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 Der Schatten des Windes


Cover
Gesamt ++++-
Gefühl
Preis - Leistungs - Verhältnis
Spannung


Spanien, 1945: Als Daniel Sempere Martín zehn Jahre alt ist, nimmt sein Vater ihn mit zum "Friedhof der vergessenen Bücher", einem geheimen Ort voller labyrinthischer Gänge in der Altstadt von Barcelona, der bis unter das Dach mit unzähligen, von ihren Besitzern verlassenen Büchern voll gestopft ist:

"Hier leben für immer die Bücher, an die sich niemand mehr erinnert, die Bücher, die sich in der Zeit verloren haben, und hoffen, eines Tages einem neuen Leser in die Hände zu fallen. In einer Buchhandlung werden Bücher verkauft und gekauft, aber eigentlich haben sie keinen Besitzer. Jedes Buch, das du hier siehst, ist jemandes bester Freund gewesen. Jetzt haben sie nur noch uns."

An diesem verborgenen Ort fordert der Vater ihn auf, sich eines der wertvollen vergessenen Bücher auszusuchen, um es bis an sein Lebensende zu behüten und zu bewahren. Nach einigem Suchen und ausgiebigem Betrachten der unzähligen Buchrücken fällt Daniels Blick auf einen Band mit dem Titel "Der Schatten des Windes". Die Wahl wird von beiden Seiten getroffen, denn Daniel hat das Gefühl, als habe das Buch schon sein ganzes Leben lang auf ihn gewartet, dort in den weitläufigen Katakomben.

Daniel verschlingt den Roman in einer einzigen Nacht. Er beginnt nach Julián Carax, dem Autor von "Der Schatten des Windes", zu forschen, bestrebt, weitere Bücher des begnadeten Schriftstellers zu finden. Doch seine Sehnsucht wird nicht gestillt: Carax ist den meisten Leuten gänzlich unbekannt; er scheint auch ein außerordentlich erfolgloser Schriftsteller zu sein. Nur durch Nachforschungen und die Hilfe von Gustavo Barceló, einem großen Bibliophilen und Freund seines Vaters, erfährt Daniel ein paar Bruchstücke über den unbekannten Autor und seine Werke, von denen nur noch wenige auf der Welt existieren. Großzügige Angebote, das Buch zu verkaufen, schlägt Daniel aus.

Er macht die Bekanntschaft von Barcelós blinder Tochter Clara und verliebt sich unsterblich in ihre Anmut und ihre Schönheit, die auf den Jungen verstörend wirkt. Daniel bietet der mehr als zehn Jahre älteren Clara an, sie nachmittags zu besuchen und ihr vorzulesen. Carax’ Roman ist schnell ausgelesen, und gemeinsam verbringen die beiden viele schöne Stunden mit Klassikern der Literatur. Die Jahre gehen dahin, Daniel ist ein gern gesehener Gast in Barcelós Haus, doch die Beziehung zwischen Daniel und Clara verändert sich durch Daniels Begehren ungünstig, so wie der heranwachsende Junge selbst sich verändert.

Er schenkt Clara "Der Schatten des Windes" und bricht damit achtlos sein Versprechen, das Buch persönlich zu bewahren. Eines Tages - Daniel ist inzwischen sechzehn Jahre alt - taucht ein bedrohlicher Fremder in den Schatten Barcelonas auf, ein Fremder mit einem grauenhaft entstellten Gesicht wie aus vertrocknetem Leder, den ein Geruch von verbranntem Papier umweht und der wirkt, als sei er selbst einem Roman entsprungen. Er ist auf der Jagd nach Büchern von Carax. Auf Daniels ängstliche Frage, was er mit dem Buch wolle, wenn er es fände, antwortet der Fremde, er wolle es verbrennen. Er bedroht Daniel, und dieser eilt kopflos in Barcelós Wohnung, panisch bei der Vorstellung, dass er Clara in höchste Gefahr gebracht hat, als er ihr Carax’ Roman schenkte. Daniels Plan, das Buch heimlich aus der Wohnung zu holen, gelingt, jedoch macht er eine für ihn schreckliche Entdeckung, als er die Tür zu Claras Zimmer öffnet und sie beim Liebesakt mit dem ihm verhassten Musiklehrer vorfindet. Mit diesen Ereignissen beginnt die Erzählung gerade erst. Daniel beginnt nach Carax Identität und Familiengeschichte zu forschen und lernt immer mehr Menschen kennen, die mit dem Schriftsteller zu tun hatten.

