frau zu sein – wegen der Erfahrungen durch das Leben meiner Eltern und der Schwierigkeiten, der Armut und, gewissermaßen, der Erniedrigung. Mein Traum war, Universitätsprofessorin zu werden, und so ging ich los mit dem Traum vom großen Erfolg. Erfolgreichsein bedeutete, nicht wie meine Eltern zu sein und mich nicht an die vergangene Erniedrigung zu erinnern.
Die Hauptsache war, wie gesagt, die Frage meiner Tochter. Sie war der Auslöser, die Geschichte zu Hause, der Familie zu erzählen. Der Familie gab ich keinerlei Erlaubnis, dies mit anderen zu teilen. Im Gegenteil, ich schämte mich, wollte nicht, dass jemand es wusste, denn ich war bereits eine erfolgreiche Frau. Ich arbeitete an der Universität, mein Mann war ebenfalls erfolgreich, ich hatte zwei großartige Kinder, so war ich sehr stolz und musste mein Leben ohne Störung, ohne Vermischung mit der Vergangenheit weiter leben, nur eine klare Gegenwart und Zukunft.
Nachdem ich das Buch veröffentlicht hatte, sagte man mir, ich hätte die Fähigkeiten zur Geschichtenerzählerin, was mehr ist als einfach eine Schriftstellerin – man erzählt die Geschichte. Und die Leute sagten: "Bitte, tun Sie es für uns und für unsere Kinder." Ich brauchte viel Zeit, bis ich empfand, dass es sich um eine Mission handelte, denn ich habe viele Erinnerungen, die alle klar sind, und es fällt mir wirklich sehr leicht, darüber zu schreiben. Meine Arbeit als Schriftstellerin ist viel leichter als meine Arbeit als Forscherin an der Universität von Tel Aviv. Mir wurde bewusst, dass ich es tun konnte, das ich nicht mehr ausweichen konnte und es tun sollte.
Es ist nicht nur die Stimme der zweiten Generation, es ist die Geschichte, die die Menschen als gemeinsame Grundlage teilen möchten. Wir sind ein Leserclub, der nicht nur die literarische Seite teilt, sondern auch die Biografie, die Erfahrungen und die Erinnerungen. So habe ich wirklich sehr starke Leser, aber sie sind nicht die typischen Literaturleser. Der Kern der Leser stammt aus der zweiten Generation. Sie geben etwas zurück, weil sie meine Gefühle reflektieren und nicht nur meine Bücher die ihren; es beruht sehr auf Gegenseitigkeit. Ich liebe das, ich denke, es macht einen sicherer, entspannter – sie wollen dazugehören, und meine Bücher helfen auch mir, dazuzugehören.

Media-Mania.de: Haben Angehörige der Generation Ihrer Mutter – oder auch Ihrer eigenen – Sie dafür kritisiert, dass dieses Buch, das sich viel mit den individuellen Folgen der Shoah für die Überlebenden befasst, ins Deutsche übersetzt und hier präsentiert wurde? Welche Gefühle hegen Sie selbst für das heutige Deutschland und die Deutschen? Ich habe gehört, Sie haben viele Freunde hier.

