Eduard Mörike geht mit der Tochter guter Freunde spazieren. Es ist Silvester und das Amele bittet ihn inständig, eine Geschichte zu erzählen. Lächelnd tut ihr Eduard den Gefallen:

Das Jahr neigt sich dem Ende zu und die Engel vor den Toren des letzten Himmeltores, direkt vor des Herrgottes Garten, machen sich auf, den alten Silvester zu wecken. Er schläft das ganze Jahr über tief und fest, aber nichts desto trotz laut schnarchend, in seiner Hütte. Sie klopfen wie wild an seine Türe und endlich tritt der große, alte Mann mit dem langen grauen Bart aus seiner niedrigen Hüttentür. "Ist es wieder so weit?", fragt er und schreitet sofort zur Tat.
Er spannt die Pferde vor seinen Schlitten und geht dann in den inneren Garten an den ewigen Fluss. Dort nimmt er das neue Jahrkind in Empfang und bettet es in seinen Schlitten inmitten warmer Decken. Seine Aufgabe ist es, dieses Jahrkind den Menschen zu bringen, die es mit Feuerwerk und lauten Hurra-Rufen empfangen werden. Dann aber wird er das alte Jahr zum Herrgott bringen und seine Aufgabe für dieses Jahr vollenden.

Das kleine Amele hat diese Geschichte von Eduard Mörike, ganz so wie die Geschichte selbst beginnt, erzählt bekommen. Der Dichter, der am 8. September 1804 in Ludwigsburg geboren wurde und am 4. Juni 1875 in Stuttgart gestorben ist, hat diese Geschichte vom alten Silvester allerdings niemals niedergeschrieben. Doch Literaturhistoriker und Nachlassverwalter stimmen darüber überein, dass die Jahrzehnte später aufgeschriebene Geschichte von hohem literarischen Rang sei und einige Besonderheiten die Urheberschaft des Eduard Mörike zumindest nahe legen.

Sie ist in einfachen Worten, doch bildgewaltig erzählt. Mythenreich wird von Himmel und Erde, Gott, seinem Garten, den Engeln und Silvester erzählt, der ewige Fluss und die Himmeltore in atmosphärisch dichten Worten geschildert.

Die naiven, etwas kitschigen Bilder passen sich der verträumten Sinnsprache Mörikes an und vermitteln ein ruhiges, farbenfrohes Bild der Ereignisse. Die Zielgruppe dieser Auflage sind eindeutig Kinder von fünf bis zehn Jahren, Ältere zeigen ihr deutliches Missfallen über Bilder und Wortwahl des Textes. Die Kleinen jedoch sind ganz gefangen von der ungewohnten Art, in der das Jahresende und Neujahr vermittelt werden.
Die anfangs eigentümliche Personifizierung des Silvesters, des neuen Jahres und des alten Jahres passen nahtlos in die Märchen- und Sagenwelt, die den Kindern geläufig ist und werden nicht hinterfragt. Es macht sich ein Staunen auf den Gesichtern der kleinen Zuhörer breit und lächelnd nehmen sie das glückliche Ende des "Märchens" zur Kenntnis.

Mörike, Pfarrer von Beruf, greift hier die Geschichte des Papstes Silvester und des Beginns des gregorianischen Kalenders, der das Jahresende von Weihnachten auf den 31.12. verlegte, auf. Der Mythos eines der wichtigsten Päpste der Kirchengeschichte, der am 31.1.314 Papst wurde und am 31.12.335 starb, wird am Jahreswechsel gefeiert.
Mörike vereinnahmt damit seinem christlichen Selbstverständnis nach Silvester und die Feiern am Jahresende und versinnbildlicht sie als Begrüßen des neuen Jahres, wohlwissend, dass er damit heidnische Bräuche in christliche überführt. Denn Silvester ist die Mitte der so genannten Rauhnächte. Der germanische Volksglaube geht davon aus, dass in der dunklen Jahreszeit der Wintersonnenwende die jenseitigen Mächte besonders lebendig sind und dass Wotan mit seinem wilden Heer mit Sturmesheulen und brausendem Lärm durch die Wälder und Lüfte saust. Mit Peitschenknall und großem Lärm versuchte man daher, das Böse zu vertreiben und mit brennenden Holzrädern die Dunkelheit der Rauhnächte zu besiegen.
Elegant nutzt er diesen heidnischen Brauch und wandelt ihn in einen urchristlichen um. Dies macht er in Form eines Märchens, seit jeher die eleganteste Form, einen Mythos in die Moderne zu überführen.