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 Alle, alle lieben dich

Übersetzer: Thomas Gunkel
Verlag: Rowohlt Tb

Cover
Gesamt +++++
Anspruch
Aufmachung
Gefühl
Preis - Leistungs - Verhältnis
Spannung


Es gibt wohl wenig im Leben, das Eltern so sehr erschüttern könnte wie das plötzliche Verschwinden des eigenen Kindes. Diesem Albtraum müssen sich die Protagonisten des Romans "Alle, alle lieben dich" von Stewart O’Nen stellen, auf Deutsch erstmals erschienen im Januar 2009 bei Rowohlt.

Kim Larsen ist eine junge, hübsche und aufgeweckte Frau. Es ist ihr letzter Sommer zu Hause bei Eltern und Freunden in Kingsville; im Herbst wird ihr Studium beginnen, und sie wird in eine andere Stadt ziehen, um dort das College zu besuchen. Sie will die verbleibende Zeit nutzen: Ausflüge mit ihrem Freund J.P., ihren Freundinnen Nina und Elise und dem übrigen Freundeskreis an den Fluss oder den Strand zum Schwimmen, Fahrstunden mit ihrer jüngeren Schwester Lindsay, Arbeiten an der Tankstelle, um sich etwas dazuzuverdienen. Kim freut sich auf das College, ihre Beziehung zu J.P. ist sowieso lose und wird nach dem Sommer beendet sein, das wissen beide. Kim genießt diesen Sommer - bis sie verschwindet. Nach dem Schwimmen mit Freunden fährt sie nach Hause, um sich für die Spätschicht an der Tankstelle fertigzumachen. Doch an ihrer Arbeitsstelle kommt sie nie an.
Ihre Eltern, Ed und Fran, reagieren, wie es in diesem Fall viele tun würden: Als sie bemerken, dass ihre Tochter am nächsten Morgen nicht nach Hause gekommen ist, rufen sie bei Freunden und Bekannten an, dann im Krankenhaus und bei der Polizei. Niemand hat Kim gesehen, keiner weiß, wo sie ist.
Für Familie Larsen beginnt ein Albtraum sondergleichen. Fran organisiert Freiwillige, die bei Kims Suche helfen, Ed schlägt sich mit Kims Freunden und Bekannten selbst durch die Wälder um Kingsville, Fernsehsender und Radiostationen werden um Mithilfe gebeten. Doch die Stunden vergehen, dann die Tage und schließlich die Wochen - doch die Familie kämpft verzweifelt um jeden Funken Hoffnung.

Der englische Originaltitel des Romans heißt "Songs for the Missing". Im Deutschen wurde kein Versuch unternommen, diesen Titel passend zu übersetzen; stattdessen steht nun auf dem Cover "Alle, alle lieben dich" - und der Kitschalarm ist vorprogrammiert. Aber keine Sorge, mit Stewart O’Nans Roman hält der Leser ein beeindruckendes Werk in Händen, das sich fernab von Klischees und auf die Tränendrüse drückenden Tragödien bewegt.
Auf der Buchrückseite wird "Alle, alle lieben dich" als hochliterarischer Thriller bezeichnet. Auch das stimmt so nicht ganz. Hochliterarisch schreibt der US-Amerikaner, der für seinen Debütroman "Engel im Schnee" mit dem William Faulkner-Preis ausgezeichnet wurde, ganz sicherlich; hinter "Alle, alle lieben dich" steckt jedoch weit mehr als ein gewöhnlicher Thriller nach Schema F. Denn hier geht es nicht um die übliche Polizeiarbeit, die Jagd nach einem möglichen Entführer oder das Aufklären eines Familiendramas; alles, was die Polizei herausfindet, erfährt der Leser beiläufig über die Familie. Die Menschen, die zurückgelassen wurden, die Familie und Freunde von Kim stehen mit all ihren Gefühlen und Problemen im Mittelpunkt. Jedes Kapitel wird aus Sicht eines anderen geschrieben, mal aus Frans Warte, dann aus Ninas Sicht oder mit Lindsays Augen. Der Leser lernt so die einzelnen Charaktere kennen, versteht nicht nur ihre Gefühle zu der Vermissten besser, sondern auch ihr Verhalten in bestimmten Momenten, ihren Umgang mit dieser tragischen Situation. Es ist erschreckend, wie schnell eine solche Katastrophe das Leben einer Familie und ihres gesamten Umfeldes in den Ausnahmezustand stürzen kann - und noch erschreckender ist es, wie authentisch und nachvollziehbar O’Nan die Dramatik der Lage beschreiben kann und mit welcher sprachlichen Raffinesse ihm das gelingt. Er schafft mit "Alle, alle lieben dich" nicht nur die Geschichte über die Suche nach einem vermissten Mädchen, sondern darüber hinaus das Porträt einer gewöhnlichen Familie und einer gewöhnlichen Kleinstadt, wie es sie überall auf der Welt geben könnte, mit ihren kleinen alltäglichen Problemen, die nach Kims Verschwinden doch alle zurückstehen müssen.
Und obwohl der Roman absolut nicht als Thriller bezeichnet werden kann, entsteht doch eine mitreißende Spannung, die es schwermacht, das Buch wieder aus der Hand zu legen. Mit jeder gelesenen Seite steigt und fällt die Hoffnung des Lesers mit jener der Familie und Freunde, Kim lebend wiederzusehen. Und mit all jenen Menschen, die nach Kim suchen, stumpft die Hoffnung langsam ab, man ermüdet von all den vergeblichen Versuchen, etwas über den Aufenthaltsort des Mädchens zu erfahren, bis hin zu dem stimmigen Ende, das den Leser auch lange nach Weglegen des Buches nicht loslassen wird. Nicht zuletzt ist all das Lob auch der hervorragenden Übersetzung von Thomas Gunkel zu verdanken, der O’Nans fesselnden, authentischen Stil perfekt ins Deutsche übertragen hat.

Literarisch anspruchsvoll und ansprechend, thematisch brisant und packend, inhaltlich authentisch und bewegend: "Alle, alle lieben dich" ist Belletristik vom Feinsten. Der Roman kann uneingeschränkt all jenen empfohlen werden, die Wert auf glaubwürdige und komplexe Charakterzeichnungen legen und vor dem düsteren Thema nicht zurückschrecken. Der einzige Kritikpunkt, der sich festmachen lässt, ist die ungünstige Vermarktung mit kitschig klingendem deutschem Buchtitel.

Tina Klinkner



Hardcover | Erschienen: 01. Januar 2009 | ISBN: 9783498050382 | Originaltitel: Songs for the Missing | Preis: 19,90 Euro | 411 Seiten | Sprache: Deutsch

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