Lizzie Doron: Die deutsch-israelische Beziehung ist sehr konfliktbeladen, sie ist noch unten und eine offene Frage. Insbesondere gibt es eine Freundin meiner Mutter … Sie sagte: "Ich bin bereit, dich zu treffen, aber du solltest mir nie erzählen, dass du nach Deutschland fährst, denn dann würde ich dich nicht hereinlassen." Sie weiß, dass ich hier bin, aber ich darf darüber nicht sprechen. Das Schweigen sollte beibehalten werden. Und viele fragen: "Wie wagst du es?" Aber sie gehen nicht tiefer, sie haben Angst, in dieses Thema einzutauchen, sie sind jetzt alt und schwach.
Mit meinen Freunden aus der zweiten Generation ist das anders, nur noch wenige haben diese Wut auf Deutschland. Das Konzept von Deutschland ist etwas, das sie ertragen können. Das ist sehr problematisch: Die meisten meiner Freunde lieben Deutschland mehr als andere Länder, und das ist nicht etwa pervers, also die Liebe zwischen Opfer und Täter. Die Grundlagen des kulturellen jüdischen Lebens kamen aus Deutschland. Goethe, Schiller, Mendelssohn - die gesamte Welt der Kultur ist wirklich eine Fusion zwischen Deutschen und Juden.
Einerseits verlangt jeder nach dieser wundervollen Epoche, aber dann gibt es diesen furchtbaren Bruch. Daher ist das sehr konfliktträchtig. So viele Israelis stehen Deutschland näher als anderen Orten. Für mich selbst war das wirklich interessant: Als ich zum ersten Mal nach Berlin kam, fühlte ich mich irgendwie zu Hause, denn ich bin mit Beschreibungen von "Unter den Linden" und Charlottenstraße aufgewachsen; für mich war Deutschland das Ideal intellektuellen Lebens. Und sogar meine Mutter wünschte sich ein blondes, blauäugiges Mädchen. Es gab also eine Art Sehnsucht bei sehr vielen Juden, und sogar in meiner Kindheit verband ich die guten Zeiten mit der Ben-Yehuda-Straße, die zur Straße der Jeckes wurde, der Leute, die vor dem Holocaust nach Israel gekommen waren. Meine Mutter saß einfach da und fühlte sich wohl an der Ecke der Ben-Yehuda-Straße, im Marzahn-Café – und immer, wenn sie Schnitzel mit Kraut und Kartoffeln aß und Sahne und Apfelstrudel.
Daher fühlte ich immer, wenn ich nach Berlin oder allgemein nach Deutschland kam, eine Art Einheit mit den Wurzeln meiner Familie. Denn in Israel waren sie in gewisser Weise nur Flüchtlinge, und sie haben sich in keiner Weise an die israelische oder mediterrane Kultur angepasst. Für meine Mutter war es sehr, sehr schwierig, mich freiwillig im Kibbuz arbeiten oder ärmellos und ohne Socken losziehen zu sehen. Sie wollte, dass ich ein europäisches und nicht ein vorderasiatisches Geschöpf sei. So erfülle ich gewissermaßen meine Identität, die teils europäisch ist, insbesondere auf den deutschen Stil bezogen – meine Mutter kam aus Österreich, aus Wien. Der zweite Teil ist israelisch, weil ich dort geboren wurde, weil es sich um meine Sprache handelt und meine Freunde dort sind. Somit ist die Kombination Tel Aviv-Berlin vielleicht die beste, die ich mir zurzeit leisten kann. Von allen Ländern, in denen ich übersetzt und gearbeitet habe, habe ich in Deutschland meine besten Leser, wie sich zeigt, mehr als in Israel. Und jetzt arbeite ich für eine Vielzahl von Deutschen, ich habe viele Freunde und auch eine Beziehung zur Sprache – Sprache ist etwas sehr Grundlegendes -, ich verstehe jedes Wort, ich kann Deutsch lesen, aber damit lasse ich es bewenden, ich spreche es nicht. Ich gehe nicht den ganzen Weg. Etwas sollte man auf die Erinnerungen geben.

Media-Mania.de: Mindestens eines Ihrer Bücher ist Teil der Literatur, die in Israels Schulen gelesen wird.

Lizzie Doron: Mehr als eines.

Media-Mania.de: Glauben Sie, dass sich junge Israelis sehr für die Shoah interessieren, oder sind aktuelle politische Probleme interessanter für die junge Generation?