Der spanische Autor Carlos Ruiz Zafón wurde nach Erscheinen dieses Romans im Jahr 2002 überschwänglich gefeiert und mit Preisen ausgezeichnet; das Buch wurde weltweit in dreißig Sprachen übersetzt. Der Titel lässt vielleicht flüchtig den Eindruck entstehen, es handle sich um einen Fantasy-Roman, "Der Schatten des Windes" ist jedoch eine Mischung aus Thriller, Liebesgeschichte, Familienepos und spannendem Unterhaltungsroman. Vor allem sprachlich weiß Zafón unbedingt zu bezaubern:

"Einmal hörte ich einen Stammkunden in der Buchhandlung meines Vaters sagen, wenige Dinge prägten einen Leser so sehr wie das erste Buch, das sich wirklich einen Weg zu seinem Herzen bahne. Diese ersten Seiten, das Echo dieser Worte, die wir zurückgelassen glauben, begleiten uns ein Leben lang und meißeln in unserer Erinnerung einen Palast, zu dem wir früher oder später zurückkehren werden, egal, wie viele Bücher wir lesen, wie viele Welten wir entdecken, wieviel wir lernen oder vergessen."

Wie Daniel immer tiefer in Carax rätselhaftes Leben eintaucht und sich darin verstrickt, so verstrickt Zafón den Leser in seiner Erzählung. Der Sog, den dieses Buch entwickelt, entsteht langsam, aber stetig. Die Bruchstücke, die sich erst nach und nach zu einer Erzählung zusammenfügen, sind stets ein wenig beklemmend und erinnern an die surrealistischen Romane von Paul Auster. Hinzu kommen, stets beunruhigend präsent, der historische Hintergrund der Ära um den Diktator Francesco Franco und ihre Schrecken.

"Der Schatten des Windes" ist ein geheimnisvolles und sinnliches Buch, das den aufmerksamen Leser nach wenigen Seiten in seinen Bann zieht und nicht mehr loslässt - ganz so wie Daniel in den Bann von Júlian Carax’ Erzählkünsten gerät. Zafón baut geschickt Spannung auf und verknüpft die Fäden der Handlung nach und nach miteinander. Die Charaktere, die das Buch bevölkern und ebenfalls miteinander verstrickt sind, ohne es zu wissen, sind allesamt interessant - zum Beispiel der faschistische, offenbar psychisch schwer gestörte Inspektor Francisco Javier Fumero Almuñiz, der bevorzugt Obdachlose und Homosexuelle inhaftieren lässt oder der ehemalige Bettler Fermín Romero de Torres, der sich zum beredten Charmeur und Daniels besten Freund mausert und der nichts so sehr fürchtet wie besagten Inspektor Fumero.

Insgesamt eine sehr unterhaltsame Lektüre, die jedoch auch durchaus ihre Längen hat - wenn auch nie für lange Zeit - und die sicherlich nicht jedermanns Geschmack treffen wird. "Der Schatten des Windes" ist definitiv keine "leichte Unterhaltung", aber auch nicht abschreckend anspruchsvoll, zumal Zafón ganz gelegentlich (!) ins Seichte abrutscht. Das Buch ist als Taschenbuch im Suhrkamp Verlag erschienen. Der Preis ist mit 9,95 Euro für 527 Seiten unschlagbar günstig, von daher eine Kaufempfehlung zum absolut fairen Preis!

Christina Liebeck



Taschenbuch | Erschienen: 01. August 2005 | ISBN: 3518458000 | Originaltitel: La sombra del viento | Preis: 9,90 Euro | 527 Seiten | Sprache: deutsch

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