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 Die Springer-Bibel

ein Panorama der Mediengeschichte


Cover
Gesamt +++++
Anspruch
Aufmachung
Preis - Leistungs - Verhältnis
Am 4. März 1974 moderierte Carmen Thomas zum zweiten Mal das Aktuelle Sportstudio im ZDF. Eine Frau in einer Sportsendung? Das geht gegen die Tradition, dass Frauen keine Ahnung von Sport haben, dachte man sich wohl in der "Bild-am-Sonntag"-Redaktion. Und veröffentlichte die Kritik zur Sendung schon am gleichen Tag, noch bevor die Live-Sendung überhaupt begann. Jemand gab Frau Thomas den Hinweis, sich die Zeitung vor der Sendung schnell zu kaufen. Und so konnte die dem überraschten Publikum live vorlesen, wie schlecht sie in dieser Sendung laut "Bild am Sonntag" sein würde. All dies ist nachzulesen im "Buch Carmen".
Die "Bild"-Zeitung erreicht täglich mehrere Millionen Leser und sie gehört zum Springer-Verlagshaus wie auch "Die Welt", "Hörzu", "B.Z.", der Ullstein-Verlag, die "Berliner Morgenpost", das "Hamburger Abendblatt", diverse Sport- und Frauenmagazine und Journale sowie andere Medien, deren Zugehörigkeit zum Springer-Verlag man möglicherweise nicht vermutet hätte (etwa die "Bravo"). Darüber hinaus hat die Chefredaktion der "Bild"-Zeitung inzwischen drei Bibel-Editionen herausgebracht, die letzte mit persönlichen Texten von Papst Benedikt XVI. Diese Zusammenarbeit zwischen "Bild" und Papst - Chefredakteur Kai Diekmann überreichte Benedikt persönlich eine Ausgabe der "Bild-Benedikt-Bibel" - hat den Satiriker und Schriftsteller Gerhard Henschel dazu bewogen, "die Springer-Bibel" zu verfassen und einen Blick hinter die historischen und inhaltlichen Kulissen dieses Riesen-Konzerns zu werfen. Aufgedeckt hat er neben einigen Skandal-Geschichten, von denen die um Carmen Thomas noch zu den harmlosen gehört, auch den erschreckenden Einfluss vor allem der "Bild" auf Politik, Sport und Gesellschaft und einige kuriose Machenschaften.
Das Buch ist dabei tatsächlich wie die Bibel aufgemacht, beginnend mit den fünf "Büchern Axel", in denen man unter anderem erfährt, dass Axel Springer sich nicht zu fein oder vielmehr konservativ genug war, um sich in Chefredaktion und Beraterstab mit einigen hochrangigen Propaganda-Spezialisten aus dem Nationalsozialismus zu umgeben. Danach geht es in lockerer chronologischer Reihenfolge weiter mit dem "Buch Theodor" (Heuss), dem "Buch Konrad" (Adenauer) und weiteren Büchern zu Ludwig Erhardt, Franz Beckenbauer, Jimi Hendrix, Franz Burda und Familie, Sepp Maier, Harald Juhnke und anderen Personen des öffentlichen Lebens. Daneben finden aber auch viele Unbekannte Erwähnung: Etwa "Promi-Jäger" Hans Paul, der einst Guildo Horn vor versteckter Kamera zu einem Wutausbruch nötigte, oder Udo Röbel, der als "Express"-Chefredakteur freiwillig im Fluchtfahrzeug der Geiselnehmer von Gladbeck mitfuhr und anschließend erst sein sensationslüsternes Verhalten an jenem Tag bereute und später in der "Bild"-Zeitung über Sex- und Boxenluder schrieb, und natürlich Friede Springer, die in den 80ern das Erbe ihres Gatten als Verlegerin antrat. Daneben werden aber auch einige der unbekannten Opfer der "Bild"-Berichterstattung angeführt.
Das "alte Testament" schließt auch bei Henschel mit Hoheliedern und prophetischen Aussagen - zum Beispiel war "Welt"-Chefredakteur Hans Zehner 1953 der festen Überzeugung, im folgenden Jahr sei Deutschland wieder geeint. Im "Neuen Testament" finden sich Evangelien, Lehrbücher und Briefe und es schließt mit der "Offenbarung des Kai" (Diekmann).

Immer wieder werden "Bild"-Schlagzeilen eingestreut, die zeigen, dass sich ihr Stil seit Gründung des Blattes 1952 nicht verändert hat, und Henschel arbeitet viel mit Zitaten aus Biografien, Zeitungen und dergleichen und belegt alles haargenau in Fußnoten. Das ergibt so viel Sekundärliteratur, dass ein Literaturverzeichnis sinnvoll gewesen, aber auch furchtbar lang geworden wäre.
Ein Jahr lang hat der Autor, der einst Redakteur beim Satire-Magazin "Titanic" war und mit seinem "Gossenreport" bereits früher gegen die "Bild" geschrieben hat, recherchiert und seine zahllosen Belege für Doppelmoral und Anstandslosigkeit in den Redaktionen und Chefetagen des Springer-Konzerns in pointierte und scharfsinnige Texte verpackt. Es macht Spaß, das zu lesen, und ist man durch, will man mehr. Neben dem Unterhaltungswert bietet das Buch aber auch die erschreckende Erkenntnis, dass gegen die "Bild"-Zeitung kein Kraut gewachsen ist, dass Politiker, Promis und Bundesliga-Akteure unter ihrer Berichterstattung in die Knie gehen und dass die "Wer nicht unser Freund ist, ist unser Feind"-Einstellung an vielen Beispielen belegbar ist: Helmut Kohl hielt sich gut mit der "Bild" und hatte selten Ärger, Jürgen Klinsmann dagegen hatte unter seinem ablehnenden Verhältnis zu der Zeitung zu leiden. Henschel zeigt außerdem zahlreiche Beispiele auf, in denen im Namen der Informationsfreiheit die Privatsphäre Betroffener mit Füßen getreten wurde -Beispiele, bei denen Menschen in den Selbstmord getrieben wurden, inklusive.
Wenn man die "Bild" zuvor schon ablehnte, lernt man sie mit der Lektüre der "Springer-Bibel" hassen. Es kommen Fragen auf wie die, ob Politiker dieses Blatt nur in der bangen Hoffnung lesen, einen weiteren Tag lang nicht darin erwähnt zu werden, und der Wunsch, die Verantwortlichen selber einmal an den Pranger stellen zu können - allein, der wichtigste Pranger in Deutschland ist nun mal die "Bild"-Zeitung. Man kommt zu der Erkenntnis, lieber nicht prominent werden zu wollen.

Henschels Buch ist gelungen, amüsant, erschreckend, satirisch und zugleich fast schon wissenschaftlich durch die zahllosen Literaturbelege. Ändern wird es wohl nichts an der Art und Weise, wie die "Bild" arbeitet, denn wen die blanken Brüste von Giulia Siegel auf der Titelseite zum Kauf animieren, der wird die "Springer-Bibel" allenfalls als Amüsement zwischendurch lesen. Aber vielleicht beeinflusst dieses intelligente "Panorama der Mediengeschichte" angehende Journalisten bei der Wahl des künftigen Arbeitsplatzes. Denen sei dieses Buch jedenfalls sehr ans Herz gelegt.

Stefan Knopp



Taschenbuch | Erschienen: 1. Oktober 2008 | ISBN: 9783930786558 | Preis: 18,50 Euro | 277 Seiten | Sprache: Deutsch

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