Lizzie Doron: Ich glaube nicht, dass sich junge Israelis für die Shoah per se interessieren. Israelische Kinder müssen sich immer wieder aufs Neue fragen: "Werden wir überleben?" In Israel haben wir ein fortwährendes Trauma, einen Teufelskreis. Es ist nicht wie bei den Deutschen, die mit der Shoah in Bezug auf ihre Eltern, Identität und Nationalität umgehen müssen, und die wissen, dass die Shoah in unserer Zeit nicht mehr geschehen wird. Sie müssen die Vergangenheit bewältigen, reparieren und einrichten. Aber wir in Israel haben nicht einmal die Zeit, mit der Vergangenheit fertig zu werden und aufzuhören, über die Shoah nachzudenken und sie zu analysieren, denn die Shoah ist immer noch lebendig. Das Gefühl, nicht in Sicherheit zu sein; dass Israel nicht ewig existieren wird; ein Führer wie Achmadinedschad; sie bringen das Trauma immer wieder.
Also, obwohl die junge Generation sich nicht wirklich und unmittelbar für die Shoah interessiert – es ist, glaube ich, eine Art Trend -, erlaubt uns die Wirklichkeit in Israel nicht, die Shoah zurückzulassen. Daher leben wir immer noch mit einer sehr, sehr starken Erinnerung, die jeden Tag beeinflusst.
Du kamst nach Israel, um deine Wunden zu heilen, und dort kratzt ständig jemand deine Wunden auf. Es resultiert eine weitere Narbe und noch eine und noch eine. Und dann wirst du verrückt, weil du ein Mensch voller Narben bist.
Das ist für Europäer sehr schwer zu verstehen, die sich vor allem mit der wirtschaftlichen Situation, dem Euro und dem alltäglichen Leben befassen. Es ist ein Privileg, sich mit dem Alltag zu befassen! Bei uns geht es um die nationale Politik und die Frage, ob wir überleben werden, nicht, ob ich überlebe. Das führt zu einer völlig anderen Agenda für das Leben.

Media-Mania.de: Ich möchte dort kein Politiker sein.

Lizzie Doron: Die Politiker sind nicht das Problem, sondern ich denke, die Religion. Ich glaube, wir sollten Allah und unseren Gott zur Seite schieben, weil die Störung im Nahen Osten religiösen Ursprungs ist. Die Politiker folgen den Vorgaben der religiösen Führer. Es sind die Extremisten, die sie ins Desaster stoßen. Religion ist nicht rational, Menschen sind bereit, dafür zu sterben. Das ängstigt mich sehr.

Media-Mania.de: Ihr Mann hat einen anderen familiären Hintergrund, stimmt das?

Lizzie Doron: Ja, sonst wären wir beide verrückt. Wissen Sie, viele meiner Freundinnen, die zur völlig verrückten zweiten Generation gehören, sind mit Pionieren verheiratet, mit starken Männern mit zionistischem Hintergrund, Menschen, die sicher waren, Israel sei der Ort für die Juden. Es ist eine sehr interessante Mischung. Wir fühlten, dass wir jemand deutlich Normaleren brauchten [lacht], mit einer normalen Geschichte, einer normalen Familie.
Mein Mann kommt aus einer geschiedenen Familie, sie hatten ihre eigenen Probleme. Aber das ist ein normales Problem für einen Menschen. Wir tragen andere Ketten, die Kette der Geschichte, die Kette der Politik und des persönlichen Einflusses. Und wir wollten sie in unserem neuen Leben loswerden.

Media-Mania.de: Hat Ihr Mann Ihre Schriftstellerei unterstützt?

Lizzie Doron: Er hat mich als Ehemann unterstützt, aber ich bin nicht sicher, ob es ihn glücklich macht, dass ich im Literaturgeschäft bin und nicht nur darüber rede. Denn er fühlt, dass es mich eine Menge Energie kostet und in viele, viele launische Situationen führt; am Ende kam er mit dem geschäftlichen Aspekt und fragte: "Wie kannst du so viel arbeiten und kein Geld damit verdienen, meine Liebe, reicht es nicht?" [Lacht.] Er ist nämlich ein sehr praktischer Mensch und versteht nicht, warum eine Person sich einer Sache so sehr widmen kann. Wenn es ein Hobby wäre, o. k., aber als Beruf …?

Media-Mania.de: Interessieren sich Ihre Kinder sehr für die Geschichte ihrer Großmutter und ihres Großvaters?

