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 Trennen und Verbinden

Soziologische Untersuchungen zur Theorie des Gedächtnisses

Autoren: Marco Schmitt
Verlag: VS-Verlag

Cover
Gesamt +++++
Anspruch
Aufmachung
Preis - Leistungs - Verhältnis


Gewöhnlich spricht man vom Gedächtnis als einem Phänomen, das in Köpfen zu finden ist und damit in den Bereich von Psychologie und Neurophysiologie zu suchen ist. Zwar hat es durch die Geschichtsschreibung dann einen Rückgriff auf ein kulturelles Gedächtnis gegeben, das sich in Form von Dokumenten, Bauwerken oder Gegenständen vom Wissenschaftler untersuchen lässt, doch streng genommen ist auch das kein soziales Gedächtnis, sondern eine Ansammlung von Artefakten.

Die Soziologie hat hier in mehreren Schüben Aufklärung gesucht, unterstützt von den Kulturwissenschaften, bis zu den heutigen Ausprägungen der Debatte. Diese Debatte ist nicht beendet. Marco Schmitt untersucht in der vorliegenden Arbeit, auf welchem Stand einige der Ideen stehen und wie sich diese zueinander verhalten.
Zunächst geht er auf die beiden Grundprobleme des sozialen Gedächtnisses ein, die auch diesem Buch ihren Namen gegeben haben: Was trennt und was verbindet ein soziales Gedächtnis? In dieser Frage steckt zunächst die Frage nach der Abgrenzung des Gedächtnisses von anderen sozialen Phänomenen, dann aber auch die Frage nach der Leistung eines solchen Gedächtnisses, einmal bezogen auf die Soziologie selbst (auf welche Problemstellung in der Soziologie wurde und wird mit dem Begriff des sozialen Gedächtnisses eine Lösung angeboten?) und einmal auf die Gesellschaft (welche Probleme löst die Gesellschaft mit der Ausbildung von einem Gedächtnis und welche Probleme schafft sie damit?).

Schmitt geht zunächst auf klassische Bezüge ein: Maurice Halbwachs - aus der Schule von Durkheim - mit seinem Buch zum kollektiven Gedächtnis, die phänomenologische Schule von Schütz mit dem Begriff der Latenz, das kulturelle Gedächtnis bei Jan und Aleida Assmann, die inkorporierte Geschichte bei Bourdieu. Aus dieser Zusammenschau generiert der Autor die Grundprobleme einer Theorie des sozialen Gedächtnisses.
Im darauf folgenden Kapitel nimmt Schmitt nun die moderne Systemtheorie, wie sie durch Niklas Luhmann vertreten wird, unter die Lupe. Dass er dabei eine kurze Einführung (und eine hervorragende dazu) in die Systemtheorie gibt, darf angesichts der engen Verknüpfung des sozialen Gedächtnisses mit anderen Theorieteilen, wie Luhmann dies erläutert, nicht wundern. Schmitt jedenfalls agiert in diesem Umfeld mit großer Sicherheit: die Trennung psychischer und sozialer Systeme, Ereignisse und die Prüfung von Kohärenz, Medien und Semantik - all dies fasst er kenntnisreich zusammen.
Die Kritik an der Systemtheorie, mit der Schmitt dann in den nächsten Abschnitt seines Buches einsteigt, bezieht sich darauf, dass die Systemtheorie zu sehr trennt und beim sozialen Gedächtnis nicht genügend das Verbindende sieht. Letztendlich bezieht sich dieses Kernproblem auch auf die Frage, wie in der Gesellschaft zugleich Differenzierung und Ordnung ermöglicht beziehungsweise verhindert wird und dieses Ermöglichen und Verhindern teilweise sogar gleichzeitig.
Dieser einseitigen Ausprägung setzt Schmitt zwei Ansätze entgegen, die sich stärker an den Aktanten ausrichten, die am sozialen Gedächtnis beteiligt sind. Hier stützt er sich zum einen auf Bruno Latour und seine Akteur-Netzwerk-Theorie, zum anderen auf Harrison White und seiner Netzwerktheorie, in der Unsicherheit und Kontrolle eine wichtige Rolle spielen.
Diese Konstellation verbindet Schmitt am Ende zu einer Ergänzung und einem Zurechtrücken systemtheoretischer Perspektiven und formuliert darauf aufbauend ein Untersuchungsprogramm, das weitere empirische Forschungen leiten kann.

Um es kurz zu machen: Schmitt zeigt, dass er sehr präzise und mit klarster Sprache schreiben kann, dass er seine Autoren gut gelesen hat und das kritische Potential in jeder dieser Theorien erspürt. Dabei kommt ein höchst spannendes und informatives Werk heraus.
Streiten sollte man sich trotzdem, und ein Streitpunkt bei diesem Buch wird sein, ob sich der Autor den Umweg über Latour und White nicht hätte sparen können. Das Problem von Luhmanns Gedächtnistheorie dürfte doch eher sein, dass er - Luhmann - es nicht so auf die Ebene von Interaktionen und Organisationen heruntergebrochen hat, dass hier eine rasche Anwendbarkeit gegeben ist. Gerade in diesem Untersuchungsfeld aber tummeln sich die beiden anderen Autoren. Latour wird hier wenig überzeugen können, wenn er Dinge in seine Akteurstheorie aufnimmt. Dinge, auch Maschinen, handeln nicht. Die Fußspur im Sand ist kein Akteur. Wer sie sieht, konstruiert sich einen Akteur, dem er nicht nur die Fußspur zurechnet, sondern er weiß auch gleich, dass dieser unbekannte Akteur gehandelt hat: Er ist spazieren gegangen. Und auch Maschinen handeln nicht, sondern funktionieren nur. Irgendjemand hat sie geplant, irgendjemand gebaut, irgendjemand angestellt. Jetzt rattern sie vor sich hin und produzieren eben irgendetwas.
Dass solche Maschinen möglich sind, stützt sich natürlich auch auf ein soziales Gedächtnis. Pläne müssen geschmiedet werden, mit älteren Modellen verglichen werden und dass ein Maschinenbauer dies tut und nicht nach dem Eigelb in seinem Bart sucht, beruht auf kondensierten Erfahrungen in der Gesellschaft, mithin auf einem sozialen Gedächtnis.
Auch Strom kommt nicht einfach so aus der Steckdose, auch wenn mancher das glaubt. Wo Marx bei einem solchen Glauben vielleicht von Entfremdung der Menschen von den Produktivbedingungen sprechen würde, könnte man mit Luhmann von einem sozialen Vergessen reden. Es wäre aber absurd zu behaupten, der Strom habe vergessen, wo er herkommt oder die materiellen Bedingungen seien danach, dass man dies vergessen könnte. An dieser Stelle hätte Luhmanns Einteilung von Identitäten in Personen, Rollen, Programme und Werte und die damit verbundene Theorie der sozialen Erwartung und der Ko-Episodierung von psychischen und sozialen Systemen wertvolle Aufschlüsse liefern können.

Schmitt macht dies nicht. Vielleicht ein Fehler, und trotzdem legt er ein Werk vor, an dem sich zukünftige Arbeiten zu diesem Thema gründlich messen werden müssen, was Belesenheit und Sachverstand, Verständlichkeit und kritische Reflexion angeht.

Frederik Weitz



Taschenbuch | Erschienen: 01. März 2009 | ISBN: 9783531164519 | Preis: 39,90 Euro | 366 Seiten | Sprache: Deutsch

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