Lizzie Doron: Es kommt darauf an: Als mein erstes Buch veröffentlicht wurde, waren sie sehr stolz. Aber jetzt möchten sie mich und meine Geschichten loswerden. Mein Sohn ist gerade in Indien; er fühlt sich von Ashram und dem Dalai Lama sehr angezogen. Es ist ein friedvoller Ort, nicht wie der Nahe Osten. – Meine Tochter ist Ärztin, was interessant ist, weil es der Traum meiner Mutter war, Medizin zu studieren. Aber es gibt zurzeit eine sehr große Krise in Israel. Ich weiß nicht, ob es Ihnen bewusst ist, aber die Gehälter und das Leben der Ärzte in Israel sind sehr schwierig, daher ziehen sie sich zurück. Meine Tochter ist eine von jenen, die beschlossen haben, nicht mehr als Ärzte zu arbeiten. Sie arbeitet an einem Film über die letzten Auschwitz-Überlebenden. So ist sie in gewisser Weise noch in die Geschichte ihrer Großmutter verwickelt. Aber es ist nicht ihre Lebensmission, sondern sozusagen eine Peepshow. Doch man kann nie wissen, meine Tochter ist 30, mein Sohn 27 Jahre alt. Wir brauchen viel mehr Zeit, um zu sehen, was mit ihnen geschieht. – Meine Geschichte!
Und es ist auch die Geschichte Israels, denn es geht nicht nur um den Holocaust; die wahre Frage ist, ob wir ein Land bleiben.

Media-Mania.de: Wovon wird Ihr nächstes Buch handeln – oder wollen Sie es nicht erzählen?

Lizzie Doron: Dazu muss ich sagen, dass ich noch mit Verlegern reden, zur Ruhe kommen und mich entscheiden muss. Ich habe jetzt parallel an zwei Büchern geschrieben. Das eine erzählt die Geschichte der Deutschen, die ich kenne, weil ich finde, dass ich mit sehr interessanten und konfliktbehafteten Leben von Deutschen in Kontakt gekommen bin. Die meisten gaben mir die Erlaubnis, die Geschichten zu erzählen. Das ist eine Möglichkeit, den anderen zuzuhören, nachdem sie mir so viel zugehört und alle meine Bücher gelesen haben. Ich möchte eine Art Abschluss, und sie mögen das Buch sehr. Es ist wirklich faszinierend; ich weiß zwar nicht, wie es in Israel akzeptiert werden wird, aber ich denke, es ist sehr wichtig, weil sie [die Deutschen] den Israeli als ihren Therapeuten entdeckt haben. Sie brauchen keinen Psychiater, sobald sie mit dem Israeli teilen und der Israeli zum Zuhören bereit ist; sie fühlen, dass sie etwas getan haben, um mehr Vergebung oder einfach Verständnis zu erhalten.
Und das andere Buch – ich beschloss, nicht so eigennützig zu sein und nur meine Geschichte zu erzählen, daher habe ich die letzten vier Jahre hindurch ein, zwei Tage in Ostjerusalem mit einer palästinensischen Familie gelebt. Und ich habe das Leben auf der anderen Seite Jerusalems beschrieben. Ich schreibe und erzähle ihre Geschichten wirklich eifrig, aber es ist sehr kompliziert, weil sie Angst haben, sich bloßzustellen. Ich hatte das Buch schon beendet, da gab es eine Zensur, und sie haben so viele Teile weggelassen, dass ich es überarbeiten muss. Als Kind war ich mein eigener Zensor, es war meine Geschichte, und nun lebe ich mit einer Familie, und sie haben Angst, dass ihr Vater von ihren jüdischen Freunden erfahren wird; sie fürchten sich vor der Hamas und der Fatah und der israelischen Armee, daher haben sie viele Gründe, die Veröffentlichung des Buches abzulehnen. Es ist erstaunlich! Als Werk ist es eine große Lehrstunde für mich. Eine Lehrstunde, die zeigt, dass wir in einer sehr, sehr interessanten Beziehung leben. Wir sind gute Freunde, weil wir Feinde sind. Das treibt mich an – auf einer persönlichen Stufe, in Sachen Religion und Status der Frau. Es ist schrecklich, diese Frau in der Küche zu sehen, sie ist intelligent, aber sie darf keine Karriere machen, und es macht mich verrückt, mit anzusehen, dass sie bloß kochen kann. Hoffentlich werde ich das Buch am Ende veröffentlichen.

Media-Mania.de: Ganz sicher werde ich beide lesen. Besten Dank für dieses Interview!

Das Interview wurde am 13.10.2011 am Stand des dtv geführt.
Aus dem Englischen von Regina Károlyi


Link zur Rezension bei Media-Mania.de
Geführt von Regina Károlyi am 12.10